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Editorial: Wie viel Zukunft geben wir der Teilchenphysik?



Hochenergiephysiker haben es nicht leicht. Seit Jahrzehnten versprechen sie dem staunenden Publikum die Erklärung dafür, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch ihre Experimentiergeräte sind längst in Größenordnungen gewachsen, die sich technisch wie finanziell kaum mehr realisieren lassen – weshalb sie den Erkenntnisgewinn des jeweils nächsten Schrittes eher euphorisch schildern müssen. Kein Wunder also, dass 1993 der Superconducting Supercollider (SSC) in Texas zum Entsetzen der amerikanischen Teilchenphysiker beerdigt wurde, obwohl man schon 22 Kilometer Tunnel und zwei Milliarden Dollar in den Sand vergraben hatte.

Letztendlich hat das Ende des SSC aber dem europäischen Projekt des Large Hadron Collider (LHC) am Cern bei Genf Auftrieb gegeben. Obwohl der Ringbeschleuniger ebenfalls schon in Finanzprobleme geschlittert ist, sollen in ihm, als nunmehr einzigem Gerät dieser Größe, ab 2007 Protonen und Atomkerne mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander prallen. Doch längst trommeln die Forscher schon für ein weiteres Zukunftsprojekt, den TeV-Energy Superconducting Linear Accelerator, kurz Tesla. Der Linearbeschleuniger soll zu noch höherer Energie als der LHC vorstoßen und, wenn es nach dem Willen der deutschen Forscher geht, mit seinem 33 Kilometer langen Tunnel bei Desy vor den Toren Hamburgs errichtet werden.

LHC, so heißt es in einer Denkschrift, wird eine »Entdeckungsmaschine«; Tesla dagegen soll zeitlich versetzt ab 2012 als »Präzisionsmaschine« fungieren. Dieser Tage wird die Bundesregierung über Tesla befinden. Auch wenn sie wie erwartet der Empfehlung des Wissenschaftsrates folgt, wird sie die Finanzierung der geplanten 3,5 Milliarden Euro von einer kräftigen internationalen Beteiligung abhängig machen. Fachliche Gründe für ein positives Votum hätte sie genug. Denn auch wenn es hochtrabend klingt: Das, was LHC und Tesla gemeinsam an Einsichten ins Weltgefüge erbringen sollen, könnte tatsächlich den Gral der Naturerkenntnis bedeuten. Ende November präsentierten deutsche Teilchenphysiker ihre Visionen in Bonn in einer so überzeugenden Weise, wie man es von der sonst eher unbeholfenen Öffentlichkeitsarbeit dieses Forschungszweiges nicht gewohnt war. Demnach wollen die Physiker nicht nur endlich das Rätsel lösen, warum Materie überhaupt Masse hat. Die Suche nach dem kosmologischen Wesen »dunkler Energie« und »Dunkler Materie« soll ebenso vorangetrieben werden wie das Verschmelzen der Naturkräfte bei höchsten Energien.

Zwei Dinge wurden mir auf der Tagung in Bonn klar. Erstens: LHC und Tesla bilden ein perfektes Gespann für die Aufklärung fundamentaler Fragen der Naturwissenschaft. Zweitens: Die Teilchenphysik wird danach anders aussehen: Spätestens 2030, wenn Tesla auslaufen soll, wird die Forschung andere Wege zur Teilchenbeschleunigung beschreiten müssen. Sonst steht dieser vornehmsten aller Erkenntniszünfte das Schicksal des SSC bevor.

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Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2003, Seite 3
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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