Editorial: Durchbruch beim Protein-Origami
Ein wichtiges Thema in meinem Biochemiestudium waren Proteine und deren räumliche Struktur. Diese molekularen Werkzeuge erfüllen unverzichtbare Dienste in allen Lebewesen, und ihre Funktionen hängen von der konkreten individuellen Gestalt der Makromoleküle ab. Lange lautete daher eines der großen Probleme der Biowissenschaften: Wie kann man aus der im Erbgut codierten Abfolge der Aminosäuren eines Eiweißstoffs erschließen, zu welcher dreidimensionalen Form sich das Molekül faltet? Erstere ließ sich in den 1990er Jahren bereits recht leicht aufklären, doch die Strukturbestimmung erwies sich als harter experimenteller Brocken. Entweder mussten die Proteine unter großem Aufwand für eine Röntgenstrukturanalyse kristallisiert werden, oder man versuchte mit dem damals neuen Ansatz der Kernspinresonanz zu ermitteln, wie die einzelnen Abschnitte eines Proteins räumlich zueinander liegen. Ich erinnere mich noch gut an Kurt Wüthrichs Vorlesung zu letzterer Methode an der ETH Zürich, in der uns der spätere Nobelpreisträger die damit verbundenen Schwierigkeiten klarmachte.
Jetzt hat sich der seit Jahrzehnten gehegte Wunschtraum der Biochemiker und Molekularbiologen offenbar erfüllt – dank künstlicher Intelligenz. Der Algorithmus »AlphaFold 2« der Firma DeepMind kann mittlerweile erstaunlich präzise die räumliche Gestalt von Proteinen aus ihrer Aminosäuresequenz berechnen, wie der Biophysiker Gunnar Schröder vom Forschungszentrum Jülich ab S. 46 darlegt. Und das ohne aufwändige Laborversuche und in überschaubarer Zeit.
Ende Juli meldete DeepMind zusammen mit dem Europäischen Molekularbiologie-Laboratorium EMBL in Heidelberg sogar, sie hätten auf diese Weise inzwischen die Strukturen für fast alle menschlichen Proteine sowie für jene verschiedener wichtiger Modellorganismen erstellt und für die Forschung offen zugänglich gemacht. Die Zuverlässigkeit der Bestimmungen schwankt noch, liegt aber bei einem Großteil der Proteine bereits in einem sehr hohen Bereich. Bis Ende des Jahres soll die Anzahl der publizierten Strukturen von jetzt rund 365 000 auf rund 130 Millionen anwachsen: Das wäre fast die Hälfte sämtlicher bekannten Eiweiße!
Für die Lebenswissenschaften könnte damit ein weiteres goldenes Zeitalter anbrechen, von dem wir alle profitieren. Denn zum Entwickeln schlagkräftiger Medikamente gegen bedrohliche Krankheiten ist die Kenntnis der Strukturen der relevanten Zielproteine oft eine entscheidende Voraussetzung. Entsprechend eröffnet der Artikel auch unsere neue dreiteilige Serie »Von der Molekülstruktur zum Medikament«.
Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Hartwig Hanser
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