Editorial: Hilfsbereit und höflich?
Sind wir Deutschen höflich? Sind wir hilfsbereit? Eigentlich keine Frage – wer würde schon von sich das Gegenteil behaupten! Natürlich sind Höflichkeit und Hilfsbereitschaft nicht dasselbe. Doch haben sie miteinander zu tun: Wer jemandem im Bus den Platz anbietet, ihm bei Tisch den Stuhl zurechtrückt oder beim Einsteigen die Autotür öffnet, der ist höflich und hilfsbereit zugleich. Ebenso lassen sich freilich Situationen vorstellen, in denen höfliche Menschen jede Hilfe verweigern oder wo Hilfsbereite keineswegs besonders höflich sind.
Jedoch möchte man hoffen, dass einer höflichen Grundhaltung auch die Bereitschaft zur Hilfe entspringt. Ob dies tatsächlich so ist, dazu versuchen Soziologen und Psychologen empirische Fakten zu erheben – kein leichtes Unterfangen bei gesellschaftlichen Phänomenen, die diffus sind, sich oft nur statistisch nachweisen lassen und von Kultur, Lebensart und Gesellschaftsschicht beeinflusst werden.
Zu beiden Begriffen empfange ich widersprüchliche Signale. Höflichkeit: Auf Ruppigkeit bis offen beleidigendes Verhalten trifft man in der Öffentlichkeit häufiger, als einem lieb ist – und das nicht nur in der Nähe alkoholisierter Jugendgruppen. Unhöflichkeit schlägt einem auch bei alltäglichen Verrichtungen entgegen – auf Ämtern, beim Taxifahren, beim Versuch, sich in einer Schlange anzustellen. Gleichzeitig scheint es eine Renaissance an Benimm-Büchern zu geben – Knigge aller Orten! Von Büchern wie "Der Höflichkeitsfaktor", "Achtung, Fettnäpfchen", "Mit Stil zum Erfolg" über "Weltweit richtig auftreten" bis hin zum "Disco-Knigge: anbaggern, abgreifen, abschleppen" findet sich alles, was Peinliches vermeiden lässt und als soziales Schmiermittel den Weg zum Erfolg glättet.
Hilfsbereitschaft: Wer etwa die überwältigende Woge der tatkräftigen Unterstützung der Flutopfer an Elbe, Donau und Moldau im Sommer 2002 verfolgte, der wird die Deutschen zwanglos als Weltmeister im Helfen einstufen wollen. Andererseits ist Verhaltensforschern das so genannte "Bystander-Syndrom" geläufig: Nur wenige Menschen werden aktiv, wenn in der Öffentlichkeit eine Gewalttat oder ein Unglück geschieht. Unvergessen die Szene vor einigen Jahren am See im olympischen Dorf in München: Dort beobachtete eine Gruppe von Leuten, wie mehrere Kinder in das Eis einbrachen und ertranken. Keiner der Zuschauer kam den verzweifelt Rufenden zu Hilfe.
Interessanterweise lässt sich Hilfsbereitschaft wissenschaftlich untersuchen – mit einer Art Rollenspiel. In solchen Experimenten treten etwa zwei Schauspieler auf, die nichts ahnenden U-Bahn-Reisenden einen aggressiven Dialog vorführen. Andere, unerkannt bleibende Wissenschaftler beobachten währenddessen die Reaktion der Umstehenden. Auch der US-Psychologe Robert V. Levine hat solche Sozialspiele entwickelt und weltweit getestet. Damit gelang es ihm, die Hilfsbereitschaft an verschiedenen Orten zu messen und miteinander zu vergleichen. In seinem weltweiten Ranking landen New York und Kuala Lumpur auf den letzten Plätzen, als Sieger überrascht das verrufene Rio de Janeiro. Bitter ist der daraus ermittelte Ländervergleich. Je reicher eine Nation, so zeigt Levine, desto weniger hilfsbereit sind ihre Großstädter.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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