Editorial: Gefühlte Lebensmitte
Als ich vor ein paar Jahren 50 wurde, meinte mein Vater beim Gratulationstelefonat, er selbst hätte diese Marke damals mehr oder weniger als Mitte des Lebens empfunden – obwohl jene rechnerisch ja bereits längst hinter einem liege, wenn man die allgemeine Lebenserwartung betrachte. So oder so empfand ich den runden Geburtstag doch als eine gewisse Zäsur. Seitdem drängt sich mir schon ab und zu der Gedanke auf, ich könnte langsam alt werden. Aber wann genau ist man eigentlich »alt«? Von der Anzahl an Lebensjahren hängt das sicher nur wenig ab; bekanntlich ist heute 50 das neue 40. Oder vielleicht sogar schon das neue 30, ich habe da den Überblick etwas verloren.
Auch wenn man solche lockeren Sprüche natürlich mit Vorsicht genießen muss, hat der medizinische Fortschritt durchaus dazu geführt, dass die Menschen weltweit durchschnittlich in besserer Gesundheit ein höheres Alter erreichen als zu früheren Zeiten. Ebenso nimmt die Zahl der 100-Jährigen – die also tatsächlich mit 50 erst maximal die Hälfte ihres Lebens hinter sich hatten – ständig zu. Heißt das womöglich, es gibt keine harte Obergrenze für ein maximal erreichbares Alter und die Lebenserwartung könnte prinzipiell ständig zunehmen? Hier sind sich die Fachleute uneins, wie der Artikel ab S. 12 darlegt. Vieles spricht aktuell gegen die Möglichkeit, wesentlich älter als 120 werden zu können. Aber künftige medizinische Fortschritte könnten dafür sorgen, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Der zweite Artikel unseres Titelthemas, das gleichzeitig den Startschuss für unsere neue dreiteilige Serie zu verschiedenen Aspekten rund ums Altern bildet, geht ab S. 18 der Frage nach, inwieweit die Umwelt und der individuelle Lebensstil beeinflussen, wie schnell der Organismus im Alter abbaut. Das ist derzeit aktueller denn je, denn gerade die zahlreichen negativen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie scheinen den Alterungsvorgang zu beschleunigen – sei es der vermehrte Stress, soziale Isolation oder die Infektion selbst sowie die dadurch ausgelöste Entzündungsreaktion. Die gute Nachricht: Man kann dem durch gesunde Verhaltensweisen entgegenwirken, etwa durch tägliche Bewegung sowie Vermeiden von Übergewicht, Rauchen und zu viel Alkohol.
Solche Regeln versuchen auch mein Vater und ich zu beherzigen. Inzwischen hat er bei bester Gesundheit seinen 90. Geburtstag gefeiert – vielleicht klappt das mit 50 als echter Mitte des Lebens ja doch noch für ihn. Und mit viel Glück und etwas medizinischem Fortschritt dann für mich ebenfalls?
Hoffnungsvoll grüßt
Hartwig Hanser
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