Editorial: Aus der Zeit gefallen
Irgendwann zwischen 70 und 60 v. Chr. ging vor der griechischen Insel Antikythera, einem winzigen Eiland zwischen Kreta und der Peloponnes, ein Schiff unter. Eigentlich ist das keine besondere Nachricht, Reste antiker Schiffswracks finden sich im Mittelmeer reichlich. Ungewöhnlich an diesem Fall war die Ladung: Neben einer Reihe einzigartiger Skulpturen fand sich bei der Bergung im Jahr 1900 ein seltsamer Klumpen zusammenkorrodierter Metallteile, die zum Teil wie fein gearbeitete Zahnräder aussahen. Bis zu diesem Zeitpunkt galten solche Präzisionsbauteile aus Metall aber als eine wesentlich spätere Erfindung, eigentlich erst der Renaissance. Den Apparat hätte es demnach gar nicht geben dürfen!
Die Spekulationen schossen ins Kraut: Handelte es sich dabei vielleicht um eine Rechenmaschine, also eine Art antiken Vorläufer des Computers? Womöglich gar um einen Beweis für den Besuch von Aliens auf der Erde – oder eher doch um eine Fälschung? Ausführliche Untersuchungen über die Jahrzehnte kamen zum Schluss, dass der Mechanismus tatsächlich mehr als 2000 Jahre alt ist, vermutlich aus Rhodos stammt (also nicht etwa vom Mars oder von Alpha Centauri) und dazu diente, die Bewegungen von Erde, Sonne und Mond zu modellieren sowie deren Positionen zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit oder Zukunft darzustellen.
Neuere Durchleuchtungen der Überreste mit modernsten Computertomografen brachten weitere Funktionen ans Licht, wie Tony Freeth vom Antikythera-Forschungsteam des University College London in unserem Titelthema ab S. 12 berichtet. Er analysiert den Fund seit mehr als 20 Jahren und stellt hier den aktuellen Wissensstand vor. Denn die Maschine wartet immer wieder mit weiteren Überraschungen auf: Sie konnte beispielsweise auch Sonnen- und Mondfinsternisse anzeigen und nutzte einen sehr effizienten Mechanismus. Und die Planetenbewegungen basierten auf viel präziseren Daten, als man bisher aus der Antike kannte. Auch in dieser Hinsicht wirkt das immer noch in Teilen rätselhafte Gerät wie von einer Zeitmaschine zurückgelassen – und wird weiterhin die Fantasie der Menschen anregen, die sich damit beschäftigen.
Herzlich Ihr
Hartwig Hanser
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