Editorial: Unverhofftes Glück
Diese Party veränderte mein Leben – nur ahnte ich das noch nicht. Es war im Herbst 1996, die erste Woche meines Studienjahres in den USA. Lange hatte ich mich akribisch vorbereitet, flog bereits mit einem abgesprochenen Thema für meine Masterarbeit über den Atlantik: Konkrete Poesie und ihre Bezüge zur Naturwissenschaft. Alles war geregelt, endlich konnte es losgehen. Doch am Abend der Semestereröffnung warf das Schicksal meine Pläne über den Haufen. Eine kurze Begegnung in der Dämmerung sollte nicht nur meine Master’s Thesis, sondern auch mein Leben auf ein neues Gleis setzen.
Psychologen, Soziologen und Philosophen nennen es Serendipität, wenn wir auf etwas Wichtiges stoßen, nach dem wir gar nicht Ausschau hielten. Die Bedeutung des Funds bemessen wir meist erst im Nachhinein. So ging es auch mir: Beim Willkommensempfang des Departments lernte ich einen Professor kennen, von dem ich vorher nie gehört hatte, eine flüchtige Begegnung von vielleicht fünf Minuten Dauer. Als ich erwähnte, dass ich außer Literaturwissenschaft noch Physik studierte, erzählte er mir von einem Schriftsteller, dessen Werke er selbst herausgebe – Hermann Broch – und der in mehreren Essays und Romanen über Einstein, Relativität und Mathematik geschrieben habe, ohne dass so richtig klar sei, warum und wozu.
Einen Tag später war es aus mit der Konkreten Poesie. Aus meiner sich sodann entwickelnden Masterarbeit über ebenjenen Hermann Broch ergab sich später nahtlos mein Promotionsthema samt Stipendium und Förderprogramm; über Letzteres gelangte ich in den Wissenschaftsjournalismus und durfte prompt eine neue Zeitschrift mit entwickeln, die im Januar 2002 erstmals erschien. Sie heißt "Gehirn&Geist".
In ihrer aktuellen Ausgabe stellt Redakteur Steve Ayan die wichtigsten Befunde der Serendipitätsforschung vor (ab S. 12). Psychologen gehen inzwischen davon aus, dass unsere Persönlichkeit wesentlich mit darüber entscheidet, ob uns das Glück zufällig vor die Füße läuft. Menschen, die Fortuna geradezu magisch anzuziehen scheinen, bezeichnet die Informationswissenschaftlerin Sanda Erdelez von der University of Missouri in Columbia im Interview ab S. 18 als "Super-Encounterer". Ihre wichtigsten Eigenschaften: Neugier, Umtriebigkeit, Ablenkbarkeit – und keine Angst vor dem Scheitern. Da ich meine Pläne für gewöhnlich nicht schnell über den Haufen werfe, gehöre ich wohl nicht zu dieser Gruppe. Doch an jenem lauen Abend am Mississippi habe ich das Glück am Schopf gepackt.
Herzlich grüßt Sie Ihr
Carsten Könneker
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