Direkt zum Inhalt

Dispersionskolloide zum Schützen und Veredeln von Oberflächen


Hinter der nüchternen Definition für Dispersionskolloide – Systeme aus fein verteilten kristallinen oder amorphen Festkörpern in einem flüssigen Medium – dürfte kaum jemand vermuten, welch große Rolle sie in unserem Alltag spielen (Bild 1). So verleihen sie dem Papier, mit dem wohl jeder täglich umgeht, nicht nur durch die Leimung der Fasern die erforderliche Gebrauchsfestigkeit, sondern in Form zugesetzter Füllstoffe und Pigmente auch eine glatte Oberfläche sowie das weiße oder gegebenenfalls farbige Aussehen.

Ihr größtes Anwendungsgebiet ist allerdings die Lackierung. Von wäßrigen Holzschutzlasuren über Dispersionsfarben für das Bauwesen bis hin zu Pulverlacken für Haushaltsgeräte oder hochwertigen Spritzlacken zum Schutz und zur ästhetischen Gestaltung von Fahrzeugen bilden Dispersionskolloide die Grundlage einer breiten Palette von Produkten, die teils sehr unterschiedlichen Anforderungen genügen.

In der Kunststoff- und Textilfärbung sorgen oft spezielle thermoplastische (in der Wärme erweichende) Dispersionskolloide, sogenannte Präparationen, für eine schnelle, gleichmäßige und stabile Färbung von Fasern und Kunststoffteilen. Auch Druckfarben für Papier bestehen aus Dispersionskolloiden. Obwohl sie prinzipiell ähnlich aufgebaut sind wie Lacke, benötigen sie freilich ganz andere Eigenschaften. So kommt es im Zeitungsdruck (Offsetverfahren) selbstverständlich nicht auf hohe Witterungsbeständigkeit an – dafür aber auf Schnelligkeit. Bei Druckgeschwindigkeiten von 80 Kilometern pro Stunde und mehr muß die Farbe augenblicklich haften, ohne zu verlaufen oder sich mit anderen Farben zu mischen.

Außer diesen alltäglichen Einsatzgebieten gibt es noch eine Reihe speziellerer Anwendungen. So entfalten Katalysatoren ihre beschleunigende Wirkung auf chemische Reaktionen oft erst dann optimal, wenn sie in einem Medium fein dispergiert werden, so daß sie eine möglichst große Oberfläche haben. Ebenso sind Wirkstoffe in Pharmazeutika und Agrochemikalien für den Pflanzenschutz vielfach nur dann anhaltend wirksam, wenn sie nicht in gelöster Form, sondern als Dispersionskolloid vorliegen – ein Medikament zum Beispiel in einer Salbe, einem Sirup oder einem Zäpfchen. Bei den informationsspeichernden Beschichtungen von Magnetbändern, Disketten und Festplatten handelt es sich gleichfalls um Dispersionskolloide mit den Magnetpigmenten als dispergierten Teilchen.


Oberflächenmodifikation der Pigmentteilchen

In vielen Anwendungsgebieten gibt es heute zum Teil tiefgreifende Veränderungen. So erfordern der weltweite Trend zu chlorfreiem Papier einerseits und der vermehrte Einsatz aller Arten von Altpapieren andererseits Anpassungen in den Herstellungsverfahren, um trotz des erhöhten Anteils von Fasern schlechter Qualität gebrauchstüchtiges Papier zu gewinnen. Bei Lacken und Druckfarben sucht man den Gehalt an Lösungsmittel zu reduzieren oder es durch Wasser zu ersetzen. In der Elektrophotographie schließlich motiviert der Markterfolg kompakter, preiswerter Laserdrucker und leistungsfähiger Farbkopierer zur Suche nach immer neuen, verbesserten Tonersystemen. Sollen die Eigenschaften von Dispersionskolloiden gezielt verändert werden, muß man vor allem die enthaltenen Feststoffteilchen modifizieren, weil sie das Verhalten des Gesamtsystems wesentlich bestimmen. Dies läßt sich am Beispiel der Lacke verdeutlichen, die insofern besonders komplexe Systeme sind, als sie außer den Pigmenten und dem Lösungsmittel noch ein Polymer (beispielsweise Polyurethane oder das Naturharz Kolophonium in Druckfarben) als Bindemittel enthalten. Diese drei Komponenten müssen, damit sie sich miteinander vertragen, in ihrem chemischen Charakter aufeinander abgestimmt werden. In der Regel sind anorganische Teilchen wie Titandioxid polarer (haben eine höhere Ladungsdichte an der Oberfläche) als organische – beispielsweise Phthalocyanine. Deshalb kann man letztere besonders gut in unpolaren organischen Lösungsmitteln (beispielsweise Kohlenwasserstoffen) und Polymeren dispergieren. Dagegen wird Titandioxid in wäßrigen Polymerdispersionen besser benetzt (Wasser ist ein stark polares Lösungsmittel). Um dieses Weißpigment auch in unpolaren Lacken einsetzen zu können, muß man seine Oberflächenladungen so verändern, daß seine Polarität abnimmt; nur dadurch läßt sich verhindern, daß sich die Pigmente zusammenlagern und ausflocken. Ebenso große Bedeutung hat freilich die äußere Form der Pigmentteilchen. Sie beeinflußt nicht nur die optische Wirkung, sondern vor allem auch das Fließverhalten eines Lackes. So bilden nadelförmige Teilchen unter dem Einfluß einer Scherkraft leicht sperrige Netzwerke, wodurch die Viskosität zu- und die Streichfähigkeit abnimmt, während kugel- oder würfelförmige Partikel problemlos aneinander vorbeigleiten. Des weiteren beeinflussen Größe und Anzahl der Teilchen in einer Dispersion die Art und Stärke der Wechselwirkungen mit Lösungsmittel und Polymer. Die Kantenlänge von Pigmenten bewegt sich normalerweise im Bereich von 0,05 bis 5 Mikrometern. Dadurch spielt die Gravitation praktisch keine Rolle mehr, und das Verhalten der Kolloidteilchen wird weitgehend von den Eigenschaften der Grenzflächen bestimmt. Aufgabe des Festkörper- oder Pigmentchemikers ist es also, ausgehend vom Molekül die Festkörpereigenschaften und das Grenzflächenverhalten in eine gewünschte Richtung zu lenken. Das kann durch Modifikation von Kristallform oder -gitter oder durch Abwandlung der Oberfläche geschehen. Um die Kristallform zu steuern, muß man das Wachstum von Molekülkristallen gezielt in einer der Raumachsen beeinflussen. Zum Beispiel können Phthalocyanine oder Perylentetracarbonsäurediimide je nach Molekülstruktur und Kristallgitter in Nadel- oder Plättchenform kristallisieren (Bild 2). Weil Nadeln in Lacken jedoch, wie erwähnt, die Fließ- und Streichfähigkeit beeinträchtigen, unterdrückt man ihre Bildung durch maßgeschneiderte Zusätze (Additive). Als solche dienen Substanzen, die sich aufgrund ihrer molekularen Struktur fest an eine der Kristallflächen binden und damit verhindern, daß sich weitere Farbstoffmoleküle dort anlagern; in dieser Richtung kann der Kristall dann nicht weiterwachsen (Bild 3). Bei Phthalocyanin-Pigmenten eignen sich dafür beispielsweise Phthalocyanin-Sulfonsäurederivate. Mit Additiven kann man zugleich auch die Oberflächeneigenschaften von Pigmenten ändern, um sie beispielsweise an neue Lacksysteme anzupassen. So verwendet die Automobilindustrie zunehmend lösungsmittelarme oder wasserhaltige Lacke. Mit der Konzentration der Pigmente steigt aber ihre Wechselwirkung und damit die Neigung, sich zu größeren Verbänden zusammenzulagern; die Folge sind Trübungen, Farbeinbußen und höhere Viskosität. In hochpolaren Wasserlacken betrifft dies besonders unpolare Pigmente. Um sie am Koagulieren zu hindern, muß man ihre Oberfläche wasserfreundlicher gestalten. Dies läßt sich mit Additiven erreichen – beispielsweise mit Maleinsäureanhydrid-Molekülen, die einen kurzen Schwanz aus miteinander verknüpften Olefinen tragen. Die unpolare Kohlenstoffkette lagert sich dann an der Pigmentoberfläche an, während die polaren Säuregruppen für die Verträglichkeit mit dem Wasser sorgen. Neuerdings kann man unpolare kristalline Festkörper auch durch Plasmabehandlung wasserfreundlicher machen. Dabei wird das Pigmentpulver bei niedriger Temperatur einem hochionisierten Gas wie Ammoniak oder Sauerstoff ausgesetzt. Dieses reagiert mit der Pigmentoberfläche und erzeugt dort Amino- oder Hydroxylgruppen, welche die Polarität erhöhen (Bild 4). Noch ist diese elegante und umweltfreundliche Methode allerdings nicht über das Laborstadium hinausgekommen.

Crystal Design kontra Trial and Error

Für die Steuerung der Grenzflächenphänomene über chemische Zusammensetzung, Kristallgitter, Teilchenform, Polarität und Oberflächenladungen habe ich die Bezeichnung funktionale Morphologie vorgeschlagen. Die meisten Methoden dazu wurden in der Vergangenheit empirisch durch Versuch und Irrtum entwickelt. Wegen der enormen Leistungssteigerung bei den Computern lassen sich mittlerweile aber auch für Festkörper quantenmechanische Rechnungen durchführen. Dies eröffnet der funktionalen Morphologie vielversprechende neue Möglichkeiten, die in Schlagworten wie Solid State Modelling, Crystal Engineering oder gar Crystal Design zum Ausdruck kommen. Rein rechnerisch kann man heute für beliebige existierende oder auch hypothetische Moleküle unter anderem ihre mutmaßliche Packungsdichte im Festkörper, ihre Orientierung im Kristallgitter, die elektronischen Zustände des Kristalls und die Ladungsverteilung vorhersagen; diese Größen erlauben dann im Prinzip auch Rückschlüsse auf die zu erwartende Kristallform und die Grenzflächeneigenschaften. Doch gerade der entscheidende letzte Schritt – die Ableitung der bevorzugten Kristallform aus einer Analyse der Oberflächenenergien für hypothetische Kristallflächen – gelingt derzeit noch nicht zuverlässig genug. Deshalb müssen die Ergebnisse der Rechnungen, soweit das möglich ist, experimentell überprüft werden. Tatsächlich sind viele Parameter zur Charakterisierung eines Kristalls und seiner Grenzflächeneigenschaften auch über die Einkristall-Röntgenstrukturanalyse zugänglich; allerdings eignen sich die mikro- bis nanokristallinen Pigmente mit ihrer Vielfalt an Kristallmodifikationen oftmals schlecht für diese Untersuchungsmethode. Obwohl im Augenblick also noch wichtige Elemente zu einem vollständigen und zuverlässigen Crystal Design fehlen, ist die Vision, daß der Pigmentchemiker über die molekulare Charakterisierung einer Kristallfläche et-wa direkt das passende Additiv findet, nicht mehr allzu weit von der Realität entfernt. Statt einem Pigmentkristall durch geeignete Additive die gewünschte Wuchsform aufzuzwingen, kann man allerdings auch farblosen oder farblich unattraktiven Kristallen, die natürlicherweise bereits in der richtigen Form entstehen, durch Beschichten eine gewünschte Färbung geben. Eine elegante Methode dazu ist die erst jüngst entwickelte chemische Abscheidung aus der Dampfphase, meist kurz CVD genannt (nach englisch chemical vapor deposition). Dabei setzt man die Partikel – beispielsweise Aluminiumplättchen, Glasflakes oder Glimmer – im Wirbelbett einem Gasgemisch aus, das bei genügend hoher Temperatur zu einem festen oder flüssigen Produkt reagiert; dieses schlägt sich dann in gleichmäßigen Schichten auf den Feststoffteilchen nieder (Bild 5). Mit Eisencarbonyl und Sauerstoff kann man auf diese Weise beispielsweise Eisenoxidschichten auf Aluminiumplättchen erzeugen. Weil dabei nur das leicht entfernbare Kohlenmonoxid (CO) freigesetzt wird, ist das Verfahren zugleich ausgesprochen umweltfreundlich. Interessanterweise kann die Beschichtung in Verbindung mit der Plättchenform der Partikel aber auch ganz unerwartete Effekte hervorrufen. Plättchen haben nämlich die Tendenz, sich in einem Lackfilm parallel zur Oberfläche auszurichten (Bild 5 rechts). Dadurch kommt es zusätzlich zur normalen Absorption und Streuung von Licht zu spiegelnder Reflexion, der wegen der äußerst geringen Dicke der Beschichtung zudem eine Interferenz überlagert ist. Infolgedessen variieren Helligkeit und Farbeindruck mit dem Betrachtungswinkel. Es entsteht ein changierender Seidenglanz, der noch edler wirkt und effektvoller ist als das metallische Glitzern von Metallic-Lackierungen. Die BASF vertreibt solche Effektpigmente unter dem Namen Paliocrom®. Damit ist das Potential der CVD-Methode aber noch keineswegs erschöpft. Durch geeignete Beschichtungen kann man zum Beispiel magnetische und elektrisch leitfähige Füllstoffe erzeugen oder Pigmente, die durch Infrarot-Reflexion zur Wärmeisolierung beitragen. Schließlich läßt sich durch Beschichten der sogenannten Carrier auch die Qualität von Laserdruckern und Kopierern weiter verbessern. Carrier sorgen dafür, daß der Toner aus der Vorratskartusche an das elektrostatisch erzeugte latente Bild auf der Photoleitertrommel transportiert wird und an der richtigen Stelle am Papier haftet. Gewöhlich handelt es sich um Stahl-, Kunstharz- oder Glaskügelchen von etwa 0,1 Millimeter Durchmesser, die durch Reibung elektrisch aufgeladen werden. Dieser triboelektrische Effekt, der die Druckqualität entscheidend mitbestimmt, läßt sich mittels CVD optimal auf den Toner und das Ladungsvorzeichen des latenten Bildes abstimmen. Ein günstiger Nebeneffekt ist, daß die zerklüftete Oberfläche der Carrier geglättet und dadurch ihr Reibungswiderstand verringert wird, so daß sie auch länger haltbar sind.

Ausblick

Schon diese ausgewählten Beispiele illustrieren nicht nur die Bedeutung der Dispersionskolloide in vielen Lebensbereichen, sondern machen auch deutlich, wie neue chemische Konzepte und Verfahren gewährleisten, daß die Produkte den aktuellen ökologischen Anforderungen immer besser genügen. Als wichtigste Aufgabe gilt es herauszufinden, wie sich die funktionale Morphologie der kolloidalen Partikel gezielt dem jeweils gewünschten Eigenschaftsprofil anpassen läßt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1994, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.