Diskonnektom: »Alles ist mehr oder weniger verbunden«
Frau Forkel, in vielen Lehrbüchern finden sich Hirnkarten, auf denen kognitive Funktionen wie Sprache oder bestimmte Emotionen einzelnen Hirnarealen zugeordnet sind. Entspricht das noch dem aktuellen Stand der Forschung?
Ja und nein. Es gibt nach wie vor alte Karten, die sehr zutreffend sind. Dort wird zu Recht eine Funktion einer definierten Region zugeschrieben, und zwar bei den Primärarealen. Das sind unter anderem das visuelle und das auditorische System sowie der somatosensorische Kortex. Es gibt beispielsweise ein Areal, das für die Hand zuständig ist, eines für die Zunge und so weiter. Sobald wir aber höhere kognitive Funktionen wie Sprache oder Bewusstsein betrachten, wird es deutlich komplizierter. Fachleute konnten sich bisher in solchen Fällen noch nicht einmal auf eine gemeinsame Definition des Konzepts einigen. Eine Eins-zu-eins-Zuordnung zu einer speziellen Hirnregion ist hier undenkbar. Das nennt man in der Fachwelt das »Mapping-Problem«.
Stephanie Forkel
ist Forschungsgruppenleiterin für klinische Neuroanatomie am Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour und außerordentliche Professorin für Psycholinguistik an der Radboud-Universität im niederländischen Nimwegen. Sie leitet die Themengruppe »Sprache und Kommunikation«, die sich über drei Forschungsinstitute mit insgesamt 18 Teams erstreckt. Die Mitglieder befassen sich mit allen Aspekten der Sprache – von der Psycholinguistik und Genetik bis hin zu den neurobiologischen Grundlagen der Kommunikation. 2023 erhielt sie den renommierten Elizabeth-Warrington-Preis für ihre herausragenden Arbeiten im Bereich Neuroanatomie und Kognition. Sie hat einen Wissenschaftskanal auf Youtube, in dem sie die Arbeit ihrer Gruppe und anderer Teams aus diversen Bereichen vorstellt und bespricht: https://www.youtube.com/@CNSeminars.Woran liegt das?
Funktionen wie Sprache sind unglaublich komplex. Denn man benötigt zum Sprechen sehr viele unterschiedliche Fertigkeiten: Man muss die grammatikalische Struktur von Sätzen kennen, die Bedeutung der Wörter verstehen und wissen, wie ein Wort oder ein Teil davon klingt. All diese Elemente muss das Gehirn blitzschnell zusammenfügen. Und dazu rekrutiert es ganz verschiedene Hirnareale, die über die weiße Substanz verbunden sind.
Die wohl bekanntesten sind das Broca- und das Wernicke-Areal.
Genau. Dem klassischen Modell von Sprache zufolge ist das Broca-Areal im Frontalhirn für das Artikulieren notwendig. Das Wernicke-Areal im Temporalhirn benötigen wir, um Gesprochenes zu verstehen. Diese zwei Regionen müssen miteinander verbunden sein, damit wir reden und verstehen können. Allerdings umfasst Sprache noch viel mehr als die beiden Fertigkeiten. Denn zum Beispiel hängt das Verständnis stark von den Erfahrungen ab, die wir bisher im Leben gemacht haben.
Die beiden Areale sind relativ weit voneinander entfernt. Wie kann ein so rascher Austausch gelingen?
Zwischen Broca- und Wernicke-Areal liegen etwa zehn Zentimeter, je nachdem, wie man sie verbindet. Die Kommunikation zwischen ihnen ermöglicht die weiße Substanz. So nennt man den Bereich des Gehirns, der die Axone, also Nervenfasern, enthält. Er setzt sich optisch von der grauen Substanz ab, die die Zellkörper umfasst. Die weiße Farbe kommt durch die fettreiche Isolierschicht zu Stande, welche die Axone umgibt, das Myelin. Es gewährleistet auch das unglaubliche Tempo der Nervenaktivität.
Über welche Geschwindigkeit reden wir hier?
Rund 300 Stundenkilometer – die Höchstgeschwindigkeit eines ICEs, aber eben auf einer Strecke von zehn Zentimetern.
Den Nervenfasern der weißen Substanz schenkte man in der Vergangenheit deutlich weniger Beachtung als den Bereichen der grauen Substanz, die durch sie verbunden sind. Dabei haben die Fasern sogar noch andere Funktionen als reine Signalübertragung. Welche?
Sie geben dem Gehirn beispielsweise seine Struktur. Zudem dienen sie als eine Art Wegbereiter für neue Funktionen.
Das müssen Sie erklären.
Es gibt in den Neurowissenschaften das Sprichwort »Function follows form«. Das bedeutet in Bezug auf die weiße Substanz: Wenn während der Kindheitsentwicklung neue Verbindungen im Gehirn geknüpft werden, wächst zuerst die weiße Substanz in eine Region ein, und erst danach führt das Areal seine neue Funktion aus. Das Visual-Word-Form-Areal ist so ein Beispiel. Es hilft uns dabei, geschriebene Worte optisch als solche zu erkennen. Im sich entwickelnden Gehirn werden Nervenfasern von den visuellen Arealen in diese Region ausgesandt. Per funktioneller Magnetresonanztomografie, kurz fMRT, kann man sehen, dass erst anschließend die neue Funktion – also das Erkennen von Wörtern – zur Verfügung steht.
Wie macht man solche Verbindungen sichtbar?
Es gibt ganz verschiedene Methoden, je nachdem, welche Spezies man sich anschaut. Bei Versuchstieren kann man zum Beispiel so genannte Tracing-Untersuchungen machen. Hierbei injiziert man radioaktiven Farbstoff, Tracer genannt, der sich in den Nervenzellen anreichert und entlang der Axone ausbreitet. Man schaut dann mittels histologischer Verfahren, wie er sich im Gehirn verteilt, und kann so feststellen, welches Areal mit welchem verbunden ist. Das kann man beim Menschen allerdings nicht machen.
Was wäre hier ein gangbarer Weg?
Für den Menschen stehen nur zwei Methoden zur Verfügung ...
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben