Editorial: Scham und Schämen
Hand aufs Herz: Wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig für etwas geschämt? Bei mir war es während einer Podiumsdiskussion, die ich moderierte. Trotz aller Vorbereitung fiel mir der Name von einem der Diskutanten nicht mehr ein – ein Blackout vor mehreren hundert Zuhörern. Zugegeben: Es gibt schlimmere Missgeschicke und sie sind auch mir sicher schon passiert, aber die habe ich wohl erfolgreich verdrängt.
Dabei sind Scham und Beschämung durchaus gängige Gefühle, die jeder von uns kennt. Und laut unserer Titelgeschichte von »Gehirn&Geist«-Redakteur Steve Ayan (S. 12) haben sie inzwischen in unserer Kultur sogar Hochkonjunktur. Viele schämen sich für alles Mögliche – wenn sie Fleisch essen, über unkorrekte Witze lachen oder heimlich rauchen. Manchen bereitet es wiederum Freude, das Fehlverhalten oder die Peinlichkeiten anderer genüsslich in den sozialen Medien auszubreiten, ohne sich selbst dafür zu schämen, aber sehr zur Beschämung der Angeprangerten.
Und eine dritte Gruppe arbeitet sogar gezielt mit dem Gefühl: Populisten wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro agieren schamlos und versprechen damit implizit ihren Anhängern, sie ebenfalls von der Scham zu befreien, etwa wenn sie politisch unkorrekte Gedanken hegen: »Wenn der Präsident so denkt, warum sollte ich dann nicht auch so denken dürfen?«
Dabei ist ein gewisses Maß an Scham gar nicht so schlecht, zeigen Studien. Ein erhöhtes Schamempfinden soll beispielsweise tendenziell mit sozialer Annäherung und Zugewandtheit einhergehen. Und es hilft dabei, Konflikte zu entschärfen.
Meine Gedächtnislücke vor der Diskussionsrunde entwickelte sich glücklicherweise nicht zum Ärgernis: Der Vergessene nahm es mit Humor und hielt einfach sein Namensschild in die Höhe. Mit einem kleinen Scherz auf meine Kosten konnte ich den Blackout in einem gut gelaunten Auditorium auflösen.
Ich hoffe, Ihnen erging es mit Ihrer letzten peinlichen Situation ebenfalls so.
Herzlich
Daniel Lingenhöhl
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben