Editorial: Zwei starke Gefühle
Hassen Sie auch schon? Die Frage ist ernst gemeint. Oder können Sie sich dem Trend entziehen? Vor allem im Internet artikulieren viele Menschen ihre Antipathie und Animositäten immer ungeschminkter, geben "Hasskommentare" ab und "Hassparolen" aus. Anderswo erheben sich "Hassgesänge", finden "Hassreden" oder gar "Hasspredigten" Gehör. Die Wortschöpfungen zeigen bereits an, dass wir es mit einer Entwicklung zu tun haben – und sie ist dynamisch: Die "Hassmail", das "Hassplakat" und die "Hassbotschaft" waren im März noch nicht vom Online-Duden erfasst. Es scheint, als erobere eine Emotion das Land, die unter den klassischen sieben Todsünden wohl irgendwo zwischen Zorn (ira) und Neid (invidia) zu verorten wäre und lange Zeit nicht gesellschaftsfähig war. Keine Frage: Das soziale Internet, in dessen tausenderlei Winkeln jeder alles Mögliche angiften kann, ermöglicht viele Ergüsse und Echoeffekte überhaupt erst. Doch die neue "Hasskultur" ist kein reines Kommunikationsphänomen. Psychologisch betrachtet, steht hinter den Schmähungen etwa gegen Asylsuchende in vielen Fällen ein Gefühl der Ohnmacht: Der Hassende glaubt, die Kontrolle sei ihm entglitten (siehe unseren zweiteiligen Brennpunkt ab S. 30).
Beim Titelthema rücken wir einem anderen starken Gefühl zu Leibe, der Lust. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Fernsehsendung "scobel" (Programmhinweis auf S. 16) beleuchten wir die Besonderheiten speziell der weiblichen sexuellen Begierde. Auch dieses Thema ist medial sehr präsent, etwa durch den spektakulären Erfolg der Romantrilogie "Fifty Shades of Grey". Seit 2011 wurden 100 Millionen Exemplare des Werkes der britischen Autorin E. L. James verkauft. Dessen junge Heldin verfällt einem Milliardär, der sie mit detailliert beschriebenen sadomasochistischen Praktiken beglückt. Lassen die Rekordverkäufe auf die Wünsche der – mehrheitlich weiblichen – Leserschaft schließen? Eher nicht, meint die Psychologin und Paartherapeutin Kirsten von Sydow. Im Interview mit Redakteurin Anna von Hopffgarten ab S. 12 verwehrt sich die Expertin gegen die Vorstellung, immer Lust auf Sex zu haben, sei ein begehrenswertes Ideal. Zudem erklärt sie, wie Frauen bei ausbleibendem Orgasmus den eigenen Körper neu entdecken können. Anorgasmie ist auch das Thema von Kayt Sukel. Im Dienst der Hirnforschung brachte sich unsere Autorin sogar höchstselbst im Tomografen zum Höhepunkt (S. 22).
Gute Gefühle bei der Lektüre des Heftes wünscht Ihr
Carsten Könneker
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