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Nobelpreis für Medizin: Ein fader Wurm im Fadenkreuz der Freitod-Forscher

Genau 131 gehen freiwillig in den Tod, damit 959 überleben können - so sieht die Bilanz bei den Zellen von Caenorhabditis elegans aus. Für die Aufklärung des programmierten Zelltodes bei diesem Fadenwurm gab es nun den Medizin-Nobelpreis.


Er ist winzig klein – knapp einen Millimeter lang – und hat schon eine erstaunliche Karriere hinter sich: Der Nematode Caenorhabditis elegans gilt unter Entwicklungsbiologen als eine der am besten untersuchten Tierarten.

Sein Siegeszug durch die Labors begann in den 1960er Jahren, als Sydney Brenner an der Universität Cambridge nach einem Organismus suchte, bei dem sich das Schicksal jeder einzelnen Zelle im Laufe der Embryonalentwicklung verfolgen lässt. Damals wussten die Biologen bereits, dass der wachsende Keim über einen Anlagenplan verfügt, der festlegt, zu welchen Organen sich seine einzelnen Bereiche entwickeln. Außerdem war klar, dass bestimmte Zellen freiwillig in den Tod gehen, wenn ein höheres Lebewesen Gestalt annimmt; das hatte der deutsche Naturforscher und Politiker Carl Vogt (1817-1895) schon 1842 am Nervensystem von Embryonen der Geburtshelferkröte beschrieben. Auch beim menschlichen Fötus sterben beispielsweise die Zellen der ursprünglich vorhandenen "Schwimmhäute" zwischen den Fingern und Zehen ab. Der zelluläre Selbstmord – wissenschaftlich als programmierter Zelltod oder Apoptose bezeichnet – gehört damit unabdingbar zum Leben.

Brenner, 1927 in Südafrika geboren, hatte 1954 an der Universität Oxford promoviert und sich danach in Cambridge als Bürogenosse von Francis C. H. Crick, einem der Entdecker der DNA-Struktur, Verdienste um die Aufklärung des genetischen Codes erworben. Während die Molekularbiologen später erste Einblicke in die genetische Steuerung der Lebensvorgänge bei Bakterien gewannen, war es Brenners Ziel, auch das Zusammenspiel der Gene bei höheren Organismen zu verstehen. Zwar ließ sich durch Anfärbeexperimente die Embyronalentwicklung bei Wirbeltieren schon in groben Zügen verfolgen. Doch schien es so gut wie aussichtslos, herausfinden zu wollen, warum welche Zelle sich zu welchem Zeitpunkt weiter teilt – oder zu Grunde geht. Dafür ist die Anzahl der Zellen, aus denen schon ein früher Wirbeltier-Embryo besteht, einfach zu groß.

Dass C. elegans einen eleganten Ausweg aus diesem Dilemma bietet, war eine der genialen Einsichten Brenners. Bevor er das Würmchen als "Haustier" der Entwicklungsbiologen etablierte, interessierte sich kaum jemand für den primitiven Organismus, der im Gegensatz zu vielen parasitischen Nematodenarten frei lebend im Boden vorkommt. Doch für das Studium der Embryonalentwicklung bietet er ideale Voraussetzungen. So besteht er aus nur wenigen Zellen und ist durchsichtig, sodass sich Zellteilungen direkt unter dem Mikroskop beobachten lassen. Außerdem hat er eine kurze Generationszeit: Schon nach zwei Tagen ist er geschlechtsreif und erzeugt unter günstigen Bedingungen innerhalb einer Woche knapp eine Million Nachkommen.

In bahnbrechenden Untersuchungen mit C. elegans konnte Brenner mit Ethylmethansulfonat Mutationen in verschiedenen Genen auslösen und die Auswirkungen auf die Organentwicklung und das Verhalten ermitteln. Mit diesen Arbeiten, deren Ergebnisse er 1974 publizierte, wies er nach, dass wichtige Schritte in der Embryonalentwicklung des Fadenwurms genetisch gesteuert werden.

Vom Wurm zum Menschen

Auf Brenners Experimenten baute John E. Sulston auf, der seit 1969 ebenfalls in Cambridge forschte. Dem 1942 geborenen Engländer, der heute das Sanger-Institut der Firma Wellcome leitet, gelang es 1976, den genauen Ursprung der Zellen in einem Teil des Nervensystems von C. elegans aufzuklären. Bis 1983 konnte er diesen Stammbaum dann auf den gesamten Wurm ausdehnen. Demnach entstehen aus der befruchteten Eizelle exakt 1090 Körperzellen. Doch 131 davon sterben während der Embryonalentwicklung, sodass der ausgewachsene Wurm nur aus 959 Körperzellen besteht. Sulston entdeckte auch das erste Gen, das an diesem Zelltod beteiligt ist; nuc-1 genannt, enthält es den Bauplan für ein Enzym, das für den Abbau der Erbsubstanz in den todgeweihten Zellen benötigt wird.

Tiefere Einblicke in den Mechanismus der Apoptose, bei der sich der Zellkern auflöst und die Zelle in mehrere membranumhüllte Bläschen zerfällt, konnte in den 1970er und 1980er Jahren schließlich E. Robert Horvitz vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge gewinnen. Der 1947 geborene Amerikaner, der nach seiner Promotion im Jahre 1974 seine Untersuchungen am Fadenwurm in Cambridge begann, identifizierte zwei Gene, ced-3 und ced-4 (ced steht für cell death), ohne die der programmierte Selbstmord nicht stattfinden kann. Kontrolliert werden sie, wie Horvitz später herausfand, von einem weiteren Gen namens ced-9. Dessen Proteinprodukt unterdrückt das Ablesen der Todesgene. Jede Zelle ist also gleichsam natürlicherweise auf Selbstmord programmiert und muss aktiv daran gehindert werden. Unterbleibt das Signal zum Weiterleben, weil ced-9 inaktiviert wird, können ced-3 und ced-4 in Aktion treten und ihr tödliches Programm starten.

Sind die Ergebnisse der Forschungen am Fadenwurm für sich allein schon interessant, so verleihen ihnen die Parallelen zum Menschen erst ihre enorme Bedeutung. Denn die Selbstmordgene erwiesen sich als uralte evolutionäre Erbstücke, die auch bei Homo sapiens ihr Werk vollbringen. So entspricht ced-4, wie Horvitz herausfand, dem menschlichen Apaf-1-Gen, das ebenfalls an der Apoptose beteiligt ist. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die meisten Gene, die den programmierten Zelltod bei C. elegans steuern, Pendants beim Menschen haben.

Überhaupt lässt sich vom winzigen Fadenwurm erstaunlich viel über uns Menschen lernen, die wir aus rund 25 Milliarden Mal so vielen Zellen bestehen. Allerdings erscheint der Unterschied bereits sehr viel weniger eklatant, wenn man das Erbgut betrachtet. Der Mensch hat nur etwa 30-mal so viel DNA wie der winzige Wurm und sogar nur knapp doppelt so viele Gene (geschätzte 35000 gegenüber rund 19000). Und von 50 bis 70 Prozent der Wurm-Gene gibt es Gegenstücke in unserem Körper.

Heute ist die Apoptose, deren Hintergründe die drei Preisträger an C. elegans aufzuklären begannen, zu einem der bedeutendsten und spannendsten Gebiete der Zellbiologie geworden. An die 2000 Wissenschaftler weltweit befassen sich damit und haben 1999 beispielsweise 8045 Arbeiten darüber veröffentlicht – mehr als im selben Zeitraum über das Aids-Virus erschienen sind. Der Grund liegt in der enormen Bedeutung, die eine Störung des zellulären Selbstmordprogramms für den menschlichen Organismus besitzt. Viele schwere Krankheiten haben hier ihre Ursache. So werden bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der multiplen Sklerose gesunde Zellen fälschlich in den Selbstmord getrieben. Auch beim Schlaganfall oder Herzinfarkt gehen viele Zellen in der Umgebung des primär geschädigten Bereichs unnötig in den Tod, weil fälschlich ihr Apoptose-Programm eingeleitet wird. Erst dadurch kommt es zu dem massiven Untergang von Gewebe, der dauerhafte Schäden oder sogar den Tod verursachen kann.

Genauso verheerend sind umgekehrt die Folgen, wenn das Selbstmordprogramm außer Kraft gesetzt wird. Unterbleibt der eigentlich nötige Opfergang, lautet die Diagnose oft Krebs. Alle Körperzellen überwachen sich nämlich unablässig selbst und werden zusätzlich vom Immunsystem daraufhin kontrolliert, ob sie noch intakt sind und normal funktionieren. Wenn nicht, leiten sie eigenhändig den programmierten Freitod ein oder erhalten von Abwehrzellen das Signal dafür. Entartete Zellen werden auf diese Weise frühzeitig aus dem Verkehr gezogen. Bei Krebs ist diese Sicherung jedoch meist ausgeschaltet. So kann der Tumor ungestört wuchern, obwohl sein Gewebe sich von seiner ursprünglichen Bestimmung im Organismus losgesagt hat.

Angesichts der Bedeutung der Apoptose-Forschung kam die Ehrung für ihre drei Pioniere auch nicht überraschend. Vor allem Brenner stand schon lange auf der Kandidatenliste für den Nobelpreis. Er dürfte auch die schillerndste Figur unter den drei Laureaten sein. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1992 dachte er keineswegs an Ruhestand, sondern gründete mit dem Institut für Molekulare Wissenschaften in Berkeley (Kalifornien) ein eigenes Unternehmen, das er bis 1997 leitete. Seither arbeitet er als Professor am Salk-Institut in La Jolla. Auch sein Lieblingsforschungstier hat er im hohen Alter noch einmal gewechselt: Er interessiert sich nun für den giftigen japanischen Pufferfisch Fugu, bekannt als kulinarische Delikatesse, der das kleinste Genom aller Wirbeltiere hat.

Pikanterweise hat Brenner sich recht kritisch über das menschliche Genom-Projekt und dessen Ergebnisse geäußert. Das dürfte seinen Mitpreisträger Sulston wenig freuen; denn der war in den letzten zehn Jahren als treibende Kraft an der Erstellung der Erbgutkarte des Menschen entscheidend beteiligt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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