Die unberechenbare Ordnung. Chaos, Zufall und Auslese in der Natur
Im Gegensatz zum Titel der deutschen Ausgabe umreißt der Titel „Beyond Natural Selection“ der 1991 erschienenen amerikanischen Originalausgabe präzise, um was es dem (1991 verstorbenen) Autor geht: eine Kritik des auf dem Prinzip der natürlichen Selektion beruhenden Neodarwinismus, der heute noch weithin dominierenden Theorie der biologischen Evolution. Diese Theorie beruht auf zwei Grundannahmen:
– Alle vererbten Merkmale von Lebewesen sind das Ergebnis zufälliger Veränderungen des Erbguts und der Selektion durch Umweltbedingungen aufgrund der Fitness-Differenz der Merkmale (Selektionismus);
– große Veränderungen innerhalb der Evolution ergeben sich aus der Aneinanderreihung kleiner Selektionsprozesse (Gradualismus).
Einwände empirischer und wissenschaftstheoretischer Art gegen dieses Konzept wurden immer wieder von bedeutenden Biologen vorgebracht, zeigten aber lange Zeit kaum Wirkung. Erst in jüngerer Zeit formiert sich auf breiter Front eine Kritik des Neodarwinismus, die durch neue Erkenntnisse in der Paläontologie, der stammesgeschichtlichen Forschung (Phylogenetik), der Entwicklungsbiologie und der Biosystemforschung getragen wird. Die Darstellung dieser Kritik nimmt einen großen Teil des Buches ein.
Robert Wesson – er war Professor an der Hoover-Institution der Universität Stanford (Kalifornien) – nennt als eines der wichtigsten Argumente gegen Selektionismus und Gradualismus die sogenannte Stasis: Die Lebewesen haben klar abgrenzbare Grundorganisationen („Baupläne“), die sich auch bei dramatischen Veränderungen der Umwelt- und Überlebensbedingungen (etwa beim Übergang zum Landleben oder bei der Eroberung des Luftraumes) kaum mehr ändern, zum Teil gar über Hunderte von Millionen Jahren konstant bleiben. Ebenso entzieht sich nach Wessons Meinung die Evolution hochkomplexer Leistungen und Funktionen wie des Vogelflugs, der Echolokation und des intelligenten Verhaltens einer befriedigenden Deutung durch den Neodarwinismus. Ausführlich diskutiert er Beispiele für „unzulängliche“ Adaptation, „neutrale“ Merkmale und für Verhaltensweisen, die für den Reproduktionserfolg sogar schädlich sind und die es nach neodarwinistischer Lehre gar nicht geben dürfte. Erwähnt wird auch die Bedeutung der Großkatastrophen, bei denen 50 bis 95 Prozent der jeweils existierenden Arten ausstarben (mit anschließender Neuentfaltung der Überlebenden), was der Evolution einen stark diskontinuierlichen und zufälligen Charakter verleiht. All diese – nicht neuen – Einwände gegen den orthodoxen Neodarwinismus sind versiert und lesbar präsentiert.
Die Kernaussage des Buchs besteht in der These, daß die Evolution weit mehr durch Zufall und durch Selbstorganisation gesteuert werde als durch Umweltselektion. Der Zufall kommt nach Wesson (abgesehen von den Großkatastrophen) im wesentlichen in Form von internen Fluktuationen im Genom ins Spiel, die sich unter bestimmten Bedingungen aufschaukeln und einen Bauplan durchbrechen können. Die Kräfte der Selbstorganisation innerhalb der Lebewesen sorgen jedoch für das Ausbilden eines neuen Bauplans, eines „Attraktorzustandes“, wie es der Autor in Anlehnung an die Chaos-Theorie formuliert. Diese Prozesse sind in erster Linie nicht umweltadaptiv, liefern für die Selektion jedoch (in gewissen Grenzen) das Spielmaterial.
Die ausgedehnten Anleihen bei den aus der Physik und Chemie kommenden Theorien des deterministischen Chaos, der Selbstorganisation und der dissipativen Systeme sind Schwachpunkte des Buches. Die Darstellung der Kernaussagen dieser Theorien läßt an Klarheit und Anschaulichkeit zu wünschen übrig. Überdies steckt ihre Anwendung auf biologische Prozesse und Systeme erst in den Anfängen. Der Versuch, Evolution direkt in Begriffen der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik zu beschreiben, wie ihn unter anderen die von Wesson geschätzten Autoren David D. Depew und Bruce H. Weber unternommen haben, ist mit großer Skepsis zu betrachten. Begriffe wie Selbstorganisation bleiben inhaltsleer, wenn sie nicht an konkreten biologischen Prozessen erarbeitet werden. Dazu liefert die moderne Entwicklungsbiologie eine Fülle von Beispielen, die im vorliegenden Buch kaum behandelt werden.
Wenn Wesson gegen Ende darlegt, daß die Evolution ein Prozeß der Selbstverbesserung sei und letztendlich auf die Evolution des Menschen und das Aufkommen des menschlichen Geistes hinauslaufe, wird deutlich, wie er die nahezu mystische Wirkung der Prinzipien der Selbststeuerung und des „kreativen Chaos“ für die Evolution verherrlicht: „Wir sind der wundervolle Kulminationspunkt des geheimnisvollen Prozesses, seine, soweit bekannt, ersten und einzigen Produkte, die ihren eigenen Ursprung untersuchen und ihre eigene Bedeutung einschätzen können.“
Ein solches Glaubensbekenntnis hat nichts mit einer rationalen Auseinandersetzung mit dem Neodarwinismus zu tun. In ähnlicher Weise gerät der Antireduktionismus, wie er zu Beginn des Buchs kenntnisreich und überzeugend dargestellt wird, zum unfruchtbaren Antiphysikalismus mit der Behauptung, Biologie unterscheide sich grundlegend von der Physik, da sie keine exakten Vorhersagen erlaube (daher der deutsche Titel „Die unberechenbare Ordnung“). Dabei vergißt der Autor seine eigenen Hinweise darauf, daß das allermeiste, was in der unbelebten Natur geschieht, ebensowenig exakt vorhersagbar ist wie das Lebendige.
Wenn es für die moderne Wissenschaft eine grundlegende Unterscheidung gibt, dann die zwischen einfachen (um nicht zu sagen: einfachsten) und komplexen Systemen, seien diese physikalisch oder biologisch. Für letztere gibt es – noch – keine befriedigende Theorie. Es ist aber eine Kapitulation des (von Wesson so verherrlichten) Geistes, Evolution zum unverstehbaren Geheimnis zu erklären.
Zwischen unorthodoxen Neodarwinisten, die bei Wesson leider kaum zu Wort kommen, und toleranten Kritikern des Neodarwinismus besteht Übereinstimmung darüber, daß die biologische Evolution von einer Reihe von Faktoren (wie den oben genannten) bestimmt wird, von denen natürliche Selektion nur einer ist. Es ist die große Herausforderung an die heutige Biologie, das komplexe Zusammenspiel dieser Faktoren zu analysieren und anhand empirisch überprüfbarer Mechanismen zu erklären.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 132
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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