Editorial: Freie Forschung mit gebundenen Händen?
Mehr war wohl nicht drin in der Gemengelage aus Forschungszielen, Theologie und Juristerei, weniger aber schon: Ende Januar votierte der Bundestag dafür, dass bereits existierende Linien embryonaler Stammzellen unter strengen Auflagen importiert und erforscht werden dürfen. Den Import soll nach dem Gesetzentwurf eine Behörde regeln, die von einer Ethik-Kommission beraten wird.
Ob das für Deutschlands Zellforscher nun eine gute oder schlechte Nachricht war, wird sich weisen. Mehrere Punkte bleiben jedenfalls im Gedächtnis:
- Die Debatte: Viele beklagten, die Diskussion habe zu lange gedauert. Aber es ging eben um mehr als etwa die Entwicklung des Mikrochips der nächsten Generation. Hier kollidierten Grundsatzfragen zur Definition und Verfügbarkeit menschlichen Lebens sowohl mit ehrgeizigen Zielen der Medizin als auch mit der grundsätzlichen Forschungsfreiheit. Dies abzuwägen ging nicht im Hauruckverfahren.
- Stichtagsregelung: Zahlreiche der zum geplanten Stichtag 1.1.2002 existierenden Stammzell-Linien (nur solche sollen importiert werden dür-fen) haben vermutlich keine für Forschungen ausreichende Qualität. Auch könnten sie mit so genannten Retroviren aus Mäusezellen infiziert sein, mit denen sie zur Wachstumshilfe in Kontakt gebracht wurden. Für einen Einsatz am Menschen bedarf es womöglich neuer Zelllinien, zu denen dann Forscher hierzulande keinen Zugang hätten. Das muss zwar keinen Wissenschaftlerexodus aus Deutschland auslösen. Nationale Spitzenleistungen fördert es aber auch nicht gerade.
- Nationaler Alleingang: Der jetzt mehrheitlich erzielte Konsens zum Stammzellen-Import düpiert unsere europäischen Nachbarn. Großbritannien beispielsweise erlaubt zum therapeutischen Klonen die Verwendung von Embryonen bis zur Einnistung, also etwa bis zehn Tage nach der Befruchtung. Wie steht es mit Europas Einheit – moralisch, juristisch, wissenschaftlich? Die Regelung stempelt jedenfalls Nachbarländer automatisch zu unmoralisch Handelnden. Für nationale Gesetze ist das natürlich ohne Belang, lässt aber wenig Realitätssinn für internationale Entwicklungen erkennen.
- Heuchelei: Gesetzt den Fall, in fünf oder fünfzehn Jahren erbringt die Stammzellen-Forschung erste Therapien und Medikamente zur Heilung schwerster Krankheiten. Konsequenterweise müsste deren Import verboten bleiben, da die Erkenntnisse aus unmoralischem Handeln gewonnen wurden. Ein Stammzellentherapie-Tourismus in solche Länder wäre damit erzwungen. Wer würde ihn behindern dürfen? Erfolgreich hätte man den "verwerflichen" Teil der Forschungsarbeit dem Ausland überlassen. Beim Schutz der Moral bliebe die Moral auf der Strecke.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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