Editorial: Ein heikles Feld
Selbstvertrauen? Kann man immer gebrauchen. Gelassenheit? Wäre schon schön. Intelligenz? Bingo – je mehr davon, desto besser! Kaum eine psychologische Eigenschaft, die uns Menschen voneinander unterscheidet, ist so begehrt wie eine gute Portion Grips. Hohe Intelligenz erscheint vielen geradezu gleichbedeutend mit Erfolg und Lebensglück. Nicht umsonst schätzen die meisten Zeitgenossen ihre eigenen Geistesgaben als überdurchschnittlich ein. Doch der heute gebräuchliche Intelligenzquotient (IQ) – in den 1930er Jahren von dem Psychologen David Wechsler entwickelt – ist so definiert, dass ein Wert von 100 exakt die Mitte markiert. Folglich liegen etwa ebenso viele Menschen darüber wie darunter.
Vor allem ein großes Missverständnis macht die Intelligenzforschung zu einem heiklen Feld: die Vorstellung, ein hoher oder niedriger IQ sei uns ein für alle Mal in die Wiege gelegt. "Dumm bleibt dumm", heißt das salopp formuliert – und wenn die Zahl der Dummen wächst, bedrohe das die Zukunft der ganzen Gesellschaft. Zu dieser alten, aber unsinnigen These verstieg sich zuletzt (und sehr erfolgreich) der Berliner Exsenator Thilo Sarrazin.
Hier gilt es, ein Stück dringend nötige Aufklärungsarbeit zu leisten. "Intelligenz ist in hohem Maß erblich", bestätigt zwar der Psychologe Frank Spinath im Interview ab S. 42. "Doch das sagt nichts darüber aus, wie veränderbar sie ist." Mit dem genetischen Argument kann man die Forderung nach gerechten Bildungschancen und individueller Förderung keineswegs vom Tisch wischen. Gerade weil Gene und Umwelt ein eng verwobenes Wirkungsgeflecht bilden, entfalten sich unsere Anlagen unter den richtigen Bedingungen besser.
Die spannende Erkenntnis der Forscher lautet: Gene sind kein Schicksal. Sie verändern ihre Aktivität lebenslang, werden von äußeren Einflüssen gesteuert und suchen sich regelrecht passende Umwelten. Wie Christian Wolf in seinem Beitrag ab S. 32 ausführt, wurde diese Tatsache in der Geschichte der Intelligenzforschung oft vernachlässigt. Die Reihe der einseitigen Interpretationen, ja Manipulationen etwa von Daten aus Zwillingsstudien macht deutlich: Wissenschaft schützt vor ideologischer Verblendung nicht. Umso mehr sollten wir die Forschung immer wieder kritisch hinterfragen – und der verbreiteten "IQ-Hörigkeit" Vernunft und Fakten entgegensetzen.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Ihr
Steve Ayan
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