Editorial: Die Wurzeln des Wir-Gefühls
Ein schönes Souvenir aus meinem Italienurlaub war die Begegnung mit jenem Pizzabäcker, der mir beim Bezahlen in seinem Laden bedeutete, wir seien ja doch Freunde. Auf meine verdutzte Nachfrage hin erklärte er, nun – "wir Italiener und ihr Franzosen" müssten in der Eurokrise zusammenhalten gegen die arroganten Deutschen! (Mein merkwürdiger Akzent verleitet Italiener offenbar leicht zu dem Irrtum, ich könne kein Teutone sein.) "Aber ... ich bin gar nicht Franzose", erwiderte ich amüsiert, "sondern Deutscher!" Darauf erklang ein entsetztes "Oh, mamma mia!" – ehe wir gemeinsam in Gelächter ausbrachen.
Diese Episode kam mir ins Gedächtnis, als ich das Titelthema der vorliegenden Ausgabe las. Autor Thomas Grüter skizziert darin ab S. 42, wie tief das Gruppendenken uns von der Evolution eingepflanzt wurde. Erst als unsere Urahnen sesshaft wurden und in komplexen Gemeinschaften zusammenlebten, begann sich das "Erfolgsmodell" Homo sapiens durchzusetzen. Abstrakte Intelligenz war dafür vermutlich weniger ausschlaggebend als eine ausgeprägte soziale Ader.
Und diese Prägung wirkt bis heute nach: Egal, ob wir eine triviale Kaufentscheidung fällen oder über den Sinn des Lebens grübeln – was unsere Mitmenschen denken und fühlen, tun und lassen, dient uns dabei stets als Vorlage. Der britische Evolutionsbiologe Mark Pagel setzt ab S. 48 sogar noch eins drauf: "Am Anfang war das Plagiat", glaubt der renommierte Forscher. Denn das Talent zum Ideenklau – und Maßnahmen, um ihn zu vereiteln – habe die kulturelle Blüte der Menschheit rasant beschleunigt. In Zeiten von Plagiatsaffären und Piratentum im Internet bekommt eine solche These eine ironische Note: Plötzlich erscheinen selbst "Paywalls" zum Schutz geistigen Eigentums als Fortsetzung einer jahrtausendealten Entwicklung, die irgendwo in der afrikanischen Steppe begann.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Steve Ayan
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