Die Schriftkultur einer altägyptischen Siedlung
In der kleinen Stadt Deir el-Medineh lebten die an den Königsgräbern bei Theben beschäftigten Arbeiter. Sie hinterließen vor mehr als 3000 Jahren vielerlei Notizen ihrer alltäglichen Belange und bezeugen damit den ungewöhnlichen Bildungsstand einer Handwerkerbevölkerung im Neuen Reich.
Wo heute das oberägyptische Fremdenverkehrszentrum Lu- xor und das Dorf Karnak liegen, blühte einst eine der größten Metropolen der Antike: Weset, auch Nut und in der Bibel No sowie später von den Griechen Theben genannt. Im Neuen Reich, das nach aktueller europäischer Datierung von 1552 bis 1070 vor Christus bestand, löste Theben das alte Memphis im Norden in der Nähe von Kairo als Hauptstadt ab und blieb auch nach dem Verlust seiner politischen Bedeutung der religiöse Mittelpunkt des Landes; zerstört hat es der Assyrerkönig Assurbanipal 663 vor Christus.
So berühmt wie Memphis für die Pyramiden ist Theben für das Tal der Könige mit den Pharaonengräbern im Wüstengebirge außerhalb der antiken Stadt. Am Ostufer des Nils, wo einst die Herrscher residierten und die Bevölkerung lebte, dominieren auch heute noch monumentale Palast- und Tempelanlagen aus jener Zeit; das westlich, fern vom Strom gelegene felsige Gelände hingegen prägt die einstige Totenstadt.
Von den rund 60 tief in die Felsen gehauenen Grabkammern im Tal der Könige sowie weiteren im Tal der Königinnen, wo auch hohe Würdenträger bestattet wurden, standen viele schon im Altertum offen; erst der 1922 entdeckte Grabschatz des Tut-ench-Amun vermittelte einen Eindruck von Reichtum und Art der Beigaben. Am Fuße des Gebirgszuges zur Sahara hin finden sich außerdem einige hundert Privatgräber mit zum Teil prächtigen Wandmalereien.
Diese Darstellungen veranschaulichen zwar auch das gute Leben der Oberschicht. Hauptsächlich aber geben sie wie die meisten sonstigen Bild- und Schriftzeugnisse an Monumenten nicht die Alltagswelt wieder, sondern haben Ewigkeitscharakter. Wie die stilistischen Grundelemente für drei Jahrtausende gültig blieben, so wurden selbst die Schilderungen historischer Ruhmestaten der Mächtigen eingebettet in tradierte Ordnungsschemata, bestimmt von den Vorstellungen der Ägypter von Tod und Jenseits und ihrem Verhältnis zu der Gottheit.
Die steinernen Relikte prägen unser Bild dieser Hochkultur. Der archäologische Zugang zum Leben des Volkes ist schwieriger – schon deshalb, weil des-sen Behausungen aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet waren, die in der feuchten Luft im Niltal während der jährlichen Überschwemmungen zumeist längst zerfallen sind. Doch es gibt eine Ausnahme: Deir el-Medineh (oder Deir el-Medina), wie das Ruinenfeld heute arabisch heißt. Diese Siedlung, in der die Arbeiter der Totenstadt mit ihren Familien wohnten, lag entfernt vom Fluß in einer öden Gegend am westlichen Rand der Metropole.
Die Steinmetze, Maurer und Gipser, Maler und Schreiber mußten so abgeschieden hausen, damit sie die königlichen Bestattungsorte nicht verrieten; alles Lebensnotwendige – sogar Nahrungsmittel und Wasser – wurde angeliefert. Bemerkenswert viele Reste von den rund 70 Wohnhäusern und sakralen Gebäuden sowie Gräber einfacher Leute haben die 3000 Jahre seither überstanden – mancherorts steht das aufgehende Mauerwerk noch zwei Meter hoch. An dieser Stätte fanden französische Archäologen unter Leitung von Bernhard Bruyère bei der systematischen Ausgrabung in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts eine Fülle von Mobiliar, Haushaltsgeräten und Kleidung sowie von Beigaben unberührter Familiengrabstätten, die Rückschlüsse auf das Leben gewöhnlicher, wenngleich besonders gut versorgter Menschen zulassen: Jedes der gut ausgestatteten Reihenhäuser hatte einen Empfangsraum, Wohn- und Schlafzimmer, eine Küche und eine Vorratskammer; Sklaven kümmerten sich um Wäsche, Feuerholz und Hausarbeiten (Bild 1).
Vor allem aber kamen hier – einmalig selbst für Altägypten – Zehntausende von Schriftzeugnissen zutage. In der Mehrzahl lagen sie auf den Müllhalden, doch waren weitere überall in dem Ort verstreut. Die meisten stammen aus den letzten 200 Jahren des Neuen Reiches. Einige der Texte wurden auf Papyrus geschrieben, doch die meisten auf weniger kostbarem Material: auf Keramikscherben oder einfach auf den überall vorhandenen, glatten Kalksteinplättchen, wie sie in dem extremen Klima von den Felsen abspalten – in der Antike weithin verwendete Täfelchen für Notizen und Skizzen, die nach dem griechischen Wort für Scherben ebenfalls Ostraka genannt werden.
Durch diese Aufzeichnungen und auch manches Bildchen erwachen die Bewohner von Deir el-Medineh gleichsam wieder zum Leben (Bilder 2 bis 5). Es fanden sich offizielle Akten und Mitteilungen über Rechtsstreitigkeiten, persönliche Briefe über Familienzwist, Dorfklatsch und Krankheiten, aber auch Stoßgebete und Liebesgedichte; zudem erfährt man daraus vieles über das altägyptische Bildungssystem, das ich seit längerem erforsche.
In Anbetracht der großen Zahl solcher Schriftstücke ist zu vermuten, daß zumindest in den Blütezeiten der fast 500 Jahre bestehenden Arbeitersiedlung die meisten Männer lesen und schreiben konnten. (Man weiß, daß auch die Frauen sich Briefe schickten, doch ist nicht sicher, ob sie die jemandem diktierten.) Das steht in krassem Gegensatz zum übrigen Ägypten jener Zeit. In der Regel waren im Neuen Reich nur etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung schriftkundig. Die Ostraka enthüllen auch, wie die Menschen in Deir el-Medineh diesen beachtlichen Bildungsgrad erlangten.
Arbeit und Privatleben
Offensichtlich standen die Nekropolen-Facharbeiter unter peinlich bürokratischer Aufsicht. Es gibt eine Unmenge von Steinen und Scherben, auf denen penibel notiert ist, welches Werkzeug die Männer erhielten, wenn sie die Gräber in die Felsen schlugen und ausschmückten. Vor allem die metallenen Gegenstände – aus Kupfer oder Bronze – wurden registriert, Meißel beispielsweise sogar vor und nach dem Schleifen gewogen und, falls sie zu kurz geworden waren, zum Einschmelzen eingezogen. Auch die Vergütung für die Arbeit, hauptsächlich Getreide für Brot und Bier, dazu Fisch, Gemüse und Brennholz, gelegentlich Wein, Fleisch, Salz und das als Seife dienende Natron (Soda), wurde genauestens verzeichnet, ebenso der Fortgang der Bauarbeiten pro Zehntagewoche (bei ein- und später zweitägigem Wochenende sowie etlichen religiösen Festen), überhaupt alles Erdenkliche, das sich zählen und messen ließ. Noch vielfältiger sind die persönlichen Notizen. Da gibt es sehr prosaische Dokumente: Quittungen über erworbene Güter oder Aufzeichnungen über Rechtsstreitigkeiten – Prozesse scheint man mit Leidenschaft geführt zu haben. Doch wohl am interessantesten sind die Privatbriefe, von denen viele von Sorgen und Nöten der noch relativ wohlhabenden Arbeiterfamilien in Deir el-Medineh künden. So bittet ein Mann seinen Sohn wegen seines Augenleidens um Hilfe:
Literaturstudien
Rund die Hälfte der in Deir el-Medineh gefundenen Schriftstücke enthält religiöse oder literarische Texte. Großenteils sind es Abschriften klassischer Werke, von denen manche allein auf diesen Ostraka überliefert wurden. Offenbar gehörte das Nachschreiben der alten Literatur wesentlich zur schriftkundlichen Ausbildung, denn Auszüge aus den wichtigsten Dichtungen des Mittleren Reiches (2040 bis 1785 vor Christus) finden sich mehrtausendfach. Dabei war deren Sprache für die Lernenden trotz der konservativen altägyptischen Kultur sicherlich ebenso altertümlich und fremd wie für uns heute Mittel- oder gar Althochdeutsch (Kasten auf dieser Seite). Aber Deir el-Medinehs Bewohner haben auch selbst gedichtet. Der Schreiber Amunnacht zum Beispiel verfaßte einen Lobpreis auf Theben, die prächtige Metropole am gegenüberliegenden Ufer des Nils:
Der Rang von Bildung
Der außergewöhnliche Bildungsgrad der Arbeiter von Deir el-Medineh erklärt sich zweifellos aus ihrem Beruf. Sie mußten nicht nur handwerklich geschickt zur Ausstattung der Pharaonengräber sein, sondern auch die Hieroglyphen kennen. In der Frühzeit der Siedlung beschriftete man die königlichen Ruhestätten mit rudimentären Kopien der sogenannten Unterweltsbücher in Kursivschrift (reich illustrierten Texten über die nächtliche Wanderung der Sonne und die Wiedererweckung der Toten, die man früher auch Jenseitsführer genannt hat), wobei die textbegleitenden Vignetten (ornamentalen Verzierungen) lediglich als grobe Strichzeichnungen wiedergegeben wurden. Gegen Ende des 14. vorchristlichen Jahrhunderts wurden die Ausschmückungen reicher. Nun begann man damit, die Darstellungen plastisch herauszuarbeiten und auszumalen. Damals wuchs der Kreis der Lese- und Schreibkundigen anscheinend merklich an, wie an der deutlichen Zunahme von Schriftstücken zu erkennen ist. Das farbig ausgestaltete Reliefbild führte Haremhab (Regierungszeit 1333 bis 1306 vor Christus), Schwager Nofretetes und letzter Herrscher der 18. Dynastie, als Dekoration der Königsgräber ein, und seine Nachfolger setzten die Tradition fort. Für die nun aufwendigeren Bauvorhaben mußte der Stab von Fachkräften im Zeichnen und im Umgang mit Farbe besonders geschult sein; und weil diese Kunsthandwerker zu- dem ausführliche Hieroglyphentexte zu schreiben hatten, mußten sie sich mit den überlieferten Hymnen auskennen. Erstaunlich ist allerdings, daß zumindest einige der einfachen Arbeiter ebenfalls schriftkundig waren, die nur die Grabschächte und -kammern in den Fels schlugen. Womöglich trieb sie der Ehrgeiz, denn gute Erziehung und Bildung konnten den Aufstieg in bessere Berufe ebnen. Ohnehin bestimmten Schrift- und Literaturkenntnis wesentlich den sozialen Rang, weshalb die Handwerkerklasse sich weit aus der breiten Masse der bäuerlichen Bevölkerung heraushob. Ein geistiges Umfeld wie in Deir el-Medineh dürfte auch die Jugend motiviert haben, schreiben zu lernen, um die Stellung des Vaters übernehmen zu können oder es später vom Gesellen zum Meister zu bringen. Allerdings gibt es immer noch wenig Aufschluß darüber, wie diese Fertigkeit tradiert wurde. Von Schulen ist in den Texten des Neuen Reiches nur beiläufig die Rede. Demnach waren die Kinder beim Besuch recht jung. Eine kleine Geschichte aus dem Wüstenort schildert, wie ein Junge gehänselt wurde, dessen Mutter unverheiratet war: "Man schickte ihn in die Schule, und er lernte trefflich schreiben. Er übte sich in allen Kampfspielen und übertraf seine älteren Kameraden, die bei ihm in der Schule waren. (Eines Tages aber) sagten seine Kameraden zu ihm: Wessen Sohn bist du eigentlich? Du hast doch keinen Vater. Man soll dich höhnen, und man soll dich quälen, indem man sagt: Du hast ja keinen Vater." (Übersetzung von Emma Brunner-Traut, "Altägyptische Märchen". Eugen Diederichs, München 1963.) Hinweise auf ein Schulgebäude hat man in Deir el-Medineh nicht gefunden, weder unter den Notizen noch in den Bauresten auf dem Ruinenfeld, ebensowenig irgendwelche Ansammlungen von Ostraka mit ersten Schreibübungen, die darauf deuten würden. Dafür gibt es eine Anzahl Aufzeichnungen literarisch anspruchsvoller Art von offenbar fortgeschrittenen Schülern, manche sogar von ihnen und dem Lehrer signiert; und hinter etlichen Textpassagen markiert ein Datum das Pensum eines Unterrichtstages – wurde eine Scherbe länger benutzt, finden sich entsprechend mehrere solcher Angaben (Kasten auf Seite 79). Die verschiedenen Unterschriften enthüllen, daß die Väter oder Großväter oftmals die Ausbildung überwachten, während etliche andere ihre Söhne zur Weiterbildung einer höhergestellten Persönlichkeit anvertrauten. (Eine leider schlecht erhaltene Unterschrift könnte sogar von einer Schülerin stammen, obwohl es die Ausnahme gewesen sein dürfte, daß Mädchen schreiben lernten.) Bemerkenswerterweise wurden die Jungen nicht je nach ihrer beruflichen Ausrichtung und der sozialen Stellung ihrer Familie unterrichtet. Die Lehrer hingegen gehörten stets einer gehobe-nen Klasse an; ihren Unterschriften auf den Ostraka ist zu entnehmen, daß sie berufsmäßige Schreiber, Vorzeichner oder Aufseher der Arbeitermannschaften waren. Die älteren Jungen, die bereits an den Gräbern arbeiten mußten, erhielten ihren Unterricht, sowie sich Zeit dazu fand. Die Datierungen auf den Scherben lassen erkennen, daß zwischen den einzelnen Übungsstunden oft mehrere Tage lagen. Zum Lernen war dennoch viel Gelegenheit. Außer den freien Wochenenden und offiziellen Festen gab es insbesondere viele arbeitsfreie Tage, wenn ein Pharaonengrab bald fertiggestellt war; dann konnte es vorkommen, daß die Arbeiter nur jeden vierten Tag im Tal der Könige anzutreten hatten. Auch diese Art des Unterrichts kennzeichnet Deir el-Medineh als Siedlung besonderen Charakters. Eine Ausbildung breiter Schichten war anderswo nicht üblich. Vielmehr wurden einzelne Jugendliche, die für staatliche Führungsaufgaben vorgesehen waren, täglich unterrichtet. Sie schrieben auf bereits benutzten Papyri, von denen sie pro Tag mehrere Seiten füllten. In den Verwaltungszentren fiel genügend solches Material mit Texten an, die wieder gelöscht werden durften. Erstaunlich ist, daß die mit Bau und Ausstattung der Königsgräber betraute Arbeiterschaft sich offenbar über ihre Bildungsziele recht einig war – sie vermittelte der jeweils nachwachsenden Generation weit mehr als nur das beruflich Nötige. Die Motivation klingt durch in den Worten eines der Schreiber, gerichtet an einen Schüler:
Literaturhinweise
- Ägyptische Hymnen und Gebete. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Jan Assmann. Artemis, Zürich/München 1975.
– Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Hellmut Brunner. Artemis, Zürich/München 1988.
– Altägyptische Märchen. Übertragen und bearbeitet von Emma Brunner-Traut. Eugen Diederichs, Düsseldorf/Köln 1963.
– Literarische Ostraka der Ramessidenzeit in Übersetzung. Von Hans-Werner Fischer-Elfert. Otto Harrassowitz, Wiesbaden1986.
– A Community of Workmen at Thebes in the Ramesside Period. Von Jaroslav Cerny. Institut Français d'Archéologie Orientale, Kairo 1973.
– The Tomb-Builders of the Pharaohs. Von Morris Bierbrier. British Museum Publications, London 1982.
– Letters from Ancient Egypt. Übersetzt von Edward F. Wente. Herausgeben von E. S. Meltzer. Scholars Press, 1990.
Kasten: Eine Schülerübung
Das Ostrakon enthält einen Auszug aus der "Lehre des Cheti", einer Berufssatire, die zu den literarischen Klassikern des Mittleren Reichs gehört. Die Lehre beschreibt eine Reihe von Berufen (unter anderem Weber, Pfeilmacher, Bote), die der Dichter im Vergleich zum gehobenen Schreiberdasein als niedere und beschwerliche Tätigkeiten wertet. Der Schüler, der die Scherbe beschrieb, hatte offenbar Schwierigkeiten, die alte Sprache seiner Textvorlage zu verstehen.
Original Der Eilbote geht in die Wüste, nachdem er vorher seine Habe seinen Kindern überschrieben hat. Aus Furcht vor den Löwen und den Asiaten kennt er sich erst wieder, wenn er wieder daheim ist in Ägypten.
Kopie Der Eilbote geht in die Wüste, nachdem er vorher seine Habe seinen Kindern überschrieben hat|; Aus Furcht [vor] den Löwen und den Asiaten, was ist es, wenn er in Ägypten ist? Kehrt er entmutigt nach Hause, hat ihn die Reise geteilt. Wenn er herauskommt [aus] Stoff oder Ziegel, kehrt er nicht in Herzensfreude zurück. Dritter Monat der Winterjahreszeit, Tag 1
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1997, Seite 76
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