Editorial: Die Krux mit der weißen Weste
Ich bin heute Morgen mit dem Fahrrad im strömenden Regen zur Arbeit gefahren, habe Bio-Müsli mit Äpfeln aus dem eigenen Garten gegessen und mich freundlich nach dem Befinden meiner Kollegen erkundigt. Mein Moralkonto könnte kaum praller gefüllt sein. Darf ich mir also nachher in der Kantine guten Gewissens eine Currywurst genehmigen? Oder der Oma im Supermarkt den letzten Einkaufswagen wegschnappen? Welchen Lapsus kann ich mir leisten, um ethisch gerade noch so im Plus zu bleiben?
Was hier etwas überspitzt gezeichnet ist, passiert uns allen hin und wieder: Hat man etwas Gutes getan, erlaubt man sich eher eine Verfehlung. Psychologen nennen dieses Phänomen »moralisches Lizensieren«. Es tritt vor allem dann auf, wenn der soziale Druck besonders hoch ist. Mein Kollege Steve Ayan hat sich des Paradoxes ab S. 24 angenommen. In seinem Artikel erklärt er, warum das Pendel zwischen Gut und Böse meist hin- und herschwingt und wie man die Tendenz, edle Taten durch Nachlässigkeiten zu kompensieren, abschwächen kann.
Mit dieser »Gehirn&Geist«-Ausgabe starten außerdem gleich zwei neue Serien. Unsere Titelgeschichte stellt den Auftakt zum dreiteiligen Themenkomplex »Das formbare Gehirn« dar, in dem es um die Wandlungsfähigkeit unserer grauen Zellen geht. Im ersten Teil schildert die Neurowissenschaftlerin Anna-Sophia Wahl, wie das Gehirn sich selbst repariert und warum man nach Hirnschäden, etwa durch einen Schlaganfall, nicht zu früh mit der Reha beginnen sollte (ab S. 12).
Die zweite Serie widmet sich einer neurologischen Erkrankung, die rund 15 Prozent aller Frauen und 6 Prozent der Männer betrifft: Migräne. Ab S. 64 erfahren Sie, welche Bedeutung die Geschlechtshormone für die schmerzhaften Attacken haben und welche Mittel dagegen helfen.
Eine gute Lektüre wünscht
Ihre Anna von Hopffgarten
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