Die unterschätzten Neandertaler
Seit ihrer Entdeckung wurden die Neandertaler gern abqualifiziert. Demnach waren sie weder zum Symbolverständnis fähig noch dazu, komplizierte Gegenstände herzustellen. Sie wurden als primitive Wesen eingestuft, die über eine einfache Werkzeugfertigung nie hinauskamen. Und wenn hoch entwickelte altsteinzeitliche Objekte zusammen mit Neandertaler-Fossilien auftauchten, suchten die Wissenschaftler dies oft anders zu erklären.
Der beeindruckendste solche Fundort liegt im nördlichen Zentralfrankreich: Die Grotte du Renne ist eine der Arcy-sur-Cure-Höhlen. Dort stießen die Wissenschaftler neben Neandertaler-Fossilien auf Mengen von Knochen- und Steinwerkzeug, Körperschmuck und verzierte Objekte. Dieselbe kulturelle Tradition, das Châtelperronien, ist auch von anderen französischen Fundorten, vom Kantabrischen Gebirge in Nordspanien und aus den Pyrenäen bekannt.
Die frühen modernen Europäer hatten eine vergleichbare Industrie. Artefakte dieses Aurignacien tauchen oft an denselben Stellen auf wie die des Châtelperronien. Deshalb vermuteten manche Wissenschaftler, dass nur geologische Schichten durcheinander geraten waren, sodass Objekte aus dem Aurignacien neben solche des Neandertalers zu liegen kamen. Andere Forscher glaubten, dass solche Dinge von modernen Menschen stammten. Die Neandertaler hatten sie entweder aufgelesen, eingetauscht oder die Fertigung nachgeahmt, ohne aber die symbolische Bedeutung mancher der Gegenstände wirklich zu begreifen.
Wir haben das Material aus der Grotte du Renne neu bewertet und kommen zu einem anderen Schluss. Die Fossilien und Artefakte gehören unseres Erachtens tatsächlich zusammen. Fertige Objekte und handwerkliche Abfälle liegen wirklich in derselben Schicht.
Und wir erkannten auch, dass die Techniken des Châtelperronien andere waren als die des Aurignacien. Dies gilt auch für weitere Fundplätze dieser Kultur, etwa Quinçay in der Poitou-Charentes-Region. So bohrten die Neandertaler in Schmuckanhänger für die Schnur meist nicht ein Loch, sondern kerbten stattdessen Bären-, Wolfs- und Hirschzähne an der Wurzel ein. Falls es aber doch einmal ein Loch sein sollte, bohrten sie zuerst eine feine Öffnung und erweiterten diese nachträglich, wie François Léve ˆque und eine Kollegin beschrieben. Die frühmodernen Menschen schabten die Stelle erst einmal dünn und durchbohrten sie anschließend.
Gleichermaßen ist an anderen Neandertaler-Fundplätzen in Frankreich, Italien oder Spanien bei den neuen Schlagtechniken der Steinbearbeitung und bei den neuen Werkzeugtypen keinerlei Einfluss des Aurignacien zu erkennen. Vielmehr prägen sich die örtlichen Traditionen durch. Die neuen Typen und Techniken scheinen sich autonom entwickelt zu haben.
Wäre die Châtelperronien-Kultur der Neandertaler aus dem Kontakt mit frühmodernen Menschen hervorgegangen, dann müsste das Aurignacien dem Châtelperronien vorausgegangen sein. Doch unsere Analysen der radiometrischen Datierungen der Fundschichten zeigen das Gegenteil. Wo immer beide Kulturen zusammen vorkommen, liegt das Châtelperronien, bis auf ein Paar strittige Fälle, stets unter dem Aurignacien. Demnach wäre es früher anzusetzen. Für das Aurignacien gibt es von Europa und dem Nahen Osten Hunderte von Datierungen. In allen gesicherten Fällen sind die Funde nicht älter als rund 36500 Jahre. Dieselben Datensätze besagen auch, dass der Neandertaler sich zu jener Zeit schon eigenständig auf eine moderne Kultur zubewegte. Vor bereits rund 40000 Jahren tauchten in Europa das Châtelperronien und andere späte Neandertaler-Kulturen auf, wie in Italien das Uluzzien. Das war lange bevor sich moderne Menschen in diesen Gebieten ansiedelten.
Die Menschen dieser Neandertaler-Kulturen schufen auch symbolische Gegenstände, die sie am Körper trugen. Gleiches ist in vielen heutigen traditionellen Kulturen üblich. Man kann hieraus ableiten, dass die Neandertaler diverse soziale Rollen kannten. Aus all dem folgt: "Modernes" Verhalten trat offenbar in verschiedenen Regionen und bei verschiedenen Hominidengruppen auf. Ähnlich erfanden die Menschen später ja auch den Ackerbau, die Schrift und den Staat mehrfach.
Es gäbe allerdings noch eine andere Erklärung. Merkwürdig ist, dass Menschen an vielen Orten der Alten Welt fast gleichzeitig anfingen, persönlichen Schmuck anzufertigen. Vielleicht erschütterte die Berührung mit der anderen Gruppe die eigene persönliche, soziale und biologische Identität, und dies zündete den Funken für die Explosion bei der Herstellung von symbolischen Objekten – bei allen Beteiligten. Angesichts der Datenlage ziehen wir jedoch die Hypothese vor, nach der die Neuerungen einst unabhängig voneinander einsetzten.
Welche These immer sich als richtig erweisen wird – was lange als eigentlich trennendes Element zwischen den Neandertalern und den frühmodernen Menschen galt, nämlich die Schaffung von symbolhafter Kultur, ist nicht mehr erkennbar.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2000, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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