Eine antike Siedlungskammer - Feldforschung in Lykien
Im Rahmen eines interdisziplinären und internationalen archäologisch-historischen Projekts wird die Geschichte der südanatolischen Polis Kyaneai und ihres Territoriums systematisch untersucht und rekonstruiert.
Am 20. August 1991 entdeckte mein Mitarbeiter Andreas „Sperber“ Thomsen nahe dem türkischen Dorf Yavu eine bemerkenswerte, offenbar recht alte Anlage: Überbaut von einer modernen Zisterne ist in fünf Meter Tiefe eine Freitreppe erkennbar ( Bild 2); sie führt von Norden auf eine Quelle zu, die über einem in eine Steinmauer verbauten Baumstumpf hervorsprudelt. Die Mauer gegenüber besteht aus vorzüg-lich gearbeiteten, stufig zurückgesetzten Quaderschichten und gehörte möglicherweise zum Podium eines Tempels.
Diese für eine normale Quelleinfassung viel zu aufwendigen Baulichkeiten könnten Reste eines dem Gott Apollon geweihten Quellorakels sein, das für die kleinasiatische Landschaft Lykien einige Bedeutung hatte und von dem griechischen Reiseschriftsteller Pausanias im 2. Jahrhundert beschrieben worden war. Die Fundstätte liegt in der Ebene unterhalb der Akropolis der antiken Stadt Kyaneai. Ausgrabungen würden sicherlich genaueren Aufschluß erbringen.
Aber Ausgrabungen sollen allenfalls am Ende der im folgenden beschriebenen Forschungen stehen. Sie dienen nicht in erster Linie dem Auffinden von spektakulären Bauwerken oder Lokalitäten, sondern der vollständigen Erschließung einer Siedlungskammer: des rund 120 Quadratkilometer großen Territoriums der Polis Kyaneai (Bilder 2 und 3). Zum ersten Mal wird damit ein antikes Gemeinwesen lückenlos untersucht.
Warum haben wir dafür ausgerechnet dieses Gebiet ausgewählt, das in der Literatur des Altertums höchst selten und dann nur flüchtig erwähnt worden ist? Ein wesentlicher Grund ist die außergewöhnlich gute Konservierung der antiken und byzantinischen Siedlungsreste, was auf die Randlage dieser Region sowohl in politischer und militärischer als auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht zurückzuführen ist.
Geographie und Geschichte
Unser Forschungsgebiet liegt in Lykien, einer in das Mittelmeer vorspringenden gebirgigen Halbinsel im Südwesten der Türkei. Das lykische Kernland zwischen Telmessos im Westen und Rhodiapolis im Osten ist eine wildromantische, für menschliche Ansiedlung nur stellenweise geeignete Landschaft. Lediglich an den Mündungen der großen Flüsse haben sich fruchtbare Schwemmebenen gebildet. Ansonsten ist das anbautaugliche Land auf kleinere, zwischen Hügel oder Gebirgszüge eingestreute Fruchtebenen (Ovas) beschränkt – abgesehen von einem nicht zum Kerngebiet der lykischen Kultur gehörenden Hochplateau, der Elmali-Ebene im Norden.
Nur dort sind bisher nennenswerte, bis ins dritte vorchristliche Jahrtausend zurückreichende prähistorische Relikte aufgetaucht. Im küstennahen lykischen Kernland hingegen datieren nach dem gegenwärtigen Forschungsstand die frühesten Keramikfunde ins 8. Jahrhundert vor Christus, etwa in jene Zeit, in der Lykier – in Homers „Ilias“ – erstmals zweifelsfrei schriftlich erwähnt wurden.
Die wohl im 7. Jahrhundert von Rhodos ausgehende Gründung griechischer Kolonien, vor allem im östlichen Lykien, und die Eroberung der Landschaft durch die Perser um die Mitte des 6. Jahrhunderts sind die nächsten greifbaren historischen Etappen. Insbesondere die Begegnung mit der griechischen Zivilisation hatte zur Folge, daß die Lykier ihre ethnische und kulturelle Eigenart in Schrift, Bild und Architektur auszuprägen begannen: Sie adaptierten das griechische Alphabet seit Ende des 6. Jahrhunderts zur Entwicklung einer eigenen Schrift sowie griechische und iranische Kunst- und Architekturformen, um ihrer Religiosität und politischen Ideologie Ausdruck zu geben. Die zeitweilige Herrschaft des attisch-delischen Seebundes (einer zwischen 477 und 404 vor Christus bestehenden Vereinigung griechischer Staaten unter Führung Athens) über Teile Lykiens mag dabei verstärkend gewirkt haben.
Aber die Lykier wahrten auch ihre einheimische Tradition: Die Übertragung von Holzarchitektur in Stein, die besondere Gestalt ihrer Felsgräber und an den gotischen Bogen erinnernden Sarkophagdeckel-Formen sowie ihre erst teilweise entzifferte Sprache, die zur luwischen Sprachfamilie gehört und die Lykier als anatolisches Volk ausweist, dokumentieren dies.
Die politische Ordnung und die Siedlungsstrukturen Lykiens in klassischer Zeit liegen weitgehend im dunkeln; manches weist auf ein Neben- und Miteinander von Dynastenherrschaften und autonomen Gemeinwesen hin. Xanthos und seine Dynasten scheinen im 5. und 4. Jahrhundert eine herausragende Rolle gespielt zu haben.
Die Eroberung durch Alexander den Großen (356 bis 323) integrierte Lykien vollends in den griechischen Kulturkreis, bewirkte aber zugleich eine weitreichende politische und soziale Umgestaltung. Das Lykische wurde als Schriftsprache gänzlich vom Griechischen abgelöst, und die Dynastenherrschaften machten Gemeinwesen Platz, die sich nach dem Muster der griechischen Polis entwickelten. Ein vielleicht im Konflikt mit hellenistischen Großmächten – insbesondere der Seemacht Rhodos – formierter und mit einer Repräsentativverfassung ausgestatteter Bund lykischer Gemeinwesen bestimmte spätestens seit etwa 200 vor Christus weitgehend die Politik der Landschaft, bald jedoch in Absprache mit und dann in Unterordnung unter Rom. Aber erst im Jahre 43 nach Christus wurde Lykien römische Provinz.
Die Entwicklung Lykiens in hellenistischer und römischer Zeit ist durch eine Tendenz zum Aufgehen kleiner Gemeinwesen in größeren politischen und sozialen Gebilden und zu einer gewissen Konzentration von Urbanisierungsprozessen gekennzeichnet. Insgesamt aber blieb die Landschaft bis in die Spätantike hinein siedlungsgeographisch zersplittert; zahlreiche kleine und mittelgroße sowie wenige bedeutende Zentren kontrollierten begrenzte Siedlungskammern. Seit dem 4. und 5. Jahrhundert etablierte sich die christliche Kirche in den wichtigsten Orten mit Bischofssitzen.
Offene Fragen und frühere Forschungen
Obwohl wir die Geschichte dieser Landschaft und ihrer Besiedlung in groben Umrissen nachzeichnen können, bleiben doch wesentliche Fragen offen, von Detailproblemen ganz zu schweigen. Zum einen sind zahlreiche Siedlungen Lykiens noch gänzlich unerforscht, sogar ihre antiken Namen oft unbekannt. Zum anderen gilt es, auch im Hinblick auf das südliche Kleinasien, allgemeine die Antike betreffende Siedlungsprobleme zu klären.
So wußte man bisher nichts über das Aussehen der in den zeitgenössischen Quellen häufig erwähnten ländlichen Siedlungstypen Anatoliens, etwa der komai (Dörfer). Selbst eine so grundlegende Frage wie die nach dem Wohnort der Bauern ist für die Antike umstritten: Lebten sie weitgehend im städtischen Siedlungszentrum und bewirtschafteten von dort aus zumindest das stadtnahe Umland, oder taten sie dies von Gehöften auf dem Territorium aus? Nicht besser steht es um die Kenntnisse kom-plexerer Strukturen wie der Siedlungshierarchie und Stadt-Land-Beziehung, der Verkehrsnetze, Marktfunktion von Siedlungen oder Bewirtschaftungsformen des Landes. Diese Probleme sind nur durch intensive Feldforschungen zu klären, weil darüber in der schriftlichen Überlieferung kaum etwas zu finden ist.
Lykien eignet sich besonders für derartige Untersuchungen, da es nicht nur in der Antike historisch-politisch eine Randlage aufwies, sondern erst recht seit der Eroberung durch seldschukische und osmanische Turkvölker im 12. und 13. Jahrhundert. Offensichtlich sind fortan große Teile der Region weitgehend Nomaden überlassen worden.
Im Territorium von Kyaneai etwa haben Forschungsreisende noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts an mehreren Orten Zeltlager vorgefunden. Und wo kurz danach feste Dörfer gegründet wurden, weisen sie bis heute eine bescheidene Bausubstanz auf; nur in beschränktem Umfang sind dafür Steine nahegelegener antiker Ruinen verwendet worden. Aufgrund dieses Bruchs in der Siedlungskontinuität etwa zwischen dem 12. und dem 19. Jahrhundert ist das byzantinische und auch das antike Siedlungsbild weitgehend unversehrt erhalten, wenngleich die Mauern der Gebäude größtenteils eingestürzt sind.
Ein weiterer Vorteil des Gebiets von Kyaneai für die Feldforschung ist seine recht klare geographische Begrenzung. Als massiver Landblock türmt sich das Bergland von Yavu (benannt nach dem bereits erwähnten wichtigsten türkischen Dorf der Region) im Nordwesten über dem Kasaba-Tal empor, im Nordosten über der Schlucht des Demre-Flusses. Nach Süden dürfte die Grenze des Territoriums entlang dem höchsten Gebirgszug vor dem Geländeabfall zum Meer verlaufen sein. Ferner gehörte wohl noch ein schmaler Gebietsstreifen als Zugang zum Hafen Teimiussa zu dieser Polis.
In der verkarsteten, hügeligen Landschaft mit eingestreuten, meist kleinen Fruchtebenen war das etwa sechs Kilometer Luftlinie vom Meer entfernte Kyaneai in hellenistischer, römischer und byzantinischer Zeit das dominierende Siedlungszentrum, während in der klassischen Epoche offensichtlich noch andere gleichrangige Orte wie Korba im Norden, Trysa im Osten, Hoyran im Südosten, Avsar Tepesi im Südwesten und Tuse im Westen existierten. Diese größeren Siedlungen sind zum Teil schon im 19. Jahrhundert von englischen, österreichischen und deutschen Forschungsreisenden aufgesucht worden, nachdem seit etwa 1800 das Interesse an der türkischen Südküste und insbesondere an Lykien durch die Entdeckung der bedeutenden Monumente und Bauten von Xanthos geweckt worden war.
Eine österreichische Expedition unternahm in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine systematische Suche nach antiken Inschriften, so auch im Gebiet von Kyaneai, und transportierte die vorzüglich erhaltenen Reliefs des Heroons von Trysa (des Grabheiligtums eines lykischen Dynasten jenes Ortes) nach Wien. Aber selbst von den bedeutenderen Siedlungen der Region hinterließen die gelehrten Kundschafter nur sehr flüchtige und unvollständige Beschreibungen; siedlungsgeographische Fragestellungen interessierten damals nicht – man suchte Inschriften und Kunstschätze.
Nach einer Unterbrechung durch die beiden Weltkriege setzte mit den französischen Grabungen in Xanthos neuerlich die Beschäftigung mit Lykien ein, wobei das Interesse nun auf streng wissenschaftliche Forschung ausgerichtet war. Türkische Grabungen, zum Beispiel in Arykanda, Phaselis und Patara, sowie österreichische in Limyra folgten seit den sechziger Jahren. Zum Teil noch im Gang befindliche Feldforschungen unterschiedlicher Intensität und Zielrichtung gelten einzelnen Siedlungszentren, Bautypen und Gattungen von Monumenten (Grab- oder Kirchenbauten, Reliefs und Inschriften), aber nur im Falle der nordlykischen Orte Tyriaion und Balbura einer Siedlungskammer beziehungsweise Teilen einer solchen.
Die Methode
Unsere Erforschung des Territoriums von Kyaneai zielt auf eine vollständige Erfassung aller Siedlungsreste ab. Deshalb begehen wir das gesamte Gelände systematisch in Gruppen von drei bis fünf Personen, die jeweils einen Abstand von etwa 20 bis 30 Metern halten. Auf diese Weise kann uns kein Siedlungsrest von nennenswerter Bedeutung entgehen.
Diese Methode der Geländebegehung unterscheidet sich von der üblicherweise praktizierten Art des Surveys (so der eingebürgerte englische Fachterminus für Oberflächenerkundung), bei der nur ausgewählte Streifen eines Territoriums systematisch abgesucht werden.
Darüber, welches die beste Methode sei, hat es unter Archäologen und Historikern lebhafte Diskussionen gegeben. Die bisher im Bereich der antiken Welt angewandten Survey-Praktiken waren jedenfalls recht unterschiedlich. Dies wäre zu begrüßen, wenn dafür die jeweilige Beschaffenheit des Geländes, der Relikte und der Territoriumsgröße den Ausschlag gegeben hätte. Aber oft sind die Beschränktheit finanzieller Mittel und der vom Gastland zugestandenen Arbeitsmöglichkeiten sowie begrenzte Fragestellungen entscheidend; entsprechend bruchstückhaft sind die Befunde, und dem wissenschaftlichen Ergebnis mangelt es dann an Repräsentativität. Zu oft hat beispielsweise das Bestreben, generelle Strukturen aufzuhellen, den Blick auf die Bedeutung der historischen Individualität auch im Bereich der Siedlungsgeschichte versperrt.
Die selektive Begehung mag dort vertretbar sein, wo Baureste über der Erdoberfläche kaum oder gar nicht mehr vorhanden sind und allein die Kleinfunde – insbesondere von Keramik – die wesentlichen Aufschlüsse über die Besiedlung eines Gebietes geben müssen, wie etwa bei den britischen Feldforschungen in Böotien, über die in dieser Zeitschrift (Mai 1991, Seite 82) Anthony M. Suodgrass und John L. Bintliff berichtet haben. In solchen Fällen können ohnehin nur Zahl, Größe und Dauer von Siedlungen, nicht aber Einzelheiten ihrer Funktion und Geschichte erschlossen werden. Ferner kann in übersichtlichem Gelände, vor allem in Wüsten- und Steppengegenden oder in einer intensiv landwirtschaftlich genutzten Region, wo Siedlungsreste per Luftaufnahme erkennbar oder infolge völliger Erschließung ohnehin längst verzeichnet sind, eine selektive Begehung genügen. Aber in schwer überschaubaren, gebirgigen, mit dichter Vegetation bestandenen und kaum agrarisch kultivierten, dünn besiedelten Gebieten, deren antike Überreste nur zum geringen Teil bekannt sind, bedingt ein derartiges Verfahren unvermeidlich Versäumnisse und Fehlinterpretationen.
In nicht wenigen Gebieten der griechischen Welt, insbesondere Anatoliens, liegen eben solche Bedingungen vor. Dies gilt für Lykien fast generell und für die von uns erfaßte Region im besonderen.
Forschungsbedingungen und Befunde
Das Yavu-Bergland ist entwaldet, verödet und verkarstet – wohl weniger durch rigoroses Abholzen als vor allem infolge der nomadischen Lebensweise der Bevölkerung in der nachbyzantinischen Zeit. Die vordem angelegten Ackerterrassen wurden nicht mehr bewirtschaftet, und Ziegen fraßen die jungen Bäume ab. So erodierten die Hänge; das Erdreich wurde in die tiefer gelegenen Ebenen geschwemmt, wo es das antike Bodenniveau so hoch überlagert, daß auch der Pflug keine Scherben mehr an die Oberfläche bringt.
Besiedelt waren diese fruchtbaren Ovas in der Antike sehr wahrscheinlich ohnehin nicht; die Dörfer und Gutshöfe lagen an ihren Rändern auf natürlichen Terrassen, an Hängen oder auf Hügelkuppen, so daß jeder ackerbaufähige Fleck Erde genutzt werden konnte; und auf den kahlen Hügeln mit ihren teils sehr schroffen, scharfkantigen Felsen hat sich eine meist mehr als mannshohe dornige Macchia in oft urwaldähnlicher Dichte breitgemacht. Auch dort könnte man also nach Keramik gar nicht suchen. Wir finden sie nur in der unmittelbaren Umgebung von Siedlungsresten, wo die Vegetation nicht selten spärlicher ist.
Die Siedlungsverhältnisse aus an der Oberfläche aufgesammelten Kleinfunden erschließen zu wollen wäre mithin sinnlos gewesen. Und bei selektivem Begehen hätte man vermutlich die Fruchtebenen beziehungsweise ihre Ränder und den unteren Teil der Hänge sowie allenfalls stichprobenartig die Hügelkuppen untersucht. Auf diese Weise hätte man zwar eine Reihe von Siedlungen und Gutshöfen entdecken und Rückschlüsse auf die Siedlungsdichte der Areale nahe den Ovas ziehen können; aber so wären einem wesentliche und überraschende Befunde entgangen, die eine dichte Besiedlung auch der Berg- und Hügelkämme dokumentieren.
Hingegen erkannten wir durch systematisches Vorgehen und die Aufnahme aller Siedlungsreste, daß zwischen felsigem Gelände hier und da immer wieder kleine, heute oft mit Macchia bestandene Ovas genügend Ackerland für Gutshöfe und kleine Siedlungen geboten hatten. Und wir gewannen auf diese Weise vor allem wichtige Befunde etwa zur politischen Geographie oder der Beschaffenheit der Heiligtümer und damit zur spezifischen historischen Charakteristik des Gebiets, deren Aufspüren die Arbeit des Historikers von jener der Strukturwissenschaften abhebt.
Dazu gehört zum Beispiel eine in einer Hügelkuppe versteckte klassische Felsraumsiedlung mit einem Tempel etwas weiter unten am Hang, dessen Altar aus dem Felsen gehauen ist. Dieses ländliche Heiligtum vom Ende des 5., Anfang des 4. Jahrhunderts vor Christus ist der bisher früheste in Lykien nachweisbare Tempel mit einem griechischen Grundriß.
Wohl nur durch vollständige Erschließung des Forschungsareals war auch die auf einer Hügelkuppe gegenüber dem türkischen Dorf Büyük Çerler liegende klassische Festung zu entdecken, deren bis zu vier Mauerringe nach Westen, gegen die klassische Burg von Tüse, gerichtet sind. Der auf dem dicht bewaldeten Avsar Tepesi versteckte große lykische Herrensitz – neben jenem von Tüse der zumindest von seiner Siedlungsfläche her bedeutendste unseres Gebietes – war bisher vollkommen unbekannt, obwohl seine Festungsmauern teilweise mehr als sechs Meter hoch erhalten sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre bei einem selektiven Survey des weiteren die kleine, südlich von Korba gelegene Festung übersehen worden, die das Vorland dieses Dynastensitzes gegen Kyaneai sicherte, ferner das einen Paß sperrende Fort etwa 1,5 Kilometer nördlich von Tüse; ganz gewiß hätte man die beiden Fluchtburgen nicht gefunden, die im Norden des Tüse-Bergrückens möglicherweise das Gebiet von Korba gegen Tüse verteidigen sollten und zwischen schroffen Felsen verborgen liegen, sowie die Festungsanlagen, die das unmittelbare Umland von Kyneai nach Westen und Norden hin schützten. Diese Festungen beweisen aber, daß in der klassischen Epoche (im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus) das Bergland von Yavu noch nicht unter der Herrschaft von Kyaneai zusammengefaßt war, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Dynastensitze mit ihren aus kyklopischem Mauerwerk errichteten Burgen in Rivalität zueinander standen.
Deren jeweiliger Geltungsanspruch wird auch durch eindrucksvolle Grabanlagen – sowohl Tumuli (Grabhügel) also auch Pfeiler- und sogenannte Heroengräber – dokumentiert, in denen die Burgherren sich und ihre Familienmitglieder bestatten ließen. Reliefs von beachtlicher künstlerischer Qualität (Bild 4) und lykische Inschriften, bisweilen mit einer griechischen Parallelversion, bezeugen das damit verbundene Repräsentations- und Geltungsbedürfnis. Von solchen Reliefs und Inschriften fertigen wir Silikonabgüsse an, um diese allmählich verwitternden Monumente wenigstens im Duplikat zu erhalten.
Ebenfalls nur bei lückenloser Begehung des Geländes war die auffallend gleichmäßige Verteilung sogenannter Turmgehöfte über das Territorium von Kyaneai in hellenistischer Zeit zu erkennen. Solche Anwesen gibt es offensichtlich seit klassischer Zeit. Der zentrale rechteckige oder quadratische Turm mit mehr als ein Meter dicken Mauern entsprach nicht nur einem gewissen Sicherheits-, sondern auch dem Repräsentationsbedürfnis. Dies wird besonders deutlich in der hellenistischen Epoche (3. bis 1. Jahrhundert vor Christus), als diese Art des Gehöfts am weitesten verbreitet war: Die Türme wurden damals aus sorgfältig behauenen Bossenquadern errichtet, bei denen aus dekorativen Gründen der Rand weiter abgearbeitet ist als die Mitte; dieses ästhetische, zweifellos kostspielige Mauerwerk unterstrich Macht und Reichtum der Besitzer.
Der Ort Kyaneai und sein Umland
Die gleichmäßige Verteilung der hellenistischen Turmgehöfte deutet auf eine weitgehende Kontrolle des Landgebiets durch eine Aristokratie hin, die zwar selbstbewußt und einflußreich, aber zugleich eine Gemeinschaft von Gleichen war. Die klassischen Dynastensitze existierten zu dieser Zeit nicht mehr; Kyaneai hatte das Yavu-Bergland unter seine Kontrolle gebracht und in das Territorium einer Polis verwandelt. Etwa gleichzeitig um die Wende vom 4. zum 3. vorchristlichen Jahrhundert dürfte das Siedlungszentrum selbst radikal umgestaltet worden sein.
Die lykische Dynastenburg auf der Akropolis wurde völlig abgerissen – vom klassischen Kyaneai blieben im wesentlichen nur Felsengräber und mit kunstvollen Reliefs ausgestattete Sarkophage. Es entstand nun eine Siedlung nach griechischem Muster: Eine Stadtmauer umgab ein Siedlungsareal von 4,4 Hektar, und ungefähr in dessen Mitte wurde ein freier Platz als politisches und wirtschaftliches Zentrum (Agora) angelegt (Bilder 5 und 6).
Die frühen Phasen der Stadtentwicklung sind in Kyaneai schwer faßbar, weil die zum Teil mehrere Meter hohen Baureste meist in die spätrömische oder gar byzantinische Epoche gehören. Hellenistisch sind – außer Teilen der Stadtmauer – auf jeden Fall ein heute unter der Erde liegender Hallenbau an der Westseite der Agora, eine sich an der westlichen Stadtmauer entlangziehende Pfeilerhalle sowie ein repräsentativer, in seiner Funktion jedoch noch unklarer Bau im Südosten der Stadt. Zweifellos geht auch die bis zum Untergang der Siedlung beibehaltene Regelmäßigkeit in der Anlage der einzelnen Quartiere, die sich in ihrer Ausrichtung oft am Verlauf der Stadtmauer orientieren, auf die ursprüngliche Stadtplanung zurück.
Insbesondere im Hinblick auf die frühe Geschichte solcher Gemeinwesen zeigen sich mithin die Grenzen einer auf die Erdoberfläche beschränkten Feldforschung, die sinnvollerweise jeder Ausgrabung vorausgehen sollte, aber an einem bestimmten Punkt ihrer auch bedarf, um grundlegende historische Fragen zu klären. Aus finanziellen und organisatorischen Gründen sind Ausgrabungen freilich nur gelegentlich möglich, und so werden für zahlreiche antike Orte noch über Jahrzehnte Surveys maßgebend für die Rekonstruktion ihrer Geschichte sein.
Je später die Epoche, desto bessere Ergebnisse vermögen Oberflächenuntersuchungen aber zu liefern. Im Falle von Kyaneai kann man für die römische Kaiserzeit (1. bis 3. Jahrhundert) bereits erheblich detailliertere Angaben zum Stadtbild gewinnen als für die hellenistische Phase.
Dies dürfte der zivilisatorische Höhepunkt in der Geschichte Kyaneais gewesen sein. Die meisten Sarkophage – von denen es hier mehr als irgend sonst in Lykien gibt – der rings um die Stadt sich ausdehnenden Nekropolen sind kaiserzeitlich und lassen auf eine große Zahl wohlhabender Familien schließen. Die über der Erde sichtbaren, teils noch sehr gut erhaltenen Großbauten der Epoche umfassen ein Theater, zwei Thermen, eine Markthalle am Nordrand der Agora und eine weitere im Südosten der Stadt sowie öffentliche Gebäude nordöstlich der Agora, darunter vielleicht die inschriftlich bezeugte Bibliothek und mit Sicherheit das Rathaus. In der nordöstlichen Stadtmauer läßt sich aus einem Trümmerhaufen von etwa 150 Architekturteilen ein dreibogiges zweistöckiges Triumph-Tor rekonstruieren. Der Tempel der Hauptgöttin von Kyaneai, Eleuthera, wurde in der Spätantike völlig abgetragen; er stand vermutlich auf einem Felspodium am östlichen Rand des sich vor dem Theater erstreckenden großen freien Platzes. Teile des Gebälks mit der Bauinschrift entdeckten wir in der Zisterne der Nekropolenbasilika verbaut.
Zu erwähnen ist ferner ein gut gebautes Wohnviertel im Osten der Stadt, in dem ein etwa fünf Meter hohes, verziertes Portal den Eingang zum Haus eines besonders angesehenen Bürgers gebildet haben dürfte. Marmor war in Kyaneai offensichtlich eher selten; aber zahlreiche in späte Mauern verbaute recht kunstvolle Architekturteile (sogenannte Spolien) aus Kalkstein zeugen davon, daß Kyaneai zumindest das in der Kaiserzeit übliche Niveau kleiner Provinzstädte hatte.
Mäzene waren an der Finanzierung der öffentlichen Bauten maßgeblich beteiligt. Den Tempel stiftete ein gewisser Kallippos, die Bibliothek Iason, im 2. Jahrhundert nach Christus der wohl reichste und bedeutendste Bürger – ihm wurde etwa 500 Meter südöstlich der Stadt ein großes Ehrenmonument mit einer auf fast 15 Metern Breite und 1,50 Metern Höhe in den Felsen gemeißelten Inschrift errichtet.
Solche wohlhabenden Bürger bezogen ihre Einkünfte zweifellos vor allem aus Landgütern wie jenem in etwa 1000 Meter Luftlinie südwestlich der Stadt gelegenen, das wir nach einem seiner Besitzer Alkimos-Hof nannten; zwei verschiedene Familien sind als aufeinanderfolgende Eigentümer in der Kaiserzeit bezeugt. Ein beeindruckendes Ensemble von vier Sarkophagen, von denen zwei wohl bronzene Reiterstatuen trugen, und mehrere Ehrenmonumente zeugen vom Reichtum und Stolz der Gutsherren. Ihre Herkunft aus den beiden zentrallykischen Orten Arneai und Aperlai verweist darauf, daß die Elite über die Grenzen der einzelnen Poleis hinaus in Immobilien investierte.
Dokumentation und Deutung
Es ist bezeichnend für den Wandel der wissenschaftlichen Fragestellung, daß die erwähnte österreichische Expedition vor mehr als 100 Jahren zwar bereits die Inschriften der Sarkophage vom Alkimos-Hof verzeichnete, sie aber an verschiedenen Stellen ihrer Sammlung plazierte und das Landgut überhaupt nicht erwähnte. Desgleichen haben englische Forschungsreisende Mitte des 19. Jahrhunderts eine Sarkophag-Inschrift nahe Tüse aufgenommen, ohne das wenige Meter entfernte Anwesen zu beachten, dessen zeitweiliger Besitzer erwähnt ist.
Einigermaßen erhaltene Gehöfte wie das des Alkimos werden von uns sorgfältig vermessen, einschließlich eventuell erhaltener nahegelegener Ackerterrassen. Außer einem Grundriß fertigen wir in Einzelfällen auch Steinpläne und Ansichten an, um die Bautechnik mit anderem, möglicherweise besser datierbarem Mauerwerk vergleichen zu können. Allerdings lohnt es nicht, alle der zahlreichen Relikte, die wir im Umland von Kyaneai aufgefunden haben, in so sorgfältiger Weise zu dokumentieren, denn sie sind von unterschiedlichem Erhaltungszustand und historischem Aussagewert. Auf den bisher systematisch begangenen 42 Quadratkilometern haben wir etwa 1200 Siedlungsbefunde verzeichnet – das ist eine bisher für keine andere Region der antiken Welt beobachtete Befunddichte. Dazu zählen acht lykische Herrensitze, acht kleinere Festungen, 33 kleinere und größere Siedlungen, 136 mit Sicherheit als Gehöfte zu identifizierende Anlagen, rund 220 weitere Raumkomplexe, in der Mehrzahl wohl kleine und kleinste Bauernstellen oder Hirtenunterkünfte, des weiteren etwa 90 Grabanlagen, 200 Terrassenmauerkomplexe, 50 Öl- oder Weinpressen und 150 Zisternen, welche die vorwiegende Methode der Wasserversorgung in diesem offensichtlich schon in der Antike trockenen, an Quellen armen Gebiet belegen. Sechs Steinbrüche, ebensoviele Kalkgruben und etwa 30 Brennöfen zeigen an, daß es außer der agrarischen auch eine gewerbliche Produktion gab.
Die entdeckten Baureste werden alle per Kompaß lokalisiert, beschrieben und – soweit sie offenbar nicht besondere Bedeutung haben – mit Maßband und Zollstock eingemessen sowie photographiert. Die Ruinen und ihre unmittelbare Umgebung suchen wir nach Keramik und anderen Kleinfunden ab. Wichtige Komplexe und Objekte wie Siedlungen, Festungen, besser erhaltene Gutshöfe, Heiligtümer und Grabmonumente werden schließlich exakt bestimmt und mit modernstem elektronischem Gerät geodätisch vermessen, was eine spätere Planzeichnung am Schreibtisch ermöglicht. So können selbst große ländliche Siedlungen binnen ein bis zwei Tagen komplett eingemessen werden.
Unseren Befunden zufolge war die heute fast völlig verödete Landschaft, deren ärmliche türkische Dörfer von den arbeitsfähigen Männern zunehmend verlassen werden, in der Antike dicht besiedelt und bis weit die Hänge hinauf intensiv bewirtschaftet – mit Getreidefeldern sowie Wein- und Olivenplantagen. Der aufwendige urbane Ausbau Kyaneais in der Kaiserzeit erforderte die Nutzung aller agrarischen Ressourcen. Heute könnte die Region nicht im entferntesten ein derartiges städtisches Zentrum finanzieren und ernähren.
Der Höhepunkt der Besiedlung lag wohl in römischer und byzantinischer Zeit (1. bis 12. Jahrhundert). Aus Mauertechnik und Keramikfunden ist zu schließen, daß selbst Gutshöfe des 5. oder 4. Jahrhunderts vor Christus noch in der Spätantike oder weit darüber hinaus bewirtschaftet wurden. Andererseits sind Siedlungen, deren Mörtelmauerwerk aus kleinteiligem Steinmaterial auf eine späte Entstehungszeit hindeutet, offensichtlich nicht selten über Vorläufern entstanden, die in die hellenistische Epoche zurückreichen.
Unsere Untersuchungen werden dazu beitragen, manche der einleitend erwähnten offenen Fragen zur antiken Siedlungsstruktur einer Klärung näherzuführen. So haben wir festgestellt, daß der Gürtel der Gehöfte bereits in einer Entfernung von 200 bis 300 Metern vom Mauerring Kyaneais begann, mithin direkt an die suburbane Zone angrenzte. Daraus muß man schließen, daß auch die das unmittelbare Umland bearbeitende bäuerliche Bevölkerung zum größten Teil nicht in der Stadt selbst wohnte.
Die Bevölkerung innerhalb deren Mauern kann ohnehin nicht sehr zahlreich gewesen sein, denn von den 4,5 Hektar Siedlungsfläche nahmen öffentliche Gebäude wohl wenigsten die Hälfte ein. Kaum mehr als 1000 bis 1500 Menschen werden in den gut gebauten Wohnquartieren östlich der Agora, den Felsräumen im Westen und dem offensichtlich schlechter gebauten und deshalb dann durch Erdbeben völlig zerstörten Quartier im Norden gelebt haben sowie allenfalls einige hundert in den relativ wenigen steinernen und weiteren vielleicht aus vergänglichem Material (Holz oder Fachwerk) gebauten Häusern außerhalb der Mauern.
Einwohner der Stadt dürften zum einen wohlhabendere Grundbesitzer gewesen sein, zum anderen Händler, die ihre Waren in den Markthallen vertrieben, und schließlich Personal der Thermen, der Bibliothek und anderer Einrichtungen. Die Handwerker waren wohl vor allem im suburbanen Gürtel ansässig, so in jenem Sektor mit teils aus dem Felsen gehauenen Häusern westlich des Theaters, wo ein großer Schutthaufen aus Abschlägen sowie nahegelegene Steinbrüche von der Tätigkeit von Steinmetzen zeugen.
Für Bauern und Landarbeiter war in Kyaneai folglich kaum Platz. Der Ort fungierte in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, religiös-kultischer und kultureller Hinsicht vor allem als Dienstleistungszentrum.
Ein dichtes Verkehrsnetz – bisher haben wir etwa 20 antike Wege im Umland registriert – verband die ländlichen Siedlungen untereinander und mit der Stadt. Diese wiederum sicherte den Kontakt zur Außenwelt und damit zu Fernhandelsprodukten über eine teils gepflasterte, teils kunstvoll aus dem Felsen gehauenen Straße zum Meereshafen Teimiussa(Bild 9); mit dem Namen des jeweiligen Fabrikanten gestempelte Amphorenhenkel, die wir in ländlichen Siedlungen fanden, bezeugen Kontakte mit der an Lykien stets besonders interessierten Handelsmacht Rhodos, die unter anderem die küstennahe Insel Megiste kontrollierte. Hinzu kam eine große Überlandstraße, die etwa auf der Linie der heutigen wichtigsten Verbindungsstraße unterhalb der Akropolis von Kyaneai verlaufen sein muß. Sie führte zu den bedeutenden, mit Häfen ausgestatteten Zentren Antiphellos (dem heutigen Kas) im Südwesten und Myra im Osten.
Der ländliche Raum
Aufschlüsse ergibt unser Forschungsprojekt auch über die ländlichen Siedlungsverhältnisse. Die Anwesen dort haben ganz unterschiedliche Größen – die Zahl der Räume im Erdgeschoß schwankt zwischen einem oder zweien und einem Dutzend. Das läßt auf soziale und ökonomische Differenzierungen und Abhängigkeitsverhältnisse schließen, die wir im Detail aus dem bloßen archäologischen Befund kaum werden rekonstruieren können.
Bemerkenswert ist auch das Nebeneinander von Einzelgehöften und kleineren oder größeren Siedlungen agrarischen Charakters, die man als Dörfer bezeichnen kann. Dies unterschied Lykien von den westlichen Provinzen des Römischen Reiches, in denen die Villa Rustica (der Gutshof) die grundlegende agrarische Wirtschaftseinheit war und ansonsten nur Verkehrssiedlungen etwa an Straßenkreuzungen angelegt wurden, aber keine Bauerndörfer.
Die Siedlungen unseres Forschungsgebiets bestehen bisweilen aus einem Gutshof mit wenigen angegliederten Bauernstellen; auf diese mag der in den antiken schriftlichen Quellen verwendete Begriff chorion, der eine ländliche Kleinsiedlung bezeichnet, anwendbar sein. Bei den größeren Siedlungen hingegen dürfte es sich um komai handeln, die Zentren eines ländlichen Verwaltungsdistrikts waren. Ein aus dem Felsen gehauener theaterförmiger Versammlungsplatz im heutigen türkischen Dorf Güneyyaka dürfte ein solches Komen-Zentrum anzeigen.
Diese Gemeinwesen hatten zumeist eine agrarische Lebensgrundlage, wie Ölpressen anzeigen. In ihrer Umgebung boten aber auch Dolinen (Eintiefungen im Gestein) die Möglichkeit zur Kalkgewinnung; und manche Orte hatten wohl gar einen stark gewerblichen Charakter. So entdeckten wir in einer am Rand der Ebene von Yavu gelegenen Terrassensiedlung Brennöfen, Eisenschlacken und Vorrichtungen zur Keramikherstellung. Und allenthalben weisen Keramikbrennöfen auf die Eigenproduktion von Amphoren hin, welche die Erzeugnisse der Öl- und Weinernte aufnahmen.
Diese Vitalität des ländlichen Raumes erhielt oder steigerte sich gar noch in spätantiker und byzantinischer Zeit. Dies überrascht angesichts des rapiden Rückgangs der Inschriftenzahl und des in der modernen Forschung gemeinhin postulierten politischen, ökonomischen und kulturellen Niedergangs in der Spätantike. Fast alle von uns entdeckten ländlichen Siedlungen weisen für diese Phase rege Bautätigkeit auf; manche sind vielleicht damals überhaupt erst entstanden.
Funde grüner oder gelber glasierter Keramik zeigen eine Kontinuität bis in mittelbyzantinische Zeit an. Zudem haben wir die Ruinen kleiner Kirchen gefunden, bisher 15 auf den systematisch begangenen 42 Quadratkilometern. Sie sind meist in Randlage wie zum magichen Schutz der Siedlungen errichtet worden. Vom Bautypus her scheinen sie frühestens ins 7. bis 9. Jahrhundert zu gehören und zeugen von der tiefgreifenden Christianisierung der Landschaft.
Dabei blieb indes manche antike Tradition unterschwellig gewahrt. Zum Beispiel hat ein Sarkophag, der etwa einen Kilometer südlich von Kyaneai steht, einen Deckel des alten lykischen Typs, ist aber mit christlichen Symbolen geschmückt; und bestattet wurde darin ein Mann namens Johannes.
Lage und Entwicklung der Siedlungen in der von uns untersuchten Region waren deutlich abhängig von den politischen Rahmenbedingungen. Während in der klassischen Zeit mancherorts Befestigungen errichtet oder zumindest natürliche Verteidigungsanlagen – etwa auf einer felsigen Hügelkuppe – genutzt wurden, bevorzugte man bereits in hellenistischer Zeit die unteren Abschnitte von Hängen oder flache Hügelkuppen. Die Pax Romana, das besonders im 1. Jahrhundert von den römischen Kaisern garantierte Rechts- und Sicherheitssystem für das gesamte Imperium, machte dann Schutzmaßnahmen weitgehend überflüssig. Dies zeigt sich etwa an dem in einer Senke gelegenen und mit normaler Mauerstärke aufgeführten Alkimos-Hof, aber auch an den zahlreichen kaiserzeitlichen Siedlungen, die unbefestigt auf natürlichen Ackerterrassen gleich oberhalb der Fruchtebenen gebaut wurden.
Auch bei den späten Siedlungen sind keine Verteidigungsanlagen zu finden. Dies läßt vermuten, daß selbst vom 4. nachchristlichen Jahrhundert an das Sicherheitsbedürfnis der Landbevölkerung nicht sonderlich ausgeprägt war, obwohl der Überlieferung nach Räuberwesen, innenpolitische Spannungen und Einfälle äußerer Feinde – besonders der persischen Sassaniden, der Ostgermanen und schließlich der Araber – weite Teile Anatoliens in Unruhe versetzten. Nicht einmal die gelegentlichen Landungen arabischer Trupps an der nahen Küste scheinen großen Schrecken verbreitet zu haben – oder das Landvolk wurde rechtzeitig gewarnt und zog sich in das Siedlungszentrum Kyaneai zurück.
Blütezeit des Christentums und Verfall
Mit seinen oft noch fünf und mehr Meter hochstehenden Bauresten ist Kyaneai eine byzantinische Stadt – wohl eine der am besten erhaltenen. Hier wurde in der Spätantike und dann nochmals in byzantinischer Zeit die vermutlich während der Pax Romana zum Teil verfallene Stadtmauer erneuert, streckenweise an den Steilhang vorgeschoben und verstärkt. An der Ostseite behielt man dort, wo der Hang flacher wird, auch die weiter oberhalb der neuen Mauer verlaufende hellenistische Verteidigungslinie bei und baute ein Stadttor ein.
Letztlich blieben diese Bemühungen aber erfolglos. Im Nordosten ist die Mauer an einer Stelle, wo sich ein monumentales Tor befand, gründlich zerstört worden. Eine große Aufschüttung außen war möglicherweise der Belagerungshügel, von dem aus die Eroberer in die Stadt eindrangen. Ob es seldschukische oder osmanische Gegner waren oder Kyaneai innenpolitischen Wirren im byzantinischen Reich zum Opfer fiel, wissen wir – noch – nicht.
Jedenfalls blieb der Ort bis zu diesem Zeitpunkt unseren Befunden nach ein vitales urbanes Zentrum. Zwar waren die antiken politischen Institutionen verfallen und ihre Bauten umgestaltet oder zweckentfremdet worden. Das Steinmaterial des Eleuthera-Tempels muß um das Jahr 500 sogar vollständig zum Bau einer dreischiffigen christlichen Basilika in der Nekropole zwischen Stadtmauer und Theater geplündert worden sein; Rathaus und Bibliothek wurden anscheinend in Wohnhäuser umgewandelt und die großen Thermen im Westen irgendwann in byzantinischer Zeit zumindest teilweise als Zisterne benutzt. Aber man wahrte im großen und ganzen den seit der hellenistischen Zeit überkommenen Stadtgrundriß und fügte ihm gar die Kirchen unter Verzicht auf eine exakte Ost-Orientierung ein.
Wohl schon im 6. Jahrhundert wurde im Süden und Norden der Stadt je eine große dreischiffige Basilika errichtet. Der nördlichen sind wir auf die Spur gekommen, als wir feststellten, daß eine spätere kleine Kapelle in eine viel zu große Apsis hineingebaut war. Etwa 25 Meter westlich davon fanden wir in dichtem Gebüsch einen mächtigen, reich geschmückten Türsturz mit der Stiftungsinschrift für eine Marienkirche (Bild 10). Daraufhin vermaßen wir die kaum mehr erkennbaren, völlig verstürzten Mauerreste zwischen Apsis und Türsturz sorgfältig und konnten die Basilika rekonstruieren.
Laut Stiftungsinschrift hat ein Bischof Synesios diese Kirche der Gottesgebärerin Maria geweiht; die Marienformel weist auf die Zeit nach dem Konzil von Ephesos im Jahre 439 hin. Byzantinische Bistumslisten führen Kyaneai zwischen 530 und 869 als Suffragan-Bistum der Diözese Myra (Suffragan ist der einem Metropoliten unterstellte Ortsbischof). Mit drei wohl gleichzeitig existierenden Basiliken erweist sich die Stadt dieser Phase als ein nicht unbedeutendes christliches Zentrum.
Zu einem noch nicht näher datierbaren Zeitpunkt muß freilich die Kontrolle des östlichen Mittelmeerraums durch die Araber und das dadurch bedingte Abschneiden der Überseeverbindungen zu den reichen Ländern des Nahen Ostens (Syrien, Palästina, Ägypten) den Niedergang der Region eingeleitet haben. Es mangelte an Mitteln und architektonischen Kenntnissen, um die Bausubstanz der Basiliken zu erhalten; man ersetzte sie durch kleinere, grob gemauerte Kirchen oder Kapellen – sechs haben wir entdeckt.
Demnach waren die verschiedenen Stadtviertel noch besiedelt. Der Verfall der Architektur muß mithin nicht mit einem Bevölkerungsschwund einhergegangen sein. Dagegen spricht auch die Instandhaltung beziehungsweise der Ausbau des Netzes von Zisternen in byzantinischer Zeit, das den Boden Kyaneais förmlich unterhöhlte und mangels Quellen und Aquädukten allein die Wasserversorgung sicherte.
Die Verödung der Stadt und ihrer Umgebung ist – wie vorn bereits gesagt – am ehesten zu verbinden mit dem Eindringen von Nomadenstämmen seit dem 12. oder 13. Jahrhundert. Die ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen prägen das Landschafts- und Siedlungsbild bis heute. Weil gegenwärtig die arbeitsfähige Landbevölkerung in das Gewächshauszentrum Demre abwandert oder in Berufe wie den Straßenbau wechselt, werden sogar die meisten der erst im 19. Jahrhundert gegründeten Dörfer zunehmend aufgelassen.
Unterdes hat die rührige Forstverwaltung von Kas¸ große Areale mit Kiefern bepflanzt. Die Bulldozer haben dabei die Relikte manches antiken Gutshofes zerstört, und in 30 Jahren wird die Region durch die Wälder völlig verändert sein. Aber der dann wieder entstehende Humusboden auf den Hängen kann sie langfristig erneut in eine fruchtbare Agrarlandschaft wie in der Antike verwandeln. Daß das lykische Kerngebiet dieses Potential hat, zeigen unsere Forschungen mit aller Deutlichkeit.
Weil solche grundlegenden landschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen wohl unausweichlich sind, ist die Bestandsaufnahme der antiken Ruinen um so dringlicher. Grabungen, die den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sind aber ungemein zeitraubend, kostspielig und auf kleine Flächen begrenzt. Deshalb muß angesichts des immensen über der Erdoberfläche vorhandenen, noch nicht erkundeten Denkmälerbestandes in Regionen wie Anatolien die systematische Feldbegehung in den nächsten Jahrzehnten die dominierende archäologisch-historische Methode werden, wenn diese Monumente für die Forschung und wenigstens teilweise auch in ihrem Fortbestand für kommende Generationen gerettet werden sollen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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