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Editorial: Irren ist ... nützlich

Jeder wissenschaftliche Fortschritt beginnt mit einem Irrtum. Denn erst wenn sich eine Annahme durch findige Experimente als falsch erweist, wird der Weg frei zu tieferem Verständnis. Wissenschaft, erklärte der Philosoph Sir Karl Popper, produziert keine absolute Wahrheit, sondern nur vorläufige Theorien, die gerade so lange Gültigkeit besitzen, bis sie durch bessere ersetzt werden. Auf diese Weise schreiten Forscher zu immer tragfähigeren Modellen voran.

Jene sieben "Neuromythen", die Stephan Schleim in diesem Heft ab S. 38 entlarvt, entstammen freilich weniger der Wissenschaft selbst als dem missglückten Versuch, ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln. Sie alle besitzen einen wahren Kern. Es gibt Ansätze, die Gedanken von Probanden im Hirnscanner zu lesen. Es gibt auch durchaus berechtigte Zweifel an der Willensfreiheit. Und ja, regelmäßiges Hirnjogging hat Auswirkungen auf das Denkorgan. Doch die populären Schmalspurversionen dieser und weiterer Forschungsbefunde resultieren aus unzulässiger Vereinfachung oder gar Verfälschung.

Als ich den Wissenschaftssoziologen Nikolas Rose von King's College in London zur Legendenbildung in Sachen Gehirn befragte (siehe S. 44), fiel seine Antwort überraschend deutlich aus: Im Gerangel um öffentliche Aufmerksamkeit verkünde so mancher Forscher Dinge, die sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar erwiesen. Im "Gehirn-Übertreibungssyndrom" sieht er den Kern des Problems. Hier sind auch wir Wissenschaftsjournalisten gefordert. Schließlich ist es unser Job, Forschung auf das Wesentliche zu reduzieren, um die entscheidende Erkenntnis und ihre Bedeutung herauszuschälen und verständlich zu machen. Doch dabei gilt es, nicht übers Ziel hinauszuschießen! G&G will – nicht nur mit dieser Ausgabe – einen Beitrag zur Entmystifizierung von Gehirn und Psyche ­leisten.

Unter diesem Vorzeichen steht auch der dritte Teil unserer Serie zu den großen Themen von G&G ab S. 62. Redakteurin Anna von Hopffgarten blickt auf 20 Jahre funktionelle Bildgebung am menschlichen Gehirn zurück. Was haben die bunten Bilder aus dem Hirnscanner bewegt, und wohin geht die Entwicklung des Neuroimaging aktuell? In gewisser Weise schärft auch dieser Beitrag das Bewusstsein dafür, dass unser Wissen stets vorläufig und im Wandel begriffen ist. Wir sollten uns, bei allem Erklärungseifer, hin und wieder daran erinnern.

Eine erhellende Lektüre wünscht
Ihr
Steve Ayan

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