Die Skulpturen von Alan St. George
Alan St. George, gebürtiger Brite, ist Architekt im Ruhestand, lebt in Portugal und verfertigt mathematische Skulpturen. Ich wurde auf ihn aufmerksam durch den Katalog seiner Ausstellung "The Shape of Number", die im Dezember 1995 in Lissabon stattfand. Zu seinen zahlreichen Themen zählen fraktale und spiralige Variationen über die regulären (platonischen) Körper. Seine Kunstwerke sind aus Acrylglas und Metall; aber die meisten Gebilde kann man aus Pappe oder massivem Holz nachmachen oder, falls man sie lieber virtuell mag, zum Betrachten auf dem Computerbildschirm programmieren. Im folgenden will ich die Prinzipien beschreiben, nach denen St. George arbeitet; für individuelle Abwandlungen bleibt genügend Raum.
Der klassische antike Geometrie-Text, die "Elemente" des Euklid, gipfelt in dem Beweis, daß es genau fünf Körper gibt, die von regelmäßigen Vielecken begrenzt werden derart, daß sich in jeder Ecke gleich viele Seitenflächen in gleicher Weise treffen. Diese platonischen Körper sind der Würfel aus sechs Quadraten, das Tetraeder aus vier Dreiecken, das Oktaeder aus acht Dreiecken, das Dodekaeder aus zwölf Fünfecken und das Ikosaeder aus 20 Dreiecken. Alan St. George klebt auf einen dieser Körper zahlreiche, immer weiter verkleinerte Exemplare desselben Körpers, und zwar so, daß sich dadurch ein anderer platonischer Körper ergibt.
Um beispielsweise aus einem Würfel ein Oktaeder zu machen, zerlege man zunächst jede seiner Seitenflächen nach Art des Rubik-Drehwürfels in 3×3 kleinere Quadrate. Aus sechs Würfeln mit der Kantenlänge des kleineren Quadrates bastele man ein kreuzförmiges Gebilde, eine Art Stufenpyramide mit nur einer Stufe: Einer der Würfel kommt in die Mitte, und an fünf seiner sechs Seitenflächen klebt man die anderen. Die freibleibende Fläche fügt sich mit ihren in derselben Ebene liegenden Nachbarn zu einem griechischen Kreuz. Mit dieser Fläche klebe man die Stufenpyramide auf eine Seitenfläche des ursprünglichen großen Würfels; ebenso verfahre man mit den übrigen Seiten.
Die entstehende Figur ist von lauter kleinen Quadraten begrenzt. Man beklebe nun wiederum jede dieser Flächen mit einer auf ein Drittel verkleinerten Stufenpyramide, und so weiter (Bild 1).
Wahrscheinlich werden Sie es spätestens nach dem zweiten Verkleinerungsschritt genug sein lassen. Der erste benötigt bereits 36 Würfelchen in sechs Stufenpyramiden; jede von ihnen hat 21 freie quadratische Seitenflächen und läßt vier weitere kleine Quadrate auf der Fläche des ursprünglichen Würfels unbedeckt. Also werden aus jeder großen Seitenfläche 25 kleine, das sind insgesamt 150. Demnach muß man im nächsten Schritt 6×150=900 ganz kleine Würfel aufkleben? Nicht ganz. Die Stufenpyramiden beiderseits einer einspringenden Kante haben manche Würfelchen gemeinsam; aber es bleiben immerhin 708.
Man kann auch ein Oktaeder zum Tetraeder fraktalisieren: Zerlegen Sie seine dreieckigen Seitenflächen in jeweils vier kleinere Dreiecke, indem Sie die Mittelpunkte der Dreiecksseiten miteinander verbinden, kleben Sie auf das Mitteldreieck jeder zweiten Seitenfläche ein Oktaeder der halben Kantenlänge, und so weiter (Bild 2 a). Wenn man jede Seitenfläche statt nur jeder zweiten beklebt, entsteht anstelle eines Tetraeders ein Würfel (Bild 2 b). Alan St. George hat mit seinen Skulpturen sogar den Übergang von Würfel, Tetraeder und Oktaeder zu jedem anderen dieser drei Körper realisiert.
Ein Dodekaeder zu fraktalisieren ist schwer, denn ein regelmäßiges Fünfeck läßt sich nicht in kleinere, ebenfalls regelmäßige Fünfecke zerlegen. Für ein Ikosaeder funktioniert das Verfahren; allerdings ist das Ergebnis in keinem Falle einem anderen platonischen Körper ähnlich. Das ist darauf zurückzuführen, daß die vertrackte Geometrie des Fünfecks – weniger offensichtlich – auch im Ikosaeder steckt: In jeder seiner Ecken treffen sich fünf Dreiecke.
Noch sind die Möglichkeiten der Fraktalisierung von Polyedern keineswegs erschöpft. Vielleicht sind die Ideen auf halbreguläre Körper erweiterbar, also solche, die von mehrerlei regelmäßigen Vielecken begrenzt sind. Am einfachsten bastelt man die Einzelkörper aus dünner Pappe und klebt sie aufeinander. Die Mühsal, zahlreiche Exemplare desselben Körpers anzufertigen, läßt sich mit einer Schablone erleichtern: Man zeichne das Netz des Körpers einmal auf ein Blatt Papier und übertrage seine wichtigsten Punkte durch Nadelstiche auf die Ausschneidebögen. Oder man photokopiert auf (hinreichend dünne) Pappe.
Manchen Leser wird das Bildungsgesetz von St. Georges fraktalen Polyedern an klassische zweidimensionale Fraktale wie die Kochsche Schneeflockenkurve erinnern (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 52): Auf die Seiten eines gleichseitigen Dreiecks setze man jeweils in die Mitte gleichseitige Dreiecke mit einem Drittel der Seitenlänge, auf jede der so entstandenen kleineren Strecken nochmals um den Faktor 3 verkleinerte Dreiecke, und so weiter. Im Gegensatz zu den exotischen Eigenschaften der Koch-Kurve – Selbstähnlichkeit, unendliche Länge bei endlicher umgrenzter Fläche, Dimension zwischen 1 und 2 - ist das Endprodukt (genauer: der Grenzwert) von St. Georges Prozeß geradezu bieder: ein anderer platonischer Körper. Aber das liegt nicht an der Dreidimensionalität: Bei einem derartigen Grenzprozeß können sich sowohl brave Körper mit zweidimensionaler Oberfläche als auch wilde Gebilde ergeben.
Räumliche Spiralen
Eine andere Gruppe von Werken von Alan St. George beruht auf ebenso elementaren Prinzipien, erfordert aber größere Fingerfertigkeit und etwas Probieren. Ich beschreibe eine seiner kunstvollsten Spiralen, deren Grundlage das Ikosaeder ist.
Man stelle sich eine Ameise vor, die jede Ecke dieses Körpers genau einmal besuchen möchte und als Wege nur die Kanten zur Verfügung hat. An jeder Ecke hat sie die Auswahl unter den fünf Wegen, die sich dort treffen: Sie kann kehrtmachen (was sie nicht tun wird, weil sie sonst einen Punkt doppelt aufsuchen müßte), scharf rechts (R), halbrechts (r), halblinks (l) oder scharf links (L) abbiegen (Bild 2 e). Der spezielle Weg, den St. George verwendet, beginnt in einem Punkt A und folgt der Vorschrift RlLrRlLrRlLr (Bild 2 d). Er ist von besonderer Regelmäßigkeit: Die Folge RlLr wiederholt sich dreimal.
Die Spirale von Alan St. George besteht nun aus geraden Teilstücken, die den Teilstrecken eines solchen Ameisenwegs parallel sind. Außerdem ist jedoch jedes Teilstück f1/12=1,040916 mal so lang wie das jeweils vorhergehende. f ist die berühmte Zahl des Goldenen Schnitts: f=(1+SQRT5)/2=1,618034..., die dank ihrer besonderen Eigenschaften (zum Beispiel 1/f=f-1 und f2=f+1) schon bei den antiken griechischen Mathematikern zur Erzeugung besonders harmonischer Proportionen beliebt war. Sie tritt auch als Verhältnis markanter Streckenlängen im Ikosaeder auf.
Durch diese Konstruktion ist nach zwölf Schritten, wenn der Ameisenweg in die nächste Runde geht, das dreizehnte Teilstück genau f mal so lang wie das erste und diesem parallel, die nächste Windung der Spirale ist die um f vergrößerte Version der vorigen, und so weiter.
Wie baut man eine solche Spirale? Die Länge jedes Teilstücks ist gleich der Länge des ersten Stücks (fünf Zentimeter ist ein geeigneter Wert) mal der entsprechenden Potenz von f1/12. Berechnen Sie diese Potenzen oder verwenden Sie für die ersten 25 Teilstücke die folgenden, auf zwei Stellen hinter dem Komma genauen Werte: 1,00, 1,04, 1,08, 1,13, 1,17, 1,22, 1,27, 1,32, 1,38, 1,43, 1,49, 1,55, 1,62=f, 1,68, 175, 1,82, 1,90, 1,98, 2,06, 2,14, 2,23, 2,32, 2,41, 2,52, 2,62=1+f. Schneiden Sie Streifen dieser Längen aus dünnem Karton zurecht und knicken Sie sie entlang der Mittellinie. Die Enden schneiden Sie spitz zu, so daß die Schnittlinien mit der Knicklinie einen Winkel von 60 Grad bilden. Wo der Ameisenweg scharf abbiegt, kleben Sie zwei Enden aufeinander (Schnittlinie des einen Teilstücks auf Mittellinie des anderen) und ergänzen die Ecke durch zwei kleine gleichseitige Dreiecke; denn wie beim Ikosaeder müssen in jeder Ecke fünf Winkel von 60 Grad zusammentreffen. Für die weniger scharfen Knicke im Ameisenweg müssen die beiden Streifenflächen nicht übereinander liegen, sondern stumpf – mit Knick – aneinanderstoßen. In der Lücke ist nur ein Dreieck statt zweien zu ergänzen.
Damit die ganze Konstruktion die richtigen Winkel hat und nicht wackelt, kleben Sie zweckmäßig eine kleine fünfseitige Pyramide – regelmäßiges Fünfeck als Grundfläche, gleichseitige Dreiecke als Seitenflächen – als Stütze in jede Ecke. Selbst dann werden Sie noch einige Stützstäbe brauchen und die fertige Spirale ein wenig zurechtrücken müssen. Aber wenn Sie diese hübsche, allerdings etwas zeitaufwendige Bastelaufgabe gelöst haben, sind Sie Besitzer einer eleganten, dreidimensionalen Skulptur, die das Auge jedes symmetriebewußten Betrachters erfreut.
Die Erstveröffentlichung dieses Artikels im "Scientific American" löste eine lebhafte Diskussion darüber aus, wie man die regelmäßigen Polyeder zu anderen dreidimensionalen Objekten abwandelt. William J. Sheppard aus Columbus (Ohio) findet Modelle aus massivem Holz viel ansprechender als die hohlen, aus Papier zusammengeklebten, und hat bereits 1967 eine Abhandlung darüber veröffentlicht. Norman Gallatin aus Garrison (Iowa) arbeitet seit mehr als 25 Jahren an Variationen über die platonischen Körper und hat, zum Teil mit Spiegelglas, einige bemerkenswerte Skulpturen verfertigt (Bild 3).
Bernd Rümmler, Mathematiker aus Göttingen und Autor zweier Artikel dieser Rubrik, hat Polyeder, die sich von den platonischen Körpern herleiten, in Tiffany-Technik gebaut: Er umkleidet die Kanten geeignet zugeschnittener Glasplatten mit Kupferfolie und lötet sie dann zusammen.
Sein Bestreben war es, mit einem möglichst einfachen Polyeder der Kugelform möglichst nahezukommen. Eine schon recht gute Näherung ist der Rhombendreißigflächner: Man setze ein Dodekaeder und ein Ikosaeder mit gemeinsamem Mittelpunkt so ineinander, daß die Ecken des einen Körpers genau über die Flächenmittelpunkte des anderen hinausragen und jeweils zwei Kanten sich im rechten Winkel schneiden. Zu jedem solchen Paar sich schneidender Kanten verbinde man die Eckpunkte zu einer Raute. Es entsteht ein Körper aus dreißig Rauten und zweierlei Sorten Ecken: In den Fünferecken (das sind die Ecken des Ikosaeders) treffen sich je fünf spitze Rautenecken, in den Dreierecken (den Dodekaeder-Ecken) je drei stumpfe.
Nun sind aber die Fünferecken etwas weiter vom Mittelpunkt entfernt als die Dreierecken. Um das auszugleichen, stutzt Rümmler sie zurecht: Von einer (unversehrt bleibenden) Dreierecke führt er ein gedachtes Messer entlang einer Kante auf eine benachbarte Fünferecke zu, immer tiefer einschneidend, bis das, was von der Fünferecke übrigbleibt, nur noch so weit vom Mittelpunkt des ganzen Körpers entfernt ist wie eine Dreierecke. Als Schnittflächen ergeben sich fünf Drachen, die mit ihren kurzen Seiten aneinanderliegen. Von jeder Raute bleibt nur noch eine Restraute übrig; sie hat die spitzen Winkel da, wo die ursprüngliche die stumpfen hatte, und umgekehrt (Bild 4 links; man stelle sich vor, daß das ursprüngliche Rhombendodekaeder ein gelber Käse mit roter Wachshülle war).
Für ein Gewächshäuschen nimmt Rümmler die obere Hälfte eines solchen Körpers und setzt dessen vertikale Teilflächen ein ganzes Stück nach unten fort (Bild 4 rechts).
Der deutsche Bearbeiter dieses Artikels, Christoph Pöppe, hat diesmal selbst etwas beizutragen. Man kann Dodekaeder nicht lückenlos aneinanderpacken – aber es fehlt nicht viel. Wenn man an zwei benachbarte Flächen eines Dodekaeders jeweils den gleichen Körper fügt, bleibt eine schmale Lücke, die man durch kaum merkliches Verändern der drei Körper schließen kann. Die Deformation läßt sich so gestalten, daß 12 Dodekaedern zu einer Krone mit der Symmetrie des Tetraeders zusammenpassen. Mit ähnlichen leichten Verfälschungen kann man acht Dodekaeder zu einem Ring und sechs Ringe zu einem würfelförmigen Kristall fügen oder eine Art Fußballmolekül herstellen (siehe nebenstehende Anzeige).
Literaturhinweise
- Mathematische Modelle/Mathematical Models. Herausgegeben von Gerd Fischer. Bildband und Kommentarband. Akademie-Verlag, Berlin 1986.
– Platonische und Archimedische Körper, ihre Sternformen und polaren Gebilde. Von Paul Adam und Arnold Wyss. Paul Haupt, Bern und Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1984.
– Mathematical Models. Von H. M. Cundy und A. P. Rollett. Dritte Auflage. Tarquin, Stradbroke (Norfolk) 1989.
– The Construction of Solid Tetrahedral and Octahedral Models. Von William J. Sheppard in: Journal of Chemical Education, Band 44, Seite 683, November 1967.
–
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1997, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben