Interview: 'Ein enormes Marketingfeuer'
Gerd Assmann, Direktor des Instituts für Arterioskleroseforschung an der Universität Münster, ist Entwickler des Procam-Algorithmus – eines Verfahrens zur Berechnung des individuellen Herzinfarktrisikos. Der international renommierte Experte – Assmann ist unter anderem Chairman der Fachgesellschaft International Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease – kritisiert überzogene Erwartungen an vermeintlich neue Risikoparameter.
Spektrum der Wissenschaft: Jeder Zehnte in Deutschland stirbt derzeit an Herzinfarkt. Fehlt den Ärzten das Ins-trumentarium, um das individuelle Infarktrisiko besser abschätzen und gezielter vorbeugen zu können?
Dr. Gerd Assmann: Wir haben längst gute Instrumente zur Risikobestimmung. Gesamtcholesterin beziehungsweise so genanntes gutes und schlechtes Cholesterin sind dabei gerade mal zwei von etlichen Risikofaktoren, die große Fachgesellschaften heute bei der Bestimmung des Infarktrisikos zu Grunde legen. Zur Ermittlung der relevanten Daten haben wir beispielsweise 1979 die Procam-Studie gestartet. Mit fast 40000 Teilnehmern ist sie weltweit die mit Abstand größte ihrer Art zur Bestimmung der Risikofaktoren für einen Herzinfarkt. Aus diesen umfangreichen Daten haben wir ein Berechnungsverfahren entwickelt, in das acht Faktoren eingehen.
Spektrum: Welche sind das denn im Einzelnen?
Assmann: Als Erstes das Alter, dann das schlechte Cholesterin, also das, was Ihr Arzt als LDL-Cholesterin bezeichnet. Gleich danach kommen Rauchen, zu wenig gutes Cholesterin, sprich HDL-Cholesterin, und zu hoher Blutdruck. Diabetes, bestimmte Neutralfette im Blut und eine familiäre Belastung sind weitere Risikofaktoren. Über diese acht Parameter kommen wir zu zuverlässigen therapeutischen Entscheidungen – zum Beispiel, wie viel schlechtes Cholesterin, also LDL, jemand maximal im Blut haben sollte.
Spektrum: Ließe sich das Infarktrisiko durch einen Zusatztest genauer bestimmen? Schließlich kasteit sich nicht jeder gerne, besonders wenn er sich noch gesund fühlt.
Assmann: Arteriosklerose ist eine chronische entzündliche Erkrankung der Gefäßwand, und daher wird von manchen Forschern die Bestimmung so genannter Entzündungsmarker propagiert. Tatsächlich finden sich bei allen Patienten mit Gefäßverkalkungen auch erhöhte Entzündungsmarker wie das C-reaktive Protein. Aber es ist nur einer von vielen, und bei – ansonsten gesunden – Arteriosklerosepatienten liegen seine Werte auch nur im oberen Teil des Normalbereichs. Somit ist der Test nicht spezifisch genug. Wenn wir in unser Berechnungsverfahren zusätzlich noch das C-reaktive Protein mit einbeziehen, sehen wir, dass dies aber auch wirklich gar nichts an der Effektivität der Risikovorhersage verbessert.
Spektrum: Dennoch betonen einige Forscher, dass sich mit klassischen Risikofaktoren wie Cholesterinwerten nur etwa die Hälfte der tatsächlich Infarkt-Gefährdeten erkennen ließen.
Assmann: Einen einzelnen Risikofaktor zu wählen ist ja auch unsinnig. Nehmen wir unser Rechenprogramm mit acht Faktoren und betrachten nur die Studienteilnehmer, die dann binnen zehn Jahren tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten: 93 Prozent der Betroffenen fiel von Anfang an in eine der beiden obersten Risikogruppen. Ich sehe bei solchen Behauptungen eher ein gewisses Basisinteresse der diagnostischen Industrie am Werk, die naturgemäß gerne neue Parameter für neue Tests kreieren möchte.
Spektrum: Wie weit fließt das aus der Procam-Studie ermittelte Verfahren heute schon in die Praxis ein?
Assmann: Darauf stützen sich die Richtlinien der Task Force for Prevention of Coronary Heart Disease, immerhin einer großen internationalen Fachgesellschaft. Täglich schauen mittler-weile Tausende von Ärzten auf unsere Internetseite, wo jeder – auch der Laie – den danach erarbeiteten Testbogen kostenlos nutzen kann, wahlweise auf Deutsch oder auf Englisch. Wir können allerdings nicht unbedingt davon ausgehen, dass eine Formel, die in einer großen Studie hier zu Lande entwickelt wurde, auch auf Mittelmeerländer oder gar andere Kontinente eins zu eins übertragbar ist. Sie müssen daher solche Algorithmen je nach Bevölkerung mög-lichst justieren. Wo es aber bislang keine spezifischeren Daten gibt, nutzt man in Europa unsere Procam-Daten – in den USA aber einen Algorithmus aus den Daten der Framingham-Studie, die älter ist.
Spektrum: Seit 2001 gibt es nun auch in den USA neue Richtlinien zu den Maximalwerten für LDL-Cholesterin in verschiedenen Risikogruppen. Weichen sie von den hiesigen ab?
Assmann: Die US-Richtlinien haben sich im Wesentlichen an unsere Empfehlungen angelehnt. Was die Zielwerte für LDL-Cholesterin angeht – zum Beispiel maximal 100 bei Risikopatienten –, sind die beiden Empfehlungen weitgehend deckungsgleich.
Spektrum: Trotzdem geistern immer wieder neue verwirrende Meldungen zur Cholesterinsenkung durch die Me-dien. Etwa die, dass Menschen selbst dann von den als Cholesterinsenkern bekannten Statinen profitieren, wenn ihr Blut keine zu hohen LDL-Werte aufweist.
Assmann: Es gibt zwar Spekulationen, dass Statine auch direkt entzündungshemmend wirken und deshalb selbst bei niedrigen Cholesterinspiegeln noch einer Arteriosklerose vorbeugen könnten. Doch haben wir bislang keine wissenschaftlich klare Auskunft darüber, ob letztlich die niedrigen Cholesterinwerte ausschlaggebend sind oder entzündungshemmende Effekte eine wesentliche zusätzliche Rolle spielen. Nicht zu unterschätzen ist auch: Der Weltmarkt für Statine lag im vorigen Jahr bei etwa 15 Milliarden US-Dollar. Den teilen sich einige wenige Firmen. Sie können sich vorstellen, dass hier ein enormes Marketingfeuer entfacht wird, sodass selbst Experten gelegentlich verwirrt sind.
Spektrum: Was ist mit den Nebenwirkungen? Man denke an Lipobay.
Assmann: Statine haben prinzipiell ein sehr gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis. Aber eines sei jedem ans Herz gelegt: Die Masse aller Infarkte hat mit Übergewicht, Insulinresistenz, Zigarettenrauchen, Bluthochdruck zu tun. Fettstoffwechselstörungen sind besonders häufig bei Diabetikern. Diese Probleme aber lassen sich oft bereits durch eine gesündere Lebensführung verbessern.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2002, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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