Editorial: Inseln der Geborgenheit
Das Bild zeigt einen schnauzbärtigen Mann mittleren Alters. Er sitzt auf einem Scheunendach, die Beine gekreuzt, und bläst Trompete. Neben ihm die schwarze Katze mit dem weißen Gesicht und den viel zu langen Barthaaren, im Hintergrund eine Stadt mit blauen Dächern. Auf einem anderen Bild lässt derselbe Mann einen Papierdrachen in einen gelben Himmel steigen. Die Perspektive ist ungewöhnlich, fällt mir heute auf, der Drachen ist im Verhältnis viel zu groß. Und anders als vor rund 40 Jahren erkenne ich nun, dass seine seltsamen Augen Symbole für Mond und Sonne sind.
Vor wenigen Wochen löste der Anblick dieser Illustrationen ein verblüffend tiefes Gefühl der Vertrautheit in mir aus. Jahrzehnte hatte ich sie nicht gesehen. Ich erinnerte mich nur vage an ein Bilderbuch über "Onkel Tobi" aus Kindertagen. Das Werk ist zwei Jahre älter als ich; eine Neuauflage habe ich im Herbst für meinen kleinen Sohn gekauft. Oder doch eher für mich selbst, denn seither nehme ich es immer wieder zur Hand und wundere mich über die erstaunliche Wirkung. Vielleicht habe ich hier zufällig eine Erfahrung gemacht, die Alzheimerpatienten charakterisiert. Eine Bekannte, deren Mutter von der heimtückischen Erkrankung betroffen ist, erzählt regelmäßig, wie diese sukzessive ihre Gedächtnisinhalte einbüßt, und zwar ausgehend vom Hier und Heute. Alte Erinnerungen halten sich am besten – ein typischer Befund bei Demenz. Nicht nur frühe visuelle, auch akustische Erfahrungen können Inseln der Geborgenheit bilden. Bei dem amerikanischen Projekt "Alive inside" etwa werden Demenzpatienten ihre Lieblingsplatten aus Jugendzeiten vorgespielt. Das weckt positive Emotionen und belebt verloren geglaubte Erinnerungen wieder.
Am Beispiel von "Onkel Tobi" habe ich verspürt, wie aus Vertrautheit Vertrauen, ja ein Gefühl von Sicherheit erwächst. Menschen, die an Alzheimer leiden, möglichst lange emotionale Geborgenheit zu schenken, das ist auch das oberste Ziel von Demenzpflege. Hierbei zeigt sich, dass sich das Leid der Betroffenen sehr wohl lindern lässt. Dies wurde mir am 9. November 2015 klar, als ich auf der "Falling Walls"-Konferenz in Berlin dem Vortrag von June Andrews lauschte. Die Professorin von der University of Stirling erforscht, wie man die Wohnungen von Demenzpatienten so einrichtet, dass die Betroffenen möglichst lange möglichst gut zu Hause leben können. Ihre Erkenntnisse haben wir in der "Gehirn&Geist"-Infografik visualisiert, welche unser Titelthema abrundet.
Mehr als eine Million Deutsche sind an Morbus Alzheimer erkrankt. Ich würde mich freuen, wenn Betroffene und jene, die für sie sorgen, von der Lektüre dieses Hefts profitieren!
Herzlich Ihr
Carsten Könneker
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