Die zwei Gesichter der Intelligenz im Alter
Altersbedingte Einbußen in der mechanischen Intelligenz lassen sich durch geeignetes Training in gewissem Maße ausgleichen. Wenn es dabei aber um höchste Anforderungen geht, werden Grenzen deutlich. Wie steht es dagegen mit Spitzenleistungen in der pragmatischen Intelligenz, insbesondere bei weisheitsbezogenem Wissen, das bevorzugt Älteren zugeschrieben wird?
Intellektuelle Fähigkeiten und kogni- tive Prozesse verändern sich mit den Jahren, allerdings nicht einheitlich. Nicht nur verschiedene Personen altern unterschiedlich – hohe Leistungsfähigkeit ist bei Betagten ebenso zu finden wie starker geistiger Abbau –, sondern auch die einzelnen Fähigkeiten, die zusammen die Intelligenz ausmachen. Zum Beispiel lassen die Geschwindigkeit und Präzision nach, mit der Wahrnehmungs- und Denkaufgaben gelöst werden. Fähigkeiten hingegen, die auf Wissen und Lebenserfahrung aufbauen, können bis in späte Lebensphasen erhalten bleiben oder sogar noch wachsen.
Was sich als Altern der Intelligenz äußert, beruht demnach auf einem komplexen Zusammenspiel biologisch bedingter Einbußen und kulturell vermittelter Zugewinne. Für daran interessierte Entwicklungspsychologen heißt das, sich den altersbedingten Möglichkeiten wie auch Grenzen intellektueller Leistungen gleichermaßen zu widmen und sich nicht einseitig auf Abbau oder Zugewinn zu fixieren.
Diesem Doppelcharakter des kognitiven Alterns trägt auch ein Zwei-Komponenten-Modell der Intelligenz Rechnung, das auf Überlegungen der amerikanischen Psychologen Raymond Cattell und John Horn sowie des kanadischen Psychologen Donald Hebb aus den späten vierziger und in den sechziger Jahren aufbaut: Es trennt das System der Intelligenz in eine mechanische und eine pragmatische Komponente (Bild 2). Diese Unterscheidung orientiert sich an den von Cattell und Horn entwickelten Konzepten einer fluiden und einer kristallinen Intelligenz (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1984, Seite 46).
Unter kognitiver Mechanik verstehen wir gewissermaßen die biologisch-evolutionär vorgeprägte Hardware des Gehirns; ihre Leistungsfähigkeit äußert sich beispielsweise in der Geschwindigkeit und Präzision, mit der grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung ablaufen, und in basalen Wahrnehmungsfunktionen ebenso wie in elementaren Prozessen des Unterscheidens, Vergleichens und Klassifizierens. Als deutlich biologisch-genetisch bestimmte und vom Gesundheitszustand abhängige Komponente ist bei der Mechanik der Intelligenz mit fortschreitendem Alter ein Leistungsrückgang zu erwarten, vielleicht sogar vorprogrammiert.
Die kognitive Pragmatik hingegen repräsentiert den inhaltlich fundierten, kulturell bestimmten Aspekt der Intelligenz. In Analogie zur Software zeigt sich in ihr, was Kulturen an tradiertem Wissen bereithalten und was ein Mensch davon im Laufe seiner Individualentwicklung erworben und verfeinert hat. Beispiele sind sozial vermittelte Strategien und Fähigkeiten wie Sprache, Lesen und Schreiben, berufliche Fertigkeiten, aber auch Strategien der Lebensbewältigung sowie das Wissen über sich selbst und andere. Leistungsstabilität im Erwachsenenalter ist in diesem Bereich eher das Normale, und Zugewinne sollten zumindest solange möglich sein, wie die Mechanik dies altersbedingt zuläßt.
Die Unterscheidung zwischen Mechanik und Pragmatik darf demnach nicht zu dem Schluß verleiten, beide Kategorien schlössen einander aus. Vielmehr sind sie eng verwoben. Pragmatisches Wissen etwa kann ohne mechanische Erinnerungs- und Vergleichsprozesse nicht abgerufen und auf neue Situationen angewendet werden. Umgekehrt bedarf die Mechanik bestimmter Umfelder und kulturell vermittelter Aspekte, damit sie sich im ersten Teil des Lebens angemessen entwickelt. In Theorie und Forschung ist es jedoch sinnvoll, beide Komponenten möglichst rein zu erfassen; dann läßt sich auch besser verstehen, wie sie zusammenwirken und sich ergänzen.
Unser Interesse gilt der lebenslangen Entwicklung dieser beiden Komponenten, und ergänzend untersuchen wir, was in verschiedenen Lebensaltern prinzipiell erreichbar ist – denn Messungen kognitiver Fähigkeiten in der Nähe der Leistungsobergrenze zeichnen, wie sich zeigte, ein zuverlässigeres und deutlicheres Bild altersbedingter individueller Unterschiede als solche im Normalbereich.
Um Mißverständnissen gleich vorzubeugen: Viele gesunde ältere Erwachsene sind durchaus imstande, das Leistungsniveau ihrer mechanischen Intelligenz – etwa deren Anwendung beim Lösen von Intelligenztests – durch entsprechende Anleitung und Übung beträchtlich zu steigern. Fünf einstündige Trainingssitzungen reichen Personen in der Altersgruppe der Sechzig- bis Achtzigjährigen in unseren Studien in der Regel aus, damit sich die trainierten Fähigkeiten um den Betrag einer halben bis ganzen Standardabweichung verbessern (sie ist ein Maß für die Streuung). Dies entspricht ungefähr dem durchschnittlichen, in Längsschnittstudien gefundenen Alternsverlust vom sechzigsten bis zum achtzigsten Lebensjahr. Allerdings sind die Zugewinne extrem spezifisch und weitgehend auf das für die trainierten Aufgaben notwendige strategische "Wissen" begrenzt.
Studien dieser Art haben den Fortbestand von kognitiver Plastizität, von aktivierbaren Kapazitätsreserven, bei vielen Älteren dokumentiert. Offen blieb aber, ob dies auch auf Höchstleistungen zutrifft, ob also ältere Erwachsene, wenn hauptsächlich die kognitive Mechanik gefordert ist, dasselbe Niveau wie jüngere zu erreichen vermögen, sofern man sie nur intensiv genug und optimal trainiert.
Gedächtnishöchstleistungen nach Training
Zur Untersuchung dieser Frage wählten Reinhold Kliegl, Jacqui Smith und einer von uns (Baltes) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ein in der kognitiven Alternsforschung seit langem etabliertes Verfahren: das Erinnern von Wortlisten. Die Aufgabe besteht darin, sich möglichst alle der etwa 20 bis 40 jeweils aufgeführten Substantive (Auto, Blume, Tisch, Flugzeug...) einzuprägen und sie anschließend in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. Ohne weitere Instruktionen und bei einer Darbietungszeit von zwei Sekunden pro Wort bringen es selbst die meisten jüngeren Personen auf nicht mehr als fünf bis sieben Substantive in richtiger Abfolge. Nach dem Erlernen von Gedächtnistechniken können sie sich jedoch je nach Intensität des Trainings mehrere Dutzend merken, und zwar in korrekter Reihenfolge.
Am häufigsten verwenden wir die seit der Antike bekannte Methode der Orte als Merkhilfe. Ihr Prinzip besteht darin, eine Art geistige Landkarte zu erstellen, auf deren Route die gelernten Wörter in Form von Gedächtnisbildern gleichsam abgelegt und beim Erinnern wieder aufgesucht werden. Für die Anwendung der Methode sind nach unserer Ansicht Prozesse der kognitiven Mechanik zentral; gleichzeitig lassen sie sich experimentell kontrollieren.
Gesunde ältere Erwachsene können die Methode der Orte erlernen und gewinnbringend nutzen. Wie der rasche anfängliche Anstieg ihrer Gedächtnisleistung verrät, haben sie sogar noch beträchtliche mobilisierbare Kapazitätsreserven. Diese Erkenntnisse aus unseren früheren Studien bestätigten sich auch jetzt wieder. Allerdings – je mehr sich die Untersuchungsteilnehmer ihren Leistungsgrenzen näherten, desto deutlicher manifestierten sich alternsbedingte Verluste in Geschwindigkeit und Genauigkeit (Bild 3). So wuchs mit der Zahl der Übungsstunden der Rückstand gegenüber einer nach demselben Modus trainierten Gruppe jüngerer Leute, die nach Intelligenzquotient und Bildung vergleichbar waren. Am Ende befand sich nicht ein einziger älterer Teilnehmer an der Spitze oder auch nur oberhalb des mittleren Leistungsniveaus der jüngeren – obwohl es sich um gesunde ausgewählte Senioren mit überdurchschnittlicher Schulbildung handelte. Selbst nach fast 35 Sitzungen hatten die meisten nicht einmal jenes Niveau erreicht, auf das es die jungen Leute bereits nach wenigen Sitzungen brachten. Eine so klare Trennung der Leistungen nach Altersgruppen ist in der kognitiven Alternsforschung ein Novum; in der Regel überschneiden sich die beiden Gruppen in ihrer Verteilung deutlich.
Selbst speziell auf die Aufgabe zugeschnittene Talente vermögen, wie wir (Lindenberger und Baltes) zusammen mit Kliegl feststellten, an dieser Altersschere wenig zu ändern. Ältere Graphikdesigner, von denen anzunehmen ist, daß sie im Erzeugen bildhafter Vorstellungen – einer für die Anwendung der Methode der Orte zentralen Komponente – besonders begabt und erfahren sind, lagen in ihren Leistungen zwar über denen anderer Altersgenossen, aber deutlich unter denen junger Erwachsener.
Fast alle älteren Erwachsenen bis zum achten Lebensjahrzehnt sind in der Lage, ihre Intelligenzreserven zu aktivieren. Bei älteren Personen mit Verdacht auf einen pathologischen geistigen Abbau (etwa einer Demenz vom Alzheimer-Typ) läßt allerdings erwartungsgemäß die kognitive Plastizität dramatisch nach. Wie Margret Baltes und ihre Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin nachgewiesen haben, ist diese starke Minderung der Lernfähigkeit sogar einer der frühesten Hinweise auf eine mögliche Hirnleistungsstörung wie die Alzheimer-Krankheit. Wenn sich also kognitives Training bei einem älteren Erwachsenen als nur wenig oder gar nicht effektiv erweist, kann dies ein Anzeichen für den Übergang des normalen in einen pathologischen Alternsprozeß sein – daß sich etwas in der kognitiven Mechanik nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert hat.
Suche nach den Grundparametern des kognitiven Systems
Wie in der kognitiven Entwicklungspsychologie des Kindesalters unterstellt man auch in der kognitiven Alternsforschung, daß sich die Zahl der Lebensjahre nicht unmittelbar auf die breite Palette kognitiver Leistungen und Funktionsbereiche auswirke, sondern nur auf eine begrenzte Anzahl grundlegender Parameter des Denkapparats – etwa dessen Verarbeitungsgeschwindigkeit. Diese beziehungsweise die damit verknüpften Prozesse fungieren als die eigentlichen Schrittmacher für Alternsveränderungen in der kognitiven Mechanik. Über Anzahl und Beschaffenheit dieser Parameter, die auch als kognitive Ressourcen bezeichnet werden, sowie über geeignete Methoden, ihre jeweilige Bedeutung für das Entstehen von Alternsveränderungen empirisch zu bestimmen, wird derzeit debattiert.
Unbestritten nimmt die Geschwindigkeit, mit der Denk- und Wahrnehmungsaufgaben gelöst werden, im Kindes- und Jugendalter generell zu und im späteren Erwachsenenalter generell ab. Einer Hypothese zufolge spiegelt dies Veränderungen der Geschwindigkeit wider, mit der elementare kognitive Operationen ausgeführt werden können. Dies hieße aber, daß unabhängig von Inhalt und Form der Aufgaben ältere Erwachsene länger brauchen sollten, sie zu lösen. In solch einfacher Form jedoch trifft die Hypothese eindeutig nicht zu, denn je nach Inhalt und Komplexität des Geforderten ist eine unterschiedlich starke Verlangsamung zu beobachten.
So hat sich in zahlreichen vergleichenden Untersuchungen gezeigt, daß mit steigender Komplexität der Aufgaben die Altersschere weiter auseinanderklafft. Zugleich hat es sich jedoch als schwierig erwiesen, das Ausmaß an Komplexität anders als rein empirisch (also über die Aufgabenschwierigkeit) zu bestimmen. Eine Kopfrechenaufgabe, bei der man mehrere Zwischenergebnisse ermitteln, behalten und verknüpfen muß, ist sicherlich schwieriger zu bewältigen, als das Ergebnis einer einfachen Addition mit zwei zu multiplizieren. Gefordert wird dabei das sogenannte Arbeitsgedächtnis. In ihm werden nach heutiger Sicht Zwischenresultate von Denkprozessen kurzfristig gespeichert und gleichzeitig mit aufgenommenen oder aus dem Assoziationsgedächtnis abgerufenen Informationen verglichen und kombiniert (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 94). Das Planen eines Schachzuges ist eine typisch anspruchsvolle Aufgabe für das Arbeitsgedächtnis.
Vertreter der Arbeitsgedächtnis-Hypothese nehmen nun an, daß sich entweder Kapazität oder Zuverlässigkeit des Arbeitsgedächtnisses oder beide gemeinsam mit dem Alter verschlechtern. Davon betroffen sollten vor allem komplexe Denkprozesse sein, das heißt das Lösen denk- und gedächtnispsychologischer Aufgaben, bei denen Zwischenergebnisse zu ermitteln und gleichzeitig mehrere Informationen zu berücksichtigen sind.
Zur Untersuchung von Altersunterschieden im Arbeitsgedächtnis wählten Ulrich Mayr und Kliegl, die inzwischen an der Universität von Potsdam tätig sind, an unserem Institut zwei Typen von Aufgaben mit jeweils unterschiedlichen Anforderungen an diese Art Gedächtnis. Beim ersten Typ kam man mit einer mehr oder minder großen Zahl sequentieller Verarbeitungsschritte zum Ziel: Es galt, geometrische Figuren, die in zwei Feldern angeordnet waren, daraufhin zu prüfen, ob sie gleich oder verändert waren. Beim zweiten Aufgabentyp mußte vor dem Vergleichen einzelner Figuren zusätzlich deren Anordnung innerhalb eines Feldes berücksichtigt und verändert werden.
Erwartungsgemäß brauchten ältere Erwachsene durchschnittlich mehr Zeit zum Lösen als junge – bei Aufgaben des ersten Typs etwa 50, bei solchen des zweiten Typs aber sogar etwa 100 Prozent mehr (Bild 4). Das Ausmaß an alternsbedingten Leistungseinbußen nimmt also mit steigenden Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis zu.
Ein weiterer diskutierter übergreifender Parameter des kognitiven Systems betrifft die Fähigkeit, das Gedächtnis zu revidieren, mithin Informationen zu hemmen, die nicht zu der derzeitigen Aufgabe gehören. Älteren Erwachsenen scheint das ebenfalls schwerer zu fallen als jungen.
Dieses Problem, einmal Gelerntes auszuschalten, weil es das Lösen einer aktuellen Denkaufgabe eher erschwert, zeigte sich in einem anderen Versuch mit der Methode der Orte: Ältere Erwachsene erinnerten sich wesentlich öfter als jüngere irrtümlich an zurückliegende Ort-Wort-Kombinationen aus früheren Versuchsdurchgängen. Das passierte ihnen selbst dann, wenn sie es aufgrund leichterer Aufgabenbedingungen (mehr Zeit zum Einprägen der Wortpaare) auf den gleichen Prozentsatz richtig erinnerter Ort-Wort-Kombinationen gebracht hatten wie jüngere (Bild 5). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, daß frühere Gedächtnisinhalte bei alten Menschen verstärkt mit dem Einprägen oder dem Erinnern neuer kollidieren oder mit beiden zugleich. Anscheinend ist es in späteren Lebensabschnitten schwieriger als in früheren, irrelevante Information quasi in den Hintergrund zu drücken – mit der Folge, daß es dann schwerer fallen kann, Neues zu lernen.
Zwar sind auf diesem Gebiet noch viele Fragen offen, doch läßt sich bereits gut vorhersagen, unter welchen Bedingungen Alternsverluste in der Mechanik der Intelligenz besonders deutlich zutage treten werden: bei Aufgaben, die das schnelle Verarbeiten von Informationen verlangen und die zudem hohe Anforderungen an die Koordination von Einzelschritten und das Hemmen irrelevanter, ablenkender Information stellen.
Alternsverluste in der kognitiven Mechanik: Die Rolle der Sensorik
Gemäß dem Zwei-Komponenten-Modell der Intelligenz sollten Veränderungen in den angesprochenen Grundparametern vor allem die biologische Komponente des kognitiven Alterns widerspiegeln. Aus deren wachsender Bedeutung im hohen Alter lassen sich zweierlei Erwartungen ableiten: daß frühere Quellen individueller Unterschiede wie Begabung, Bildung und Beruf an Bedeutung verlieren und daß in dem Maße, wie vormals relativ unabhängig operierende Systeme gemeinsam unter den Druck knapper biologischer Ressourcen geraten, sich ihr Zusammenhang verstärkt.
Letzteres zeigte sich eindrucksvoll an der Beziehung zwischen sensorischen Funktionen und intellektuellen Leistungen im hohen und sehr hohen Alter von 70 Jahren und mehr. Untersucht wurde sie in der Berliner Altersstudie. Dieses interdisziplinäre Projekt, ursprünglich von der Westberliner Akademie der Wissenschaften initiiert und von der Berlin-Brandenburgischen Akademie weitergeführt, leiten einer von uns (Baltes) sowie der Psychiater Hanfried Helmchen von der Freien Universität, der Soziologe Karl Ulrich Mayer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und die Geriaterin Elisabeth Steinhagen-Thiessen von der Humboldt-Universität in Berlin.
Bei sämtlichen 516 Teilnehmern prüfte man einerseits Sehschärfe, Hörvermögen und Gleichgewichtskontrolle (die allerdings auch eine motorische Komponente beinhaltet) sowie andererseits fünf verschiedene intellektuelle Fähigkeiten: mentale Geschwindigkeit, Denkvermögen (im Sinne von induktivem und deduktivem logischem Denken), Merkfähigkeit (Gedächtnis), Wortflüssigkeit und verbales Wissen (Wortschatz). Zum Vergleich haben zwei von uns (Lindenberger und Baltes) dasselbe auch bei einer kleineren Stichprobe Jüngerer getestet (Alter 15 bis 54 Jahre).
In früheren Untersuchungen hatte sich gezeigt, daß in der Spanne zwischen 20 und 70 Jahren nur ein Teil dieser Fähigkeiten (beispielsweise die Geschwindigkeit) nachläßt, der Wortschatz aber im allgemeinen gleich bleibt oder sogar noch wächst. Jenseits von 70 Jahren nehmen nun, wie die Berliner Studie ergab, alle fünf Fähigkeiten ab. Trotz dieses allgemeinen und nicht unbeträchtlichen Verlusts variiert die intellektuelle Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter stark; ein 95jähriger Teilnehmer beispielsweise lag darin deutlich über dem Mittelwert der 70jährigen.
Aus den Forschungen über das jüngere Erwachsenenalter ist bekannt, daß die gemessenen intellektuellen Fähigkeiten relativ wenig damit zusammenhängen, wie gut jemand hört und sieht. Für das hohe Alter sieht das ganz anders aus; hier ergab sich in der Berliner Studie eine außerordentlich hohe Korrelation zwischen sensorischer Leistungsfähigkeit und den erfaßten Intelligenzleistungen. Im Durchschnitt ließen sich mit der Qualität von Sehen und Hören statistisch gesehen 49 Prozent der individuellen Unterschiede in den Intelligenzleistungen unter den Senioren voraussagen; das Alter allein, wenn man Sehen und Hören statistisch konstant hält, sagt lediglich 2,8 Prozent voraus (ein nicht signifikanter Betrag). Bei Personen im frühen und mittleren Erwachsenenalter waren es für die Sensorik dagegen nur 14 Prozent.
Das bedeutet: Im hohen Alter sind die Daten mit einem – wohlgemerkt statistischen – Kausalmodell vereinbar, in dem alternsbedingte Einbußen in der Intelligenz durch individuelle Unterschiede im Sehen und Hören vermittelt werden (Bild 6). Eine statistische Korrelation zwischen zwei Größen bedeutet freilich nicht, daß eine die andere ursächlich bedingt; der Zusammenhang kann ebensogut daher rühren, daß beide von einer dritten gemeinsamen Größe abhängen.
Die geschilderten Ergebnisse gelten für Männer und Frauen gleichermaßen und für Personen mit starken sensorischen Einbußen ebenso wie für demente. Um mangelnde Seh- und Höreigenschaften nicht per se zum Hindernis werden zu lassen, wurden einige der Tests für die Berliner Studie eigens so gestaltet, daß auch von sehr alten und leistungsschwachen Personen valide Meßergebnisse zu erwarten waren; zum Beispiel benutzte man eine sehr große Schrift und einen berührungsempfindlichen Bildschirm.
Gegen die Möglichkeit, daß Sehen und Hören im Alter nur einfach deshalb einen starken Zusammenhang zur Intelligenz aufweisen, weil die verwendeten Tests ohne hinreichende visuelle und auditive Fähigkeiten nicht vernünftig zu bewältigen wären, spricht ein weiterer Sachverhalt: Gleichgewicht und Haltung zeigten eine genauso starke Beziehung zur Intelligenz wie die beiden anderen Sinnesleistungen. Dies traf nicht auf die generelle körperliche Gesundheit zu, die (wahrscheinlich weil es sich dabei nicht um vor allem gehirnbezogene Indikatoren handelt) nur eine geringe Korrelation mit Intelligenzleistungen aufwies.
Wie läßt sich die überraschend hohe Korrelation zwischen Sensorik und Intelligenz bei Hochbetagten erklären? Ursache könnte ein allem zugrundeliegender Alterungsprozeß des Gehirns sein, daß also neuronale Veränderungen sowohl das sensorische wie das kognitive System beeinträchtigen.
Unsere gegenwärtigen Überlegungen konzentrieren sich allerdings auf eine weitere Hypothese; ihr zufolge ist es die immer weniger funktionstüchtige Sensorik, die das kognitive System im fortgeschrittenen Alter zunehmend belastet. Zahlreiche sensorische und motorische Aktivitäten, die sich im frühen und mittleren Erwachsenenalter fast oder völlig automatisch und sehr zuverlässig ausführen lassen, bedürfen im Alter bewußter Steuerung. Handlungen, wie eine Straße bei regem Verkehr zu überqueren, eine Kaffeetasse zum Mund zu führen oder in der Dämmerung Auto zu fahren, verlangen einem durchschnittlichen Hochbetagten mehr an Aufmerksamkeit und bewußter "kognitiver" Koordinierung mit anderen, womöglich gleichzeitigen Tätigkeiten ab als einem durchschnittlichen 25jährigen.
Gemäß unserer Aufmerksamkeits-Belastungs-Hypothese sind ältere Erwachsene also weitaus öfter und stärker als jüngere gezwungen, einen Teil ihrer Aufmerksamkeit und geistigen Kapazitätsreserve in die Regulation und Koordination sensorischer und sensomotorischer Prozesse zu investieren – und dieser Anteil wächst mit dem Alter. Dadurch bleibt immer weniger an Kapazität für spezifische Intelligenzaufgaben übrig. Zugleich sind aber auch die Komponenten des zur Kompensation geforderten Systems – eben Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtniskapazität – selbst zunehmend beeinträchtigt.
In dieser Hinsicht aufschlußreich ist ein Experiment von Elizabeth Maylor an der Universität Cambridge (England). Alte und junge Erwachsene wurden gebeten, Intelligenzaufgaben im Sitzen und im Stehen zu lösen; die älteren kamen bei bloßem Stehen schon leichter ins Schwanken, und wenn sie dabei Aufgaben lösen mußten, verstärkte sich dies noch gegenüber den jüngeren. Offensichtlich gerieten sie dabei in eine sogenannte Doppelaufgaben-Situation.
Es gilt also, bei künftigen Forschungsarbeiten sorgfältig zu unterscheiden, woher Leistungsverluste rühren – von einer Abnahme der geistigen Kapazität oder davon, daß die vorhandene Kapazität zunehmend in mehrere gleichzeitig ablaufende kognitive Prozesse investiert werden muß.
Die Pragmatik der Intelligenz: Beispiel Weisheit
Ein völlig anderes Bild bietet sich bei der kognitiven Pragmatik, der Software des Geistes. Sie umfaßt alles, was menschliche Kultur an faktischem und prozeduralem Wissen über die Welt und die Bedingungen menschlicher Existenz bereithält. Wie jeder Computerspezialist weiß, kann man mit einer guten Software selbst bei relativ ineffizienter Hardware noch vergleichsweise gute Leistungen erzielen.
Geistige Pragmatik äußert sich in vielen Facetten, beispielsweise in Fähigkeiten des Lesens und Schreibens, in beruflicher Expertise oder alltagsrelevanten Fähigkeiten wie der praktischen Intelligenz. Hier zeigt sich wohl am deutlichsten, wie die kulturelle Entwicklung die geistigen Fähigkeiten des einzelnen beeinflußt und wie deren Ausprägung vom Austausch mit anderen Individuen abhängt.
Bei unseren empirischen Untersuchungen zur kognitiven Pragmatik im Alter haben wir (Baltes und Ursula Staudinger) sowie Jacqui Smith uns schließlich vor fast einem Jahrzehnt für Weisheit als geradezu prototypisches Beispiel der pragmatischen Seite des menschlichen Geistes entschieden. Wir wußten, wie problematisch das werden würde: Für die Untersuchung der kognitiven Mechanik existierten zahlreiche experimentelle Zugänge und eine Vielzahl von empirischen Befunden; für die der geistigen Pragmatik hingegen mangelte es an Paradigmen und Ergebnissen. Auch fragt man sich als empirisch arbeitender Wissenschaftler mitunter, ob der empirisch-experimentelle Ansatz überhaupt der Komplexität und dem reichen Bedeutungsfeld eines Konzeptes wie Weisheit gerecht werden kann. Weisheit auf diesem Wege zu untersuchen, scheint vermessen, wir haben es dennoch gewagt, aus mehreren Gründen: Erstens repräsentiert sie den Gipfel menschlicher Erkenntnisfähigkeit und Verstandestätigkeit. Zweitens handelt es sich um ein Merkmal, das in der Alltagsvorstellung bevorzugt älteren Personen zugeschrieben wird. Und drittens beeinflußte uns der damalige Zeitgeist, denn seit den siebziger Jahren beschäftigt sich die Fachwelt auch immer stärker mit der Frage, ob sich eine psychologische Weisheitstheorie formulieren lasse.
Bei den meisten empirischen Untersuchungen zur Weisheit ging es bislang darum zu ergründen, was sie im Alltagsverständnis bedeutet, wie sie sich von Intelligenz unterscheidet oder welches die Merkmale einer weisen Person sind. Wir dagegen interessieren uns eher für die Entwicklung eines empirischen Paradigmas, das weisheitsbezogene Leistungen objektiv zu quantifizieren erlaubt.
Wir definieren Weisheit als Expertenwissen auf dem Gebiet der fundamentalen Pragmatik des Lebens, das zu besonders ausgewogenen Urteilen und fundierten Ratschlägen bei schwierigen Lebensproblemen befähigt, die gleichzeitig mit einem hohen Grad an Ungewißheit verbunden sind. Die dieses Expertentum auszeichnenden Wissensbestände und Fertigkeiten umfassen und ermöglichen Einsichten in die Grundfragen der menschlichen Existenz, ihre biologische Begrenztheit, kulturelle Bedingtheit und intergenerationale Einbettung. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach der Gestaltung und dem Sinn des Lebens.
Altern allein macht nicht schon weise. Abgesehen davon, daß Weisheit – entsprechend der Hochleistungsdefinition – per se etwas Seltenes ist, sind längst nicht alle älteren Personen Lebensbedingungen ausgesetzt und mit Merkmalen ausgestattet, die Weisheitsentwicklung fördern.
Dazu müssen offensichtlich bestimmte begünstigende Faktoren in einer seltenen Kombination zusammentreffen, wobei wir den expertise-spezifischen besondere Bedeutung beimessen (Bild 8). Das sind etwa Anleitung, Übung und Persönlichkeitsdispositionen wie Generativität, also die Motivation, in die nächste Generation hineinzuwirken. Nach unserer Ansicht verlangt die Entfaltung von Weisheit ein hohes Maß an Übung im Umgang mit Fragen der menschlichen Existenz und der Mannigfaltigkeit von Lebensverläufen. Erfahrungen mit besonderen historischen Konstellationen, wie etwa der Hitler-Diktatur oder dem deutschen Einigungsprozeß, und deren Verarbeitung werden als nicht minder bedeutsam angesehen. Ferner postulieren wir, daß Erfahrungen mit guten Mentoren und der eigenen Bewährung als Mentor eine besonders gewichtige Rolle spielen. Außerdem sind bestimmte Berufe oder berufliche Spezialisierungen günstiger für den Erwerb von Lebensweisheit.
Alter ist aber aus mindestens zwei Gründen der Weisheitsentwicklung förderlich. Zum einen erfordern das Herausbilden und allmähliche Ineinandergreifen der verschiedenen begünstigenden Faktoren Zeit sowie Erfahrung mit den unterschiedlichsten Lebensbedingungen; mit zunehmendem Alter gibt es einfach rein quantitativ mehr Möglichkeiten, daß solche Faktoren zusammentreffen und Weisheit in dem von uns definierten Sinn entstehen kann. Zum anderen kommen bestimmte Aspekte der Persönlichkeits- und der geistigen Entwicklung (wie etwa Generativität) erst im Erwachsenenalter voll zur Entfaltung.
Allerdings darf man wegen des überproportional stärkeren Leistungsabbaus in der kognitiven Mechanik betagter Menschen nun nicht erwarten, daß weisheitsbezogenes Wissen und Urteilsfähigkeit bis zum Lebensende stetig zunimmt. Die mit dem Alter sich verstärkenden Leistungsverluste in der kognitiven Mechanik setzen der Quantität und Qualität des weisheitsbezogenen Wissens und Vermögens ab einem bestimmten Punkt mit hoher Wahrscheinlichkeit Grenzen. In unseren bisherigen Studien scheint dieser für die meisten so um das achtzigste Lebensjahr zu liegen.
Im einzelnen haben wir fünf Bewertungskriterien entwickelt, die weisheitsbezogenes Wissen und die entsprechen-de Urteilsfähigkeit näher kennzeichnen (Bild 7). Zwei davon – reiches Fakten- sowie Strategienwissen – bilden sogenannte Basiskriterien und sind aus allgemeinen Theorien zu Expertensystemen abgeleitet. Die drei anderen bezeichnen wir als Metakriterien; sie beziehen sich auf spezifische Elemente weisheitsbezogener Urteile und Äußerungen.
Bei unserem Bemühen, Weisheit empirisch, also im Sinne einer Leistungsfähigkeit, zu erfassen, verwenden wir Konzepte und Methoden aus der Kognitionspsychologie und der Experten-Forschung. Wir konfrontieren unsere Untersuchungsteilnehmer mit Lebensproblemen wie: "Stellen Sie sich vor, jemand erhält einen Anruf von einem guten Freund und dieser sagt, er hätte es sich gut überlegt, er würde nicht mehr zurechtkommen und wolle sich das Leben nehmen. Was sollte man in einer solchen Situation bedenken und tun?" (Kasten oben auf dieser Seite). Oder: "Ein fünfzehnjähriges Mädchen will unbedingt sofort heiraten. Was sollte man beziehungsweise das Mädchen in einer solchen Situation bedenken und tun?" Zunächst bekommen die Teilnehmer Zeit, sich an den Umgang mit solchen Fragestellungen und der Methode des lauten Denkens zu gewöhnen. Dann werden sie gebeten, dies für das jeweilige Problem zu tun. Ihre Antworten werden auf Tonband aufgenommen und anhand der fünf Weisheitskriterien beurteilt und bewertet. Für eine hohe Einstufung auf der Weisheitsskala müssen in allen fünf Kriterien gleichzeitig hohe Werte erreicht werden (Kasten unten auf dieser Seite).
In einem ersten Schritt interessierte uns der Zusammenhang zwischen Lebensalter und weisheitsbezogenen Leistungen. Dazu haben wir Aufgaben entwickelt, die verschiedene Dimensionen abdecken. Zum einen sind das solche zur Planung und Bewältigung des Lebens sowie zum Lebensrückblick, zum anderen solche, die sich unterschiedlich stark auf das jüngere beziehungsweise auf das höhere Erwachsenenalter beziehen. Und schließlich variieren die Aufgaben in bezug auf die Existentialität und damit auf das Ausmaß, mit dem sie unserer Meinung nach Weisheit für ihre Bearbeitung herausfordern.
Nicht gänzlich unerwartet präsentiert das Alter hier sein anderes Gesicht: Bei weisheitsbezogenen Leistungen als Paradebeispiel kognitiver Pragmatik fand sich kein wesentlicher Altersabbau; verglichen wurden Personen zwischen 25 und 90 Jahren, die keine erkennbare Demenz aufwiesen (Bild 9). Dies gilt auch für den Bereich der Hoch- und Spitzenleistungen; bei den obersten 20 Prozent aller Personen – jenen mit den qualifiziertesten Antworten auf unsere Weisheitsaufgaben – waren Sechzig- und Siebzigjährige ebenso stark vertreten wie jüngere Menschen. Als überlegen erwiesen sich die Älteren besonders dann, wenn die zu bearbeitende Lebensfrage sich weitgehend auf ihren eigenen Altersbereich bezog.
Wie sehen nun weisheitsbezogene Leistungen aus, wenn in einer Person höheres Alter, bestimmte Persönlichkeitscharakteristiken sowie Lebenserfahrung zusammenkommen? Zur Untersuchung dieser Frage haben wir jüngeren und älteren klinischen Psychologen sowie Personen aus anderen akademischen Berufsgruppen eine Aufgabe zum Lebensrückblick gestellt. Klinische Psychologen, so unsere Annahme, hatten durch Ausbildung und Praxis wahrscheinlich mehr Anleitung und Erfahrung im Umgang mit schwierigen Lebensproblemen als Angehörige anderer, nicht sozial orientierter Berufsgruppen. Tatsächlich stellten die älteren und somit erfahreneren Psychologen (Durchschnitt 71 Jahre) den größten Anteil unter den 20 Prozent Personen mit qualifiziertesten Antworten und waren im Schnitt mindestens ebenso gut wie die jungen Kollegen.
In einer weiteren Studie ist es uns gelungen, einen ebenfalls besonderen Personenkreis einzubeziehen. Für ein aufwendiges zweistufiges Auswahlverfahren wurde eine Gruppe angesehener Berliner Journalisten aus verschiedenen Medien und mit unterschiedlicher politischer Orientierung gebeten, zunächst individuell Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben der Stadt zu benennen, die der einzelne als weise einschätzte; in einem zweiten Schritt hatte die Gruppe sich als Ganzes darauf zu einigen, wem davon sie ein hohes Ausmaß an Lebensweisheit zubilligte. Die Sonderstellung dieses schließlich viel kleineren Kreises Nominierter ist auch daraus zu ersehen, daß 59 Prozent Autobiographisches veröffentlicht haben und 41 Prozent im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen sind. Das Durchschnittsalter der 22 für die Studie gewonnenen Personen lag bei 67 Jahren (jüngste 41, älteste 88 Jahre). Angehörige akademischer Berufe aus zwei verschiedenen Altersklassen (eine niedrigere und eine höhere) sowie ältere klinische Psychologen stellten die Vergleichsgruppen.
Wie erwartet, schnitten die älteren, als weise nominierten Personen sehr gut ab, und zwar im Mittel ebenso gut wie die älteren klinischen Psychologen. Und damit erwiesen sie sich ebenfalls als signifikant besser als die beiden Kontrollgruppen der jungen und älteren Erwachsenen, die ihnen nach Bildung und Berufsstand vergleichbar waren (Bild 10). Bis zu einem Alter von 75 waren, betrachtet man nur die hochwertigen Antworten, die als weise nominierten Personen an der Spitze überproportional vertreten; sie erbrachten somit mehr Höchstleistungen als irgendeine der anderen Gruppen, einschließlich der klinischen Psychologen. Besonders gut antworteten sie auf das Selbstmordproblem, nach unserer Einschätzung die am stärksten Weisheit herausfordernde Aufgabe. Die klinischen Psychologen hingegen waren eher bei der Aufgabe zur Lebensplanung überlegen. In solchen Untersuchungen zum Wissen und Urteilen in grundlegenden Fragen des Lebens erschließt sich exemplarisch das sich mit zunehmendem Alter entfaltende Potential der geistigen Pragmatik.
Auch in Untersuchungen anderer Forschergruppen – etwa zur Bedeutung beruflicher Spezialisierung und Übung, zur praktischen Intelligenz, zum Problemlösen im Alltag sowie zum strategischen Umgang mit den Höhe- und Tiefpunk-ten des Lebens und mit den Lasten des Älterwerdens – finden sich Hinweise darauf, daß viele Menschen bis ins fortgeschrittene Alter imstande sind, ihre Vorstellungen von der Welt und ihre Bewältigungsstrategien weiterzuentwickeln und neuen Realitäten anzupassen. Diese Phänomene könnten ebenfalls mit Weisheit zusammenhängen; auf jeden Fall repräsentieren sie weitere Formen dessen, was wir kognitive Pragmatik nennen.
Wir wissen nun, daß trotz einer beträchtlichen Reserve, die sich in Trainingsgewinnen äußert, die Mechanik der Intelligenz vor allem bei Höchstleistungen alternsbedingte Grenzen aufweist. Der Alternsverlust ist, was etwa Schnelligkeit und Genauigkeit des Arbeitsgedächtnisses angeht, recht beträchtlich, vom ungfähr 70. Lebensjahr an weit verbreitet und auch durch intensive Übung nicht voll korrigierbar. Gleichzeitig kann es jedoch in der wissensbezogenen Pragmatik der Intelligenz bis ins hohe Alter Stabilität und selbst Fortschritt geben. In Problemsituationen, die so etwas wie Lebenswissen und Weisheit erfordern, zeigt sich die bessere Seite des Alters: Ältere Menschen gehören hier zu jenen mit den höchsten Leistungen.
Die von Kulturanthropologen betonte Kluft zwischen Körper und Geist wird sicherlich im Alter zunehmend größer. Dennoch sollte das früher in der Gerontologie übliche Modell eines generellen, fortschreitenden geistigen Abbaus der Vergangenheit angehören. Struktur und Funktion des alternden Geistes erweisen sich als sehr viel komplexer und differenzierter. Janus-gleich muß man als Forscher in verschiedene Richtungen blicken können, um Vereinfachungen zu vermeiden. Grenzen, aber auch neue Möglichkeiten, Verluste, aber auch Zugewinn machen erst das vollständige Bild des alternden Geistes aus. Es ist Aufgabe und Herausforderung künftiger Forschung, das produktive Zusammenspiel dieser Faktoren aufzuzeigen und dadurch zur Entwicklung einer besseren Kultur des Alterns beizutragen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 52
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