Eine Lösung für Zenons Paradoxien
Seit der altgriechische Philosoph zu beweisen suchte, daß jegliche Bewegung logisch unmöglich sei, grübeln Denker über seinen Rätseln. Nun bietet die mathematische Logik eine Lösung an, indem sie das unmeßbar Kleine in strenge Begriffe faßt.
Einst begegnete Achilles einer Schildkröte, deren Geist flinker war als ihre Beine. Sie forderte den athletischen Helden zum Wettlauf heraus, und er willigte belustigt ein. Die Schildkröte bat allerdings wegen ihrer sprichwörtlichen Langsamkeit um einen Startvorsprung. Den räumte Achilles ihr großzügig ein, und sie begann eifrig davonzukriechen; er aber ließ sich viel Zeit, schnürte seine Sandalen fester und lief ihr endlich nach.
In kürzester Zeit überwand er die Entfernung, die ihn beim Start von der Schildkröte getrennt hatte. Zwar war auch das Tier unterdessen ein kleines Stückchen weitergekommen, doch diesen geringeren Abstand legte Achilles noch rascher zurück. Allerdings war die Schildkröte auch in dieser Spanne wieder ein bißchen vorangerückt, und während Achilles den neuen Vorsprung einholte, war sie wiederum ein kleines Stückchen weiter. Mit einem Wort: Gleichgültig, wie schnell Achilles rannte, immer blieb die Schildkröte vorn – und so vermochte der berühmte Läufer das schwerfällige Reptil niemals zu überholen.
Die Fabel ist das bekannteste Beispiel für die Zenonschen Paradoxien, welche die Unmöglichkeit jeder Bewegung beweisen sollen. Zenon (um 490 bis 430 vor Christus) wollte damit die philosophischen Ideen seines Lehrmeisters Parmenides (geboren um 515 vor Christus) verteidigen. Beide Denker waren Bürger der griechischen Kolonie Elea in Süditalien.
Möglicherweise haben Parmenides und Zenon um 445 vor unserer Zeitrechnung in Athen mit Sokrates (etwa 470 bis 399 vor Christus) über grundlegende philosophische Probleme debattiert; jedenfalls berichtet Platon (427 bis 347 vor Christus) in seinem hochkomplizierten Dialog "Parmenides" von dieser geistigen Auseinandersetzung.
Parmenides – damals schon ein berühmter Denker von fast 65 Jahren – konfrontiert darin den jungen Sokrates mit der erstaunlichen Behauptung, das Seiende (die Wirklichkeit) sei eine ganzheitliche, unveränderliche, einheitliche Wesenheit. Die Welt sei gleichsam lückenlos und aus einem Stück. Insbesondere sei Bewegung unmöglich.
Obwohl die strikte Ablehnung von Vielheit und Wandel auf den ersten Blick absurd erscheint, hat diese Idee zahlreiche Gelehrte beschäftigt. Zum Beispiel griff ein Vertreter des sogenannten absoluten Idealismus, der englische Philosoph Francis Herbert Bradley (1846 bis 1924), in seinen Attacken auf den Empirismus Überlegungen des Parmenides wieder auf.
Ein derartiges Bild der Welt widerspricht freilich unserer Alltagserfahrung und erklärt die unmittelbare Wahrnehmung für Illusion. Dennoch – oder gerade darum – liefern die Zenonschen Paradoxien, die in den Schriften von Platons Schüler Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) überliefert sind, seit bald zweieinhalb Jahrtausenden Stoff für Debatten und Analysen. Erst heute ermöglicht eine neuartige, kaum zwanzig Jahre alte Formulierung der Differential- und Integralrechnung die Lösung der Zenonschen Rätsel. Sie beruht auf dem von alters her bekannten, jedoch bis vor kurzem bei Mathematikern und Philosophen umstrittenen Begriff der Infinitesimalen.
Zenons Beweisführung
Die Fabel von Achilles und der Schildkröte illustriert eine von drei Zenonschen Paradoxien, und zwar die sogenannte Dichotomie: Jede Entfernung, die ein bewegtes Objekt zurückzulegen hat, läßt sich durch fortgesetztes Halbieren ( und so weiter) in unendlich viele Teilabstände zerlegen, wobei immer ein Abstand übrigbleibt, der noch zu überwinden ist. Darum behauptete Zenon, keine Bewegung lasse sich je vollständig ausführen, weil stets noch ein Wegstück fehle, wie klein es auch immer sei (Bild 1). Es ist wichtig festzuhalten, daß er nicht sagte, unendlich viele Strecken könnten nicht zu einer endlichen Entfernung aufsummiert werden (ein Blick auf die Geometrie einer unendlich fein zerteilten Linie zeigt unmittelbar, ohne spitzfindige Berechnungen, daß eine unendliche Anzahl von Stücken ein endliches Intervall ergibt). Vielmehr zielt Zenons Einwand auf die Schwierigkeit, eine unendliche Anzahl von Einzelaktionen – das Durchqueren immer kleinerer Intervalle – hintereinander vollständig auszuführen. Einen zweiten Angriff auf die begrifflichen Grundlagen der Bewegung unternahm Zenon, indem er die erste Beweisführung gewissermaßen andersherum betrachtete. Dieses Paradoxon lautet so: Bevor ein Gegenstand – etwa ein Pfeil – die Hälfte seiner Flugbahn zurücklegen kann (das wurde ihm im vorigen Falle immerhin zugestanden), muß er erst ein Viertel des Gesamtwegs durchqueren. Wie beim ersten Einwand läßt sich diese Überlegung beliebig oft wiederholen und ergibt eine unendliche Regression – womit gezeigt wäre, daß eine Bewegung nicht nur nicht vollendet, sondern nicht einmal begonnen werden kann. Zenons drittes Paradoxon verläuft ganz anders. Es behauptet, schon der Begriff Bewegung sei inhaltsleer. Der Denker lädt uns ein, den Pfeil in einem beliebigen Moment während des Fluges zu betrachten. Zu diesem Zeitpunkt erfüllt der Pfeil ein Raumgebiet, das so lang ist wie er selbst; dabei ist keinerlei Bewegung zu bemerken. Weil diese Beobachtung in jedem Moment wahr ist, kann der Pfeil niemals in Bewegung sein. Dieser Einwand ("Der fliegende Pfeil steht!") hat sich historisch für Zenons Widersacher als der unbequemste erwiesen. Viele Philosophen und Mathematiker haben versucht, Zenons Einwänden zu begegnen. Die einfachste Methode ist, das Problem glatt zu leugnen. Zum Beispiel schrieb der deutsche Philosophie-Professor Johann Gottlieb Waldin im Jahre 1782, daß die eleatische Lehre, indem sie gegen die Bewegung argumentiere, doch zugebe, daß es Bewegung gebe. Offensichtlich kannte dieser Gelehrte nicht den jedem Mathematiker wohlvertrauten Widerspruchsbeweis (reductio ad absurdum): Man nehme einen Sachverhalt an und zeige dann, daß er durch logisches Schlußfolgern zu einem Widerspruch führt. Doch andere Denker erzielten gewisse Fortschritte in der Frage, wie sich in der materiellen Welt eine Abfolge unendlich vieler Vorgänge ereignen könne. Ihre Erklärungen waren stets mit der Idee von Infinitesimalen verflochten – räumlichen oder zeitlichen Abständen, die den Inbegriff der Kleinheit verkörpern. Man nahm an, eine infinitesimale Größe sei so nahe null, daß sie ohne zahlenmäßige Wirkung bleibe; sie entziehe sich jedem noch so exakten Meßvorgang – wie Sand, der durch jedes Sieb rieselt. So behauptete Giovanni Benedetti (1530 bis 1590), ein Vorgänger des italienischen Physikers Galileo Galilei (1564 bis 1642), daß Zenon, wenn ihm ein Gegenstand als mitten in der Luft erstarrt erscheine, tatsächlich nur einen Teil des ganzen Vorgangs sehe – um einen modernen Vergleich zu gebrauchen: als würde er Standphotos anstelle eines Kinofilms betrachten. Zwischen den ruhenden Bildern, die Zenon sehe, gebe es infinitesimal kleine Zeitabschnitte, in denen der Gegenstand sich um ebenso winzige Entfernungen fortbewege. Andere umgingen das Problem, indem sie meinten, daß physikalische Intervalle sich einfach nicht unendlich oft unterteilen lassen. Friedrich Adolf Trendelenburg (1802 bis 1872) von der Universität Berlin errichtete ein komplettes philosophisches Gebäude, das die menschliche Wahrnehmung aus der Bewegung erklärte. Auf diese Weise kam er um die Erklärung der Bewegung selbst herum. Ein ähnliches metaphysisches System entwarf in unserem Jahrhundert der englische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861 bis 1947); es beruhte auf dem Phänomen des Wandels, mit der Bewegung als Spezialfall. Whitehead widersprach Zenons Einwänden, indem er geltend machte, daß Ereignisse in der materiellen Welt eine gewisse Ausdehnung haben müssen und demnach nicht punktförmig sein können. Schon der schottische Philosoph David Hume (1711 bis 1776) hatte geschrieben: "Alle Vorstellungen von Größe, mit denen die Mathematiker arbeiten, sind immer nur Einzelvorstellungen, und zwar von den Sinnen und der Einbildungskraft eingegeben, können daher nicht ins Unendliche teilbar sein." Jedenfalls ist die Frage, ob Infinitesimale existieren oder nicht, kontrovers geblieben, und bis vor kurzem hielten die meisten Mathematiker sie für Hirngespinste. Auch der irische Bischof George Berkeley (1685 bis 1753) – vor allem bekannt als Verfechter eines radikalen Idealismus, der die Wirklichkeit der Materie leugnet – lehnte sie strikt ab. Wie er fand, gaben sich die Mathematiker seiner Zeit, insbesondere Isaac Newton (1643 bis 1727), in dieser Frage mit Scheinbegriffen ab. "Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine und doch auch nicht nichts. Dürfen wir sie nicht Geister verstorbener Größen nennen?" Weiter bemerkte er: "Wie auch immer die Mathematiker über Fluxionen [Newtons Ausdruck für Infinitesimale] oder über den Differentialkalkül und ähnliches denken, so wird ihnen eine kleine Erwägung doch zeigen, daß sie dabei keine Linien oder Flächen betrachten oder sich vorstellen, die kleiner sind als das sinnlich Wahrnehmbare." Andererseits fiel es den Mathematikern schwer, bei ihren Erfindungen ohne Infinitesimale auszukommen – so zuwider sie ihnen theoretisch auch sein mochten. Einige Historiker glauben, schon der in Syrakus lebende Grieche Archimedes (etwa 287 bis 212 vor Christus) habe manches mathematische Resultat mittels Infinitesimalen gewonnen und sie nur in der öffentlichen Darstellung vermieden. Im 17. und 18. Jahrhundert haben Infinitesimale in der Entwicklung sowohl der Differential- als auch der Integralrechnung ihre Spuren hinterlassen. Aus praktischen Gründen nutzen einführende Lehrbücher sie oft, um den Studenten gewisse Ideen der Analysis zu vermitteln. Doch als man die Existenz dieser kleinen Größen streng zu begründen suchte, tauchten unzählige Schwierigkeiten auf. Schließlich erfanden die Mathematiker des 19. Jahrhunderts einen kunstgerechten Ersatz: die Theorie der Grenzwerte. Ihr Sieg war so umfassend, daß einige Mathematiker von der Verbannung der Infinitesimalen sprachen. Aber im Jahre 1966 führte der Logiker Abraham Robinson von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) mit seiner sogenannten Nichtstandard-Analysis die geisterhaften Wesen erneut in die Mathematik ein. Seither sind noch mehrere andere Methoden entwickelt worden, die von ihnen Gebrauch machen.
Die Interne Mengenlehre (IST)
Als meine Mitarbeiterin Sylvia Miller und ich mit der Untersuchung der Zenonschen Paradoxien begannen, hatten wir den Vorteil, daß die Infinitesimalen bereits mathematisch respektiert wurden. Wir fanden sie attraktiv, weil sie eine mikroskopisch scharfe Sicht auf die Details der Bewegung versprachen. Edward Nelson von der Universität Princeton (New Jersey) hatte das für unsere Zwecke ideale Werkzeug geschaffen – eine Spielart der NichtstandardAnalysis mit dem recht trockenen Namen interne Mengenlehre (internal set theory, kurz IST).
Nelsons Methode erzeugt überraschende Deutungen scheinbar vertrauter mathematischer Strukturen. In ihrer Seltsamkeit ähneln die Ergebnisse gewissen Zügen der Quantentheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie. Da es Jahrzehnte gedauert hat, bis diese beiden Theorien allgemein anerkannt wurden, können wir Nelsons gedankliche Leistung nur bewundern.
Nelson wählte ein neuartiges Verfahren zur Definition von Infinitesimalen. Normalerweise erweitern die Mathematiker den bestehenden Zahlenbereich, indem sie Objekte mit erwünschten Eigenschaften hinzufügen – etwa so, wie die Brüche zwischen die ganzen Zahlen eingestreut werden. Tatsächlich ist der in der modernen Mathematik verwendete Zahlenbereich wie ein Korallenriff durch allmähliche Zubauten auf einer tragfähigen Grundlage gewachsen: "Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk", erklärte der deutsche Mathematiker Leopold Kronecker (1823 bis 1891). Hingegen faßt die interne Mengenlehre den vorhandenen Zahlenbereich gleichsam besonders scharf ins Auge und stellt dabei fest, daß er bereits Zahlen enthält, die sich zwanglos als Infinitesimale ansehen lassen (siehe Kasten auf dieser Seite).
Genauer gesagt fand Nelson auf der reellen Zahlengeraden sogenannte Nichtstandard-Zahlen, indem er drei Axiome zu den rund zehn logischen Grundvoraussetzungen hinzufügte, auf denen die meisten mathematischen Systeme aufbauen. (Die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre ist eine solche Grundlage.) Die Ergänzung führt das neue Prädikat "Standard" ein und gibt an, wie man herausfindet, welche unserer alten Bekannten im Zahlenbereich Standard sind und welche Nichtstandard. Erwartungsgemäß fallen die Infinitesimalen (sowie einige andere Zahlen, die ich später erörtern werde) in die Kategorie Nichtstandard.
Nelson definierte nun eine Infinitesimale als eine Zahl, die zwischen null und jeder positiven Standard-Zahl liegt. Auf den ersten Blick scheint dies keinen besonderen Begriff von Kleinheit auszudrücken, doch die Standard-Zahlen umfassen jede konkrete Zahl (sowie einige weitere), die man aufzuschreiben oder in einem Computer zu erzeugen vermag – sei es 10, Pi, 1/1000 oder was immer. Demzufolge ist eine Infinitesimale größer als null, aber kleiner als jede noch so kleine Zahl, die man sich hingeschrieben vorstellen kann. Daß solche Infinitesimalen überhaupt existieren, ist nicht unmittelbar offensichtlich; aber die begriffliche Gültigkeit von IST hat sich als ebenso robust erwiesen wie die anderer mathematischer Systeme, denen wir aus guten Gründen vertrauen.
Dennoch sind die Infinitesimalen wahrlich schwer zu fassen. Dies beruht auf dem mathematischen Sachverhalt, daß zwei konkrete Zahlen – das heißt solche, die im Prinzip einer Messung zugänglich sind – sich nicht durch einen infinitesimalen Betrag unterscheiden können. Der Beweis durch Widerspruch ist leicht: Die arithmetische Differenz von zwei konkreten Zahlen muß konkret sein (und somit Standard). Wäre sie nämlich infinitesimal, so würde dies die Definition einer Infinitesimalen als einer Größe, die kleiner ist als jede Standard-Zahl, verletzen. Aus dieser Tatsache folgt, daß beide Endpunkte eines infinitesimalen Intervalls nicht durch konkrete Zahlen bezeichnet werden können. Darum läßt sich ein solches Intervall niemals durch ein Meßverfahren einfangen: Infinitesimale bleiben der Beobachtung für immer unzugänglich.
IST und Zenons drittes Paradoxon
Wie aber können diese Geisterzahlen dazu dienen, die Zenonschen Paradoxien zu widerlegen? Nach der bisherigen Erörterung ist klar, daß die durch konkrete Zahlen bezeichneten Raum- oder Zeitpunkte nur isolierte Punkte sind. Eine tatsächliche Flugbahn und das zugehörige Zeitintervall sind hingegen dicht mit infinitesimalen Bereichen bepackt. Demnach können wir Zenons drittem Einwand nur insoweit recht geben, als die Pfeilspitze in jedem konkret markierten Zeitpunkt gleichsam stroboskopisch fixiert wird – doch während des unermeßlich viel größeren Rests der Gesamtspanne findet eine Art Bewegung statt; diese ist gegen Zenons Kritik gefeit, da sie nur innerhalb infinitesimaler Abschnitte auftritt, deren Unbeschreibbarkeit als eine Art Abschirmung oder Filter wirkt.
Geschieht die Bewegung innerhalb eines solchen Einzelintervalls etwa als gleichförmiges Vorrücken – oder als momentaner Sprung von einem Ende zum anderen? Könnte sie eine Folge von Zwischenschritten enthalten oder gar einen Vorgang außerhalb von Raum und Zeit? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, und keine läßt sich bestätigen oder ausschließen, denn einen infinitesimalen Abstand vermag niemand zu messen. Das Verdienst dieses Gedankengangs gebührt Benedetti, Trendelenburg und Whitehead, deren frühere Erkenntnisse jetzt mit den Mitteln der internen Mengenlehre formalisiert werden.
Zenons erste beiden Einwände lassen sich leichter behandeln als der dritte, doch dafür benötigt man einen weiteren mathematischen Sachverhalt von IST: Jede unendliche Menge von Zahlen enthält eine Nichtstandard-Zahl. Doch bevor wir daraus Folgerungen für die Zenonschen Paradoxien ziehen, müssen wir zwei andere Arten von Nichtstandard-Zahlen erwähnen, die leicht aus den infinitesimalen Zahlen zu gewinnen sind.
Zum einen nehme man alle Infinitesimalen – gemäß ihrer Definition sind sie zwischen null und allen positiven Standard-Zahlen eingezwängt – und versehe sie mit einem Minuszeichen. Das ergibt insgesamt eine symmetrische Ansammlung dieser kleinen Zahlen um null. Um nun sogenannte gemischte Nichtstandard-Zahlen zu erzeugen, nehme man irgendeine Standard-Zahl, etwa einhalb, und addiere dazu jede der um null angehäuften Nichtstandard-Infinitesimalen. Diese Addition verschiebt den ursprünglichen Infinitesimalen-Haufen so, daß er nun symmetrisch um einhalb liegt. In derselben Weise läßt sich jede Standard-Zahl so betrachten, als sei sie jeweils von einer eigenen Ansammlung benachbarter Nichtstandard-Zahlen umgeben, deren jede von der Standard-Zahl nur infinitesimal weit entfernt liegt.
Die dritte Art von Nichtstandard-Zahlen ist einfach der Kehrwert einer Infinitesimalen. Da eine Infinitesimale sehr klein ist, wird ihr Kehrwert sehr groß sein (im Standard-Bereich ist der Kehrwert eines Millionstels eine Million). Solche Nichtstandard-Zahlen heißen unbeschränkte Zahlen. Sie sind zwar sehr groß, aber endlich; somit liegen sie gewissermaßen zwischen den vertrauten Standard-Zahlen, die endlich sind, und dem Unendlichen.
Da in IST gilt, daß jede unendliche Zahlenmenge eine Nichtstandard-Zahl enthält, muß auch die unendliche Folge von Kontrollpunkten, mit denen Zenon in seinem ersten Paradoxon die Bewegung festhält, eine gemischte Nichtstandard-Zahl enthalten. Wenn Zenons unendliche Zahlenfolge sich immer mehr der Zahl eins nähert, werden die Glieder der Folge schließlich innerhalb einer infinitesimalen Entfernung von eins liegen. Alle nachfolgenden Glieder werden zu der Nichtstandard-Ansammlung um eins gehören, und weder Zenon noch jemand anderer wird imstande sein, die Fortbewegung eines Gegenstands in diesem unzugänglichen Terrain zu verfolgen.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß just Zenons vermeintliche Waffe, das aberwitzig Kleine, zur Entkräftung seiner Behauptungen dient. Um Zenons erstes Paradoxon zu widerlegen, müssen wir nur den erkenntnistheoretischen Grundsatz aufstellen, daß wir nicht für die Erklärung von Vorgängen zuständig sind, die wir nicht zu beobachten vermögen. Zenon beruft sich auf eine unendliche Folge von Kontrollpunkten; doch sie enthält unweigerlich Nichtstandard-Zahlen, die keine zahlenmäßige Bedeutung haben – und darum weisen wir seine Beweisführung zurück. Weil es prinzipiell unmöglich ist, jemals den Gesamtbereich aller Kontrollpunkte, auf dem Zenons Einwand beruht, zu beobachten, bleibt strittig, ob das bewegte Objekt sich tatsächlich so paradox verhält, wie er behauptet. Als mikroskopische Beschreibung der Bewegung könnten außer einer, welche die komplette Folge der Kontrollpunkte enthält, auch ganz andere in Frage kommen – und daß Zenons spezielles Szenario begriffliche Probleme verursacht, ist noch lange kein Grund, die Idee der Bewegung zu verdammen.
Zenons zweite Beweisführung, die zu zeigen sucht, daß ein Gegenstand nicht einmal beginnen könne, sich zu bewegen, leidet unter denselben Mängeln wie die erste. Darum weisen wir sie aus denselben Gründen zurück.
Theorie der Bewegung mittels IST
Wir haben Zenons drei Paradoxien geklärt, indem wir einige Eigenschaften von IST nutzten und postulierten, daß Nichtstandard-Zahlen sich nicht zur Beschreibung beobachteter oder vermuteter Tatsachen eignen. Doch mit dem Nachweis, daß Zenons Einwände nicht jegliche Bewegung ausschließen, ist das Thema noch nicht erschöpft. Tatsächlich können wir mittels eines mächtigen Resultats von IST eine Theorie der Bewegung aufstellen. Sie liefert dieselben Ergebnisse wie die herkömmliche Differential- und Integralrechnung, ist aber in gewisser Weise anschaulicher – und vor allem gefeit gegen Zenons Einwände. Ein in IST bewiesener Lehrsatz besagt, daß eine endliche Menge existiert, sagen wir F, die sämtliche Standard-Zahlen enthält. Der scheinbar logische Folgesatz, daß es nur eine endliche Anzahl von Standard-Zahlen gebe, gilt aber überraschenderweise nicht. Bei der Entwicklung von IST mußte Nelson die übliche Art, wie Mathematiker Objekte bilden, verfeinern. Eine Behauptung in IST wird intern genannt, wenn sie den Ausdruck "Standard" nicht enthält; andernfalls heißt sie extern. Die Mathematiker erzeugen häufig Teilmengen aus größeren Mengen, indem sie eine Eigenschaft angeben, die jeden Gegenstand der Teilmenge kennzeichnet – die Kugeln, die rot sind, oder die ganzen Zahlen, die gerade sind. In IST ist es jedoch verboten, Teilmengen durch externe Prädikate – etwa Standard – zu definieren; diese Einschränkung wird eingeführt, um Widersprüche zu vermeiden. Betrachten wir beispielsweise (unter Bruch des Verbots) die Menge aller Standard-Zahlen in F. Diese Menge wäre endlich, weil sie Teilmenge einer endlichen Menge ist. Sie hätte darum ein größtes Element, sagen wir r. Doch dann wäre auch r+1 eine Standard-Zahl und größer als r, obwohl r die größte Standard-Zahl sein sollte. Deshalb können wir nicht sagen, die Menge der StandardZahlen sei endlich oder unendlich, denn wir sind außerstande, diese Menge zu bilden. Obwohl man sich die endliche Menge F nur schwer anschaulich vorzustellen vermag, ist sie nützlich für die Konstruktion unserer Theorie der Bewegung. Diese Theorie läßt sich nun einfach dadurch ausdrücken, daß man F abschreitet, wobei jedes Glied von F einen bestimmten Augenblick darstellt. Der Bequemlichkeit halber betrachten wir nur die Glieder von F, die zwischen 0 und 1 liegen. Die Zeit 0 sei der Moment, in dem wir einem bewegten Gegenstand zu folgen beginnen. Der zweite Moment, in dem wir eine Beobachtung versuchen könnten, ist zur Zeit , wobei das kleinste Glied von F ist, das größer ist als 0. In dieser Weise durch F aufsteigend erreichen wir schließlich die Zeit , wobei das größte Glied von F ist, das kleiner ist als 1. In einem einzigen weiteren Schritt erreichen wir 1 selbst, in unserem Beispiel das Ziel. Damit man mit infinitesimalen Schritten die nicht-infinitesimale Strecke von 0 nach 1 zurücklegt, muß der Index n von eine unbeschränkte ganze Zahl sein. Der Bewegungsprozeß ist dann in n+1 Vorgänge unterteilt, und da auch n+1 unbeschränkt und außerdem endlich ist, läßt sich diese Anzahl von Vorgängen sukzessive vollenden. Dabei haben wir aber gewissermaßen zu viele mögliche Beobachtungszeiten aufgezählt, denn die Fortbewegung des Gegenstands kann nur in denjenigen Momenten konkret beschrieben werden, die bestimmten Standard-Zahlen in F entsprechen. (Beispielsweise sind und Nichtstandard, da sie infinitesimal nahe bei 0 beziehungsweise bei 1 liegen.) Wir können die Dezimaldarstellung einer Standard-Zahl zwar bis zu endlich (aber nicht unbeschränkt) vielen Dezimalstellen entwickeln und diese Näherung als Maßbezeichnung nehmen; aber wir vermögen nicht in die unbeschränkte Fortsetzung dieser Entwicklung einzugreifen, um dort eine Ziffer abzuändern und dadurch einen infinitesimal nahen Nichtstandard-Nachbarn zu erzeugen. Als Maßbezeichnungen sind nur konkrete Standard-Zahlen brauchbar; der Nutzen ihrer Nichtstandard-Nachbarn für Meßzwecke bleibt illusorisch (Bild 2). Vieles an dieser Theorie der Bewegung ist überflüssig, und vieles bleibt ungesagt. Doch sie ist insofern ausreichend, als sie sich leicht in die Symbolschrift der Differential- und Integralrechnung übersetzen läßt, mit der man gemeinhin Bewegungen beschreibt (siehe Kasten auf Seite 69). In unserem Zusammenhang ist wichtiger, daß wir aufgrund der Endlichkeit der Menge F die Fallgruben in Zenons ersten beiden Paradoxien zu überspringen vermögen. Seinem dritten Einwand begegnen wir mit unserem erkenntnistheoretischen Postulat: Die Bewegung in der wirklichen Zeit ist ein unbekannter Vorgang, sofern sie sich in infinitesimalen Abständen zwischen den Standard-Punkten von F ereignet; die Nichtstandard-Punkte von F sind irrelevant, weil sie sich nicht beobachten lassen.
IST und die moderne Physik
Daß Zenons Überlegungen sich viele Jahrhunderte lang so hartnäckig behaupten konnten zeigt, wie schwer sie zu widerlegen sind. Eine Lösung gelang erst durch zwei grundlegende Eigenschaften der internen Mengenlehre: erstens die Möglichkeit, ein Raum- oder Zeitintervall in endlich viele infinitesimale Abstände zu unterteilen, und zweitens die Tatsache, daß Standard-Punkte (die einzigen, mit denen man messen kann) isolierte Objekte auf der reellen Zahlengeraden sind. Ist unser Resultat bloß die Lösung eines antiken Rätsels? Vielleicht – doch möglicherweise läßt es sich in mehrere Richtungen erweitern.
Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, erweist IST sich nicht nur mathematisch, sondern auch erkenntnistheoretisch als äußerst fruchtbar. Aus der internen Mengenlehre ließe sich wahrscheinlich durchaus eine allgemeine Erkenntnislogik entwickeln. Infinitesimale Intervalle oder deren Verallgemeinerung könnten ein formales Werkzeug liefern, um Whiteheads sogenannte tatsächliche Entitäten (actual entities) – die Grundbausteine seines philosophischen Systems – präzise zu fassen. Und schließlich stimmt die hier vorgestellte Theorie der Bewegung mit der Quantenphysik darin überein, daß beide für die Beobachtung bestimmter Ereignisse nur diskrete Meßwerte zulassen.
Selbstverständlich ist diese Theorie der Bewegung keine Version der Quantenmechanik (oder der Relativitätstheorie). Da sie aus einem Zenonschen Gedankenexperiment hervorgegangen ist, steht sie zur modernen theoretischen Physik nicht in unmittelbarer Verbindung. Außerdem sind die speziellen Regeln des IST-Formalismus wahrscheinlich nicht optimal geeignet, die Wirklichkeit zu beschreiben. Für die Zwecke der modernen Physik könnte man ihn aber vielleicht modifizieren und physikalische Konstanten einführen, indem man etwa der Menge F gewisse Parameter zuweist. Wie dem auch sei, die Einfachheit und Eleganz von Gedankenexperimenten hat die Wissenschaft zu allen Zeiten beflügelt. Ein denkwürdiges Beispiel ist die Frage des deutschen Arztes und Amateurastronomen Heinrich Wilhelm Olbers (1758 bis 1840), wieso der Nachthimmel dunkel erscheint, während unser Auge – wenn das Universum unendlich ist – doch an jedem Himmelspunkt auf einen leuchtenden Stern treffen müßte. Ein zweites gab der englische Physiker James Clerk Maxwell (1831 bis 1879) mit seinem mikroskopischen Dämon, der am zweiten Hauptsatz der Thermodynamik rüttelt.
Ebenso haben Zenons Gedanken unsere Vorstellung von Bewegung, Zeit und Raum in Frage gestellt; der Weg zu einer Antwort war voller Überraschungen.
Literaturhinweise
- Die Vorsokratischen Philosophen. Herausgegeben von Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malcolm Schofield. Metzler, Stuttgart 1994.
– Nonstandard Analysis. Von Martin Davis und Reuben Hersh in: Scientific American, Juni 1972, Seiten 78 bis 86.
– Nonstandard Analysis. Von Alain Robert. John Wiley & Sons, New York 1988.
– Internal Set Theory: A New Approach to Nonstandard Analysis. Von Edward Nelson in: Bulletin of the American Mathematical Society, Band 83, Heft 6, Seiten 1165 bis 1198, November 1977.
– An Epistemological Use of Nonstandard Analysis to Answer Zeno's Objections against Motion. Von William I. McLaughlin und Sylvia L. Miller in: Synthese, Band 92, Heft 3, Seiten 371 bis 384, September 1992.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 66
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