Die Universität im Umbruch
Der Umbruch kommt; er hat die Welt erfaßt. Wir haben daran mitgewirkt, daß er kommen muß.
Seit mehr als 150 Jahren werden mit zunehmender Geschwindigkeit alle Lebensbereiche, alle Berufe immer stärker von Technik und Wissenschaft durchdrungen. Zwar müssen die Menschen auch in Zukunft sich ernähren, sich kleiden und wohnen; aber gleichgültig wo, ob in der Landwirtschaft, in der Textilindustrie, in der Bauwirtschaft oder in hochtechnisierten Branchen wie Flugzeugbau und Raumfahrt – überall arbeiten Handwerker, Ingenieure und Wissenschaftler mit immer intelligenteren Maschinen. Algorithmen steuern auch Backstraßen, Computerprogramme optimieren auch den Stoffzuschnitt.
Wen wundert es, daß Bildung zum Wahlkampfthema wird, daß die berufliche Bildung sich mehr und mehr in den tertiären Bereich – also in Universitäten, Fach- und Gesamthochschulen – verlagert und daß im wirtschaftlichen Wettbewerb der Standorte das Bildungssystem eine entscheidende Rolle spielt.
Noch 1990 war es die mehrheitliche Auffassung der Enquete-Kommission "Zukünftige Bildungspolitik – Bildung 2000", daß "das gegliederte Hochschulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, das vor allem aus Universitäten, Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und Kunsthochschulen besteht, sich grundsätzlich bewährt hat. Eine grundlegende Änderung des Bestehenden scheint nicht notwendig, auch nicht im Hinblick auf die europäische Einigung und die Wiedervereinigung der beiden Staaten in Deutschland" (Drucksache des Deutschen Bundestags 11/7820, 1990).
Ob die damals Beteiligten der Enquete-Kommission eine Erklärung dafür haben, daß deutsche Studierende zu Tausenden und in weiter wachsender Anzahl zum Studium nach Großbritannien und in die USA gehen, obwohl das "gegliederte System" sich "grundsätzlich bewährt hat"? Und ob sie eine Erklärung dafür haben, daß immer weniger Ausländer zum Studium nach Deutschland kommen wollen?
Nein, der Umbruch vollzieht sich. Daran ändert auch nichts, daß der in der Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) gefundene Kompromiß die Kräfte widerspiegelt, denen "eine grundlegende Änderung des Bestehenden nicht notwendig" scheint. Die HRG-Novelle zeigt aber auch die Veränderung an, zeigt, daß Zeichen der Zeit verstanden worden sind, schafft begrenzte Freiräume; und es wird an den Regierungen der Länder liegen, diese Freiräume an die Universitäten weiterzugeben oder vermehrt technokratisch-zentralistisch auf die Universitäten einzuwirken.
In seinem Vortrag zur Wiedereröffnung der Heidelberger Universität im Jahr 1946 sagte der Philosoph Karl Jaspers (1883 bis 1969): "Aber die Gefahr ist groß, der soziale Körper trägt die Universität. Er wird sie vernichten und nur eine Schule für Leistungsfähigkeiten und Wissensstoff übriglassen, wenn ihre Aufsaugung durch die Instinkte der Majorität am Ende gelingt. Das wird still, unmerklich geschehen, wenn die Mitglieder der Universität selber diese Instinkte vertreten."
Will man aber den Universitäten die Möglichkeit einräumen, sich zu verändern, will man sie nicht über die jeweiligen Landesmajoritäten in irgendeiner Weise instrumentalisieren, wird dies nicht ohne Auswirkung auf die Gesellschaft bleiben. "Die Universität ist Teil dieser Gesellschaft und muß sich in ihr und mit ihr verändern", sagte Wolfgang Frühwald, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, im FORUM-Gespräch über die "Krise der Forschung" (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1997, Seite 30).
Wenn unsere Gesellschaft flexibel und kreativ werden soll, wenn wir uns trennen wollen von unserer allgemeinen "Anspruchs- und Konsumentenmentalität", die "an deutschen Hochschulen so verbreitet wie in der Gesellschaft" ist (so formulierte es Hans-Uwe Erichsen, damals Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, im gleichen Gespräch), dann wären die Universitäten ein guter Ort, als Vorturner zu wirken. Nur – innerhalb staatlich vorgegebener curricularer Eckpunkte oder Normrichtwerte ist Flexibilität schwer, wenn unter Übung der Flexibilität nicht das versuchte Beugen des Rechts verstanden werden soll.
Den Universitäten eine taugliche Perspektive geben heißt zuerst, daß wir das institutionalisiert gepflegte Mißtrauen beseitigen, das sich in Vorurteilen äußert wie "Die Universitäten sind nicht imstande, sich selbst zu regieren" oder jenen von den "faulen Professoren" und den "vor der Arbeitslosigkeit geparkten Studierenden".
Vor allem lasse man die Universitäten ihre ihnen jeweils eigene Perspektive aus sich selbst heraus entwickeln. Die Kultus- und Wissenschaftsministerien sind allzu überkommene Relikte des 19. Jahrhunderts. Wie unser vielfach verästeltes, undurchdringliches Steuersystem die Steuerunehrlichkeit begünstigt, so lastet das Regelwerk des Staates auf den Universitäten – diejenigen ihrer Mitglieder begünstigend, die über eine ausgeprägte Anspruchs- und Konsumentenmentalität verfügen, und diejenigen entmutigend, die Neues wollen und sich dabei im Regelwerk, das den Status quo erhält, verfangen.
Vielleicht sind die allseits beklagte Konzeptionslosigkeit sowie der Mangel an Kreativität und Bürgerfähigkeit ein Ergebnis unseres verrechtlichten und standardisierten Bildungswesens. Gefragt ist in der Zukunft die lernfähige Organisation, auch in Bereichen der Bildung; doch werden schwerfällige, bürokratisierte Einrichtungen wenig Hilfe dafür bieten. Lernen aber kann nur jeder für sich selbst, in eigener Verantwortung. Überall dort, wo die Dinge in diese Richtung hin geordnet sind, entwickeln sie sich fruchtbar.
Die Perspektive unserer Hochschulen liegt in ihnen selber. Sie müssen sie entdecken dürfen. Sie tragen die Verantwortung für Forschung und Lehre. Man gebe ihnen das Recht, ihre eigenen Verhältnisse zu ordnen, und entlasse sie aus der Bevormundung. Man habe keine Angst vor den Fehlern, die sie machen werden; größere Fehler, als ihnen in den vergangenen Jahrzehnten angetan worden sind, werden sie nicht zuwege bringen. Und man unterdrücke die Angst, daß aus der Einheitlichkeit eine Vielfalt entstehen würde und daß in der Vielfalt die Schwachen ihren Platz nicht finden könnten. Die sich ausdifferenzierende Vielfalt wird nur eine Antwort auf die immer komplexer werdenden Systeme sein.
Der globale Wettbewerb, auch in der Bildung, ist bereits Wirklichkeit. Dabei wird in der Zukunft aber sicherlich nicht nur die technische Leistungsfähigkeit, sondern auch die überschauende Urteilsbildung maßgebend sein, zu der die Geisteswissenschaften – vielleicht gerade in ihrer mitteleuropäischen Vielfalt – beitragen können. Im planwirtschaftlichen Wettbewerb siegt, wer die beste Planerfüllung erbringt, im freien Wettbewerb gewinnt, wer die überzeugendste Lösung bietet. Im freien Wettbewerb können sich nur Freie und Gleiche messen.
So abenteuerlich es für die Politik auch heute noch klingen mag: Die Perspektive für den Staat ist es, sich auf die verfassungsmäßige Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre zurückzuziehen, die Universitäten allerdings über einen längeren Zeitraum zu alimentieren. Dabei sollte nicht mehr die Institution, sondern mehr und mehr die Aufgabe finanziert werden. So können beispielsweise die Zuwendungen unter anderem an die Zahl der qualifizierten Abgänger, an Abschlüsse in der Regelstudienzeit oder an Bildungsgutscheine gebunden werden.
Dann ist es an den Universitäten, ihre Ziele in der Pflege von Wissenschaft, Forschung und Studium selbst zu formulieren. Sie müssen
-ihre Mittel auf ihre Ziele hin optimieren,
-das Erreichen der Ziele selbst kontrollieren,
-die Studierenden selbst auswählen und ihre Qualifikation verantworten,
-ihre Organisationsstruktur eigenständig entwickeln sowie
-eigene Kriterien der Berufung von Personal in allen Ebenen haben.
Nach Übertragung der Satzungs-, Finanz-, Personal- und Vertragshoheit vom Staat auf die Universitäten können und werden sich diese auf den globalen Wettbewerb einstellen; aber erst dann werden sie ihre Stärke beweisen können. Zwar wird nicht nur ein Aufatmen, sondern auch ein Seufzen durch die Institutionen gehen. Nur haben uns die Seufzenden nie weitergebracht. Die Aufatmenden jedoch werden den von Bundespräsident Roman Herzog geforderten Ruck schaffen – allein sie werden dafür sorgen, daß wir uns beim Megathema Bildung in Zukunft nicht zu verstecken brauchen.
Dr. Schily studierte Medizin an den Universitäten Basel, Tübingen und Hamburg; er promovierte 1966 in Tübingen und ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie. Von 1966 bis 1986 war er im Vorstand des Gemeinnützigen Vereins zur Entwicklung von Gemeinschaftskrankenhäusern tätig und nach Betriebsbeginn des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke im Jahre 1969 dort zunächst verantwortlich für den Aufbau der Abteilung Labordiagnostik, zudem für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit und später unter Dr. Gerhard Kienle für den Aufbau der Neurologischen und Psychiatrischen Abteilung. Von 1978 bis 1980 war er Ärztlicher Leiter des ersten Musiktherapie-Mentorenkurses in Deutschland in Zusammenarbeit mit den Musikhochschulen Köln und Aachen und baute anschließend den Studiengang Musiktherapie an der Musikhochschule Aachen mit auf. Von 1975 bis 1981 nahm er an vorbereitenden Arbeiten zur Gründung einer Hochschule in freier Trägerschaft im Rahmen der Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften teil. Unterdes wurde 1980 der Universitätsverein Witten/Herdecke gegründet, dessen Vorstandsvorsitzender er bis 1987 war; seit sich in jenem Jahr die Universität Witten/Herdecke in der Rechtsform einer GmbH verselbständigte, ist er deren Präsident.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 37
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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