Editorial: Geheimnisse des Meeres
Ein Buch, das mich als Jugendlichen besonders beeindruckt hat, war »Die Eissphinx« von Jules Verne. Dabei handelt es sich um eine Fortsetzung zu Edgar Allen Poes einzigem Roman »Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym«, die ich damals beide hintereinander in einem Doppelband las. Verne schließt hier geschickt an das offene Ende von Poes teils mystisch anmutendem Werk an und versucht, die dort aufgeworfenen Rätsel möglichst wissenschaftsnah zu beantworten. Ich weiß allerdings noch genau, wie ich mich bemühte, die von Verne beschriebene Expedition Richtung Südpol im Schulatlas präzise nachzuvollziehen, und mich im Verlauf der Erzählung zunehmend wunderte, wie das Schiff immer weiter polwärts in Regionen vordrang, wo doch laut Landkarte antarktische Landmasse liegen müsste. Zunächst erklärte ich mir den Widerspruch damit, dass es ihm irgendwie gelungen sein musste, durch das Ross-Schelfeis zu fahren; mir war damals als ungefähr Elf- oder Zwölfjährigem nicht klar, wie dick und undurchdringlich diese Eismasse ist. Aber als die Fahrt sich dem Südpol noch weiter näherte und diesen schließlich sogar querte, ließ sich die Geschichte mit dem besten Willen nicht mehr mit den Fakten vereinbaren. Erst später realisierte ich, dass das Buch aus einer Zeit stammt, als die Antarktis noch weitgehend unerforscht war. Die Details der Route waren im Wesentlichen Vernes Fantasie entsprungen.
Diese Erinnerungen tauchten bei mir auf, als ich den Artikel über die Forschungsexpedition zum Thwaites-Schelfeis ab S. 38 las. Leider sind deren ebenso verblüffende wie beunruhigende Entdeckungen nicht der Imagination eines Sciencefiction-Autors entsprungen: Das Schelfeis dürfte in den nächsten Jahren in tausende Eisberge zerfallen und damit den dahinterliegenden Gletscher allmählich in den Ozean rutschen lassen. Allein dadurch würde der Meeresspiegel um etwa 65 Zentimeter ansteigen. Schlimmer noch, auch die Eismasse dahinter wäre destabilisiert. Schmilzt diese ebenfalls, steigt der Pegel um über drei Meter!
Natürlich stellen die Weltmeere nicht nur eine Bedrohung für uns Menschen dar. Sie sind unerlässlich für die Ernährungsversorgung und bergen zudem ein großes therapeutisches Potenzial, wie der erste Teil unserer neuen Serie zum Thema »Ozeane« ab S. 32 aufzeigt. Die darin lebenden Organismen, vor allem Mikroben und Wirbellose, produzieren ein wahres Arsenal an biochemischen Abwehrstoffen gegen die zahlreichen Krankheitserreger in ihrer Umwelt. Und solche Substanzen lassen sich zum Teil auch medizinisch nutzen, etwa gegen Krebs, Virusinfektionen oder als neuartige Antibiotika, die immer dringender benötigt werden.
Allerdings kam die Forschung hierzu bisher nur langsam voran; nicht zuletzt, da das Gebiet vielen pharmazeutischen Firmen wenig attraktiv zum Investieren erscheint. Es gilt nun diesen Schatz der Natur viel systematischer und effizienter als bislang zu heben – eine Chance für Universitäten und Stiftungen, durch ein verstärktes Engagement langfristig die Gesundheit der Menschheit zu verbessern.
Herzlich Ihr
Hartwig Hanser
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