Editorial: Die Wahrheit des anderen
Er selbst konnte die Rede nicht halten. Da seine Frau sich das Bein gebrochen hatte, musste Steven Chu kurzfristig aus Deutschland abreisen. Seinen Vortrag "Wissenschaft als Versicherungsschein gegen die Risiken des Klimawandels" verlas stattdessen ein anderer Nobelpreisträger, William Moerner (Videomitschnitt: www.mediatheque.lindau-nobel.org/videos/36844/2017-chem-keynote-chu). Ende Juni hatten sich am Bodensee 28 der höchstdekorierten Wissenschaftler für das diesjährige Lindauer Nobelpreisträgertreffen zusammengefunden, um gemeinsam mit mehr als 400 Nachwuchstalenten über Probleme der Chemie und verwandter Fächer zu diskutieren. Chu, selbst Physiker und von 2009 bis 2013 Energieminister der USA, hatte in dem Manuskript seiner Eröffnungsrede ein eindringliches Plädoyer dafür formuliert, die Befunde der Klimaforschung ernst zu nehmen, und geißelte deren Missachtung durch die aktuelle US-Regierung. Nachdem Moerner den Vortrag seines Laureaten-Kollegen gehalten hatte, wurde er gefragt, ob er selbst die Lage ähnlich düster wie Chu beurteile. Die Antwort des Chemikers: Zwar könne man die Klimaveränderung in Teilen vielleicht noch abmildern. Niemand mehr könne jedoch bezweifeln, dass wir sowohl Zeugen einer globalen Erwärmung seien – als auch deren Verursacher. Wörtlich prangerte er "fehlenden Respekt vor der wissenschaftlichen Methode und den wissenschaftlichen Fakten" an.
Doch was sind Fakten, was Erkenntnisse? Wie kommen Wissenschaftler zu ihren Aussagen über die Welt? Welche Wahrheiten über deren Beschaffenheit enthalten ihre Formeln und Modelle? Für dieses Heft haben wir ein Titelthema gewählt, das grundlegender kaum sein könnte für ein Wissenschaftsmagazin – und nach mehr als 2000 Jahren abendländischer Philosophiegeschichte derzeit wieder topaktuell erscheint. In seinem Essay ab S. 12 begründet der Naturphilosoph Michael Esfeld von der Université de Lausanne, warum der Realismus das beste epistemologische Konzept für unsere Erkundung des Universums darstellt. Im an- schließenden Interview ab S. 19 erläutert der Physiker Michael Krämer von der RWTH Aachen ein aktuelles Anwendungsbeispiel dafür: wie wir aus dem Datenwust von Beschleunigern Gewissheit über die Existenz neuer Elementarteilchen oder gar neue Naturgesetze gewinnen können.
Eine erhellende Lektüre wünscht Ihr
Carsten Könneker
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