Die umweltökonomische Gesamtrechnung - Grundlage für eine rationale Umweltpolitik
Wirtschaft und Umwelt stehen in enger Wechselwirkung. Soll ein solches System auf Dauer nicht Schaden nehmen, bedarf es neuer Orientierungshilfen. Eine umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR) soll die dafür erforderlichen Grunddaten liefern.
Ausgangspunkt für die Konzeption ist die herkömmliche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), mit der man das Wirtschaftsgeschehen für einen zurückliegenden Zeitraum – im allgemeinen für ein Jahr – quantitativ zu erfassen und zu bewerten sucht. Deren wichtigstes Ergebnis ist das Sozialprodukt, also die in Geld gemessene Gesamtheit aller hergestellten Waren und aller geleisteten Dienste. Letztlich summiert sich das so entstandene Einkommen zu einer einzigen Zahl, die als zentraler Indikator der Schwäche oder Stärke einer Volkswirtschaft dienen kann: Rechnet man nämlich diesen Wert mit den konstanten Marktpreisen eines Basisjahres um, erhält man das reale Sozialprodukt, das sich mit dem früherer Jahre direkt vergleichen läßt.
Nun wird ein preisbereinigter Anstieg des Sozialprodukts häufig mit einer Zunahme der gesellschaftlichen Wohlfahrt oder schlichtweg auch mit einer höheren Lebensqualität gleichgesetzt. Eine solche Interpretation ist jedoch unzulässig. Denn das verwendete Rechensystem beruht auf Konventionen, mit denen methodische Schwierigkeiten, einzelne Prozesse im volkswirtschaftlichen Kreislauf voneinander abzugrenzen sowie überhaupt zu erfassen und schließlich zu bewerten, einfach per Definition gelöst werden. Die jeweils ausgewiesenen VGR-Daten spiegeln deshalb die Realität nur eingeschränkt wider.
Insbesondere schlagen sich externe Effekte, die mit der Produktion beziehungsweise dem Konsum von Gütern und Diensten einhergehen und die Umwelt in unterschiedlicher Weise belasten, nicht hinreichend als volkswirtschaftliche Kosten nieder. Beispielsweise schmälert der Verbrauch von Rohstoffen das Wohlstandspotential künftiger Generationen; er müßte also in Form von Vorleistungen oder Abschreibungen beziehungsweise beidem bei der Berechnung des Sozialprodukts berücksichtigt werden, was aber nicht geschieht. Des weiteren werden stete Beeinträchtigungen der Umwelt durch Emissionen und Immissionen – von festen, flüssigen und gasförmigen Stoffen aller Art, aber auch von Abwärme und Lärm – nicht erfaßt, obwohl sie den materiellen und immateriellen Wohlstand in beträchtlichem Maße verringern. Paradoxerweise schlagen sich sogar Ausgaben für Reparaturmaßnahmen wie die Sanierung belasteter Böden im Sozialprodukt positiv nieder, obwohl sie allenfalls den Status quo erhalten. Ökologen wie auch manche Ökonomen und Politiker fordern deshalb als adäquates Maß ein Ökosozialprodukt auszuweisen.
Um derartigen Ansprüchen entgegenzukommen, entwickelt das Statistische Bundesamt in Wiesbaden seit 1989 ein geeignetes Umwelt-Informationssystem auf der makroökonomischen Ebene, das seither Schritt um Schritt in eine umweltökonomische Gesamtrechnung umgesetzt wird. Vergleichbare Entwürfe haben auch die Vereinten Nationen, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Europäische Kommission vorgelegt. Art und Umfang der grundlegenden Arbeiten und die bereits vorgelegten statistischen Ergebnisse lassen erkennen, wie notwendig und zweckmäßig diese Vorhaben sind.
Die konzeptionellen Arbeiten des Statistischen Bundesamtes unterstützt ein Beirat mit Gutachten. Er nahm im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) im Februar 1990 seine Tätigkeit auf; ihm gehören maximal 15 Vertreter der Hochschulen, des BMU, des Bundesministeriums für Wirtschaft, des Umweltbundesamtes und des Statistischen Bundesamtes an. Seit Januar 1993 besteht zudem ein sogenannter Begleitkreis aus sachkundigen Vertretern gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gruppen. Beide Gremien tagen mindestens einmal im Jahr gemeinsam, um die Weiterentwicklung der UGR-Konzeption zu erörtern.
Das Ziel ist, den durch die wirtschaftlichen Aktivitäten verursachten Abbau und Verschleiß natürlicher Ressourcen quantitativ zu erfassen. Dazu wird die UGR ihrerseits streng nach den Bedingungen einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung ausgerichtet: Verlangt wird, daß das Naturvermögen in seiner Gesamtheit während einer Berichtsperiode nicht abnimmt. Das heißt nicht, daß neue Umweltschäden unter allen Umständen zu vermeiden seien, was eine unsinnige Forderung wäre; sie sollen vielmehr im Abgleich gegen positiv wirkende Maßnahmen verrechnet werden (wobei eine solche Saldierung erhebliche methodische Probleme bereitet). Folgewirkungen von Altlasten, welche die Umweltbedingungen weiter verschlechtern, sind allerdings auch damit nicht ausgeschlossen. Immerhin ließe sich eine nach diesen Maßgaben ausgerichtete Güterproduktion als Ökosozialprodukt kennzeichnen.
Während die VGR dem Bestand an Sach- und Vermögenswerten nur einen nachgeordneten Stellenwert gegenüber dem aktuellen Entstehen und Verwenden von Einkommen beimißt, betont die UGR gerade den Erhalt des gegenwärtigen Naturvermögens. Sie ist ein eigenständiges Rechenwerk, das zwar wie die VGR auf Statistiken basiert und deren Methoden und Daten nutzt, aber auch ergänzende Analyse- und Datenfelder erschließt.
Grundstruktur
Das weitgehend fertiggestellte Gerüst des statistischen Systems, das die Inanspruchnahme der Umwelt im gesamtwirtschaftlichen Gefüge erfaßt und abbildet, gliedert sich in fünf Themenbereiche (Bild 1). Bei den ersten beiden geht es um die Aufnahme von Sachverhalten, also die Dokumentation von Umweltbelastungen:
- Bei den Material- und Energieflußrechnungen sucht man im wesentlichen die Energie- und Rohstoffbilanzen sowie die Emission von Schadstoffen so miteinander zu verbinden, daß die maßgeblichen Schnittstellen zwischen Ökonomie und Natur sowie die relevanten Strukturen innerhalb der Wirtschaft analysiert werden können.
- Die Flächen- und Raumnutzung läßt sich mittels Geo-Informationssystemen ermitteln. Insbesondere liefert das Statistische Informationssystem zur Bodennutzung (STABIS) erforderliche Daten auf der Grundlage von Satelliten- und Luftbildern; zudem erlaubt es als Datenbank, verschiedenartige geographische Informationen zu verwalten und zu analysieren. Dieses Konzept realisiert zudem das Erhebungsprojekt CORINE "Land Cover" der Europäischen Umweltagentur mit nationaler Ausprägung.
Dem gegenüber stehen die beiden Untersuchungsfelder, welche vollzogene und gebotene Reaktionen auf Umweltschäden aufnehmen, so daß sich aus Vergleichsrechnungen Veränderungen des Naturvermögens ableiten lassen:
- Erfaßt werden zum einen Anlagevermögen sowie Ausgaben und Aufwendungen für Umweltschutzzwecke des produzierenden Gewerbes und des Staates. Diese Daten werden dann mit Input-Output-Tabellen für ausgewählte Jahre verknüpft.
- Zum anderen sucht man die Kosten abzuschätzen, die ein Vermeiden von Umweltschäden für die Volkswirtschaft hätte. Die Ergebnisse einer solchen (bisher erst in Ansätzen entwickelten) monetären Bewertung lassen sich allerdings nicht ohne weiteres in ein periodisches makroökonomisches Rechenwerk integrieren.
Der Umweltzustand soll schließlich mittels Umweltindikatoren (dritter Themenbereich) ganzheitlich abgebildet werden. Das System, das noch in Arbeit ist, wird für Deutschland gelten, aber regionale Streuungen berücksichtigen. Bei der Konzipierung greift man auf Erfahrungen anderer Länder sowie auf Erkenntnisse und Daten aus der Ökosystemforschung und der Umweltbeobachtung zurück. Letztlich soll ein Handbuch entstehen, das eine überschaubare Anzahl der wichtigsten Indikatoren für die periodische Beschreibung der Umweltqualität enthält, sie beurteilt und zudem die Verfahren für ihre bundesweite Erfassung beziehungsweise Umsetzung erläutert.
Anzumerken bleibt, daß die Themenbereiche eins, vier und fünf auf Methoden der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und auf der Wirtschaftsstatistik gründen. Der Bereich Zwei hingegen greift auf die genannten Verfahren der Fernerkundung zurück. Eine gleichsam abschließende Funktion kommt dann dem Themenbereich drei zu: Mediale und räumliche Meß- und Beobachtungsdaten zu Veränderung und Zustand des Naturvermögens werden in Form von Umweltindikatoren verdichtet.
Was kann eine UGR leisten?
Freilich wird es auch auf der Grundlage dieses statistischen Rechenwerks nicht möglich sein, mit einer einzigen Zahl – entsprechend der des Sozialprodukts – ein Ökosozialprodukt auszuweisen. Nach Auffassung des Beirats soll vielmehr ein in sich konsistentes Set von Indikatoren der Wechselbeziehungen zwischen Ökonomie und Umwelt helfen, das nach traditioneller Art erfaßte Sozialprodukt aus umweltpolitischer Sicht besser zu interpretieren. Dazu muß die umweltökonomische Gesamtrechnung eine Reihe statistischer Aufgaben erfüllen (Bild 2).
Insbesondere soll sie Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten und Umweltbelastungen aufzeigen. Des weiteren hat sie nachzuweisen, welche natürlichen Ressourcen in einer Periode beansprucht, verbraucht, entwertet und zerstört oder wiederhergestellt und wiedergewonnen worden sind. Sodann ist mit ihr zu erheben, welche natürlichen Ressourcen – unter Einbeziehung naturgegebener Veränderungen – demnach noch verfügbar sind und wie sich die Bedingungen für ihre Erhaltung verändern. Schließlich ist darzulegen, welche Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Ressourcen ergriffen worden sind und welche – unter Angabe hypothetischer Vermeidungskosten – hätten ergriffen werden müssen, um bestimmte Standards zu erreichen.
Eine derartig angelegte UGR schafft eine hilfreiche Grundlage für Umweltdiagnosen und -prognosen, aus denen sich dann eine sachgerechte Umweltpolitik ableiten läßt. Die zusammengetragenen Daten erleichtern zudem zuständigen Institutionen die laufende Umweltbeobachtung und das Setzen von erforderlichen Umweltschutz-Normen. Ferner ermöglichen die Ergebnisse zeitliche, regionale und internationale Vergleiche, so daß sich die Umweltpolitik mit anderen Politikbereichen zweckdienlich koordinieren läßt. Schließlich können anhand des Systems Theorien und Projektionen ökologischer Sachverhalte überprüft und entsprechende Erklärungs-, Simulations- und Prognosemodelle weiterentwickelt werden; auch die der UGR selbst zugrundeliegenden Statistiken und die Art ihrer Verwendung dürften so zu kontrollieren sein.
Ohne eine derart übergreifende Gesamtschau der relevanten Daten im Beziehungsgeflecht von Wirtschaft und Umwelt würden der Umweltpolitik wesentliche Entscheidungsgrundlagen fehlen. Im Unterschied dazu hätten Maßnahmen auf Verdacht nur einen äußerst fragwürdigen ökologischen und ökonomischen Nutzen. Insofern kann eine ausgereifte umweltökonomische Gesamtrechnung künftig maßgeblich dazu beitragen, die Lebensqualität durch eine rationale Politik zu verbessern, die sich an dokumentierten Kriterien für Nachhaltigkeit ausrichtet.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 113
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben