Angemerkt!: "Einmal kann man sich doch irren!"
Fast alle Patientenverfügungen basieren auf mangelhaften Informationen und inkompetenter Beratung. Im Extremfall führen sie sogar zum ungewollten vorzeitigen Tod der Betroffenen, urteilt der Tübinger Neuromediziner Niels Birbaumer.
Patientenverfügungen werden verfasst, um lebenserhaltende Maßnahmen zu unterbinden, falls eine Krankheit zu einem vermeintlich unerträglichen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand führt – und zwar noch bevor solch eine Situation eintritt. Dahinter verbirgt sich die (meist falsche) Annahme, dass die Lebensqualität im Verlauf der Erkrankung irgendwann so gering sei, dass der Tod eine Erlösung darstelle – etwa bei künstlicher Beatmung. Arzt und Angehörige müssen dann gemäß dem Patientenwillen Sterbehilfe leisten.
Das Problem: Es ist nicht nur eine Zumutung für Mediziner und Verwandte, zu beurteilen, ob ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Viel schwerer wiegt, dass kaum jemand weiß, wie hoch die Lebensqualität im Krankheitsfall tatsächlich einmal sein wird. So führt beispielsweise die neurodegenerative Krankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) innerhalb weniger Jahre zu vollständiger Lähmung der Muskulatur – Wahrnehmung, Denken und Bewusstsein werden von der Erkrankung dagegen nicht direkt beeinflusst. In der Endphase kann der Patient in den Locked-in-Zustand geraten, in dem er sich nur noch mit Augenblinzeln oder per "Brain-Computer-Interface" mitteilen kann. Bei dieser maschinell gestützten Form der Kommunikation analysiert ein Computerprogramm die Hirnaktivität. Das so errechnete Muster zeigt etwa, ob der Patient eine Frage bejaht oder nicht (siehe G&G 3/2004, S. 70).
Viele ALS-Patienten gehen am Beginn der Erkrankung davon aus, dass der Locked-in-Zustand schrecklich sei; Ärzte und Angehörige teilen diese Ansicht. Folglich wird eine Verfügung aufgesetzt, die im Fall der Fälle untersagt, den Betroffenen maschinell zu beatmen – der Patient stirbt. Dabei haben mehrere empirische Untersuchungen ergeben, dass die subjektiv empfundene Lebensqualität auch bei länger andauernder künstlicher Beatmung befriedigend bis gut ist, jedenfalls nur unwesentlich schlechter als bei Gesunden.
Laut unserer Studie aus dem Jahr 2008 fürchten ALS-Patienten anfangs vor allem den späteren Autonomie- und Kontrollverlust. Diese Angst nimmt mit Fortschreiten der Erkrankung immer weiter ab. Personen, deren Mobilität bereits stark eingeschränkt war, nannten auf die Frage, was ihr Dasein lebenswert mache, andere Begriffe als Gesunde – etwa "gute medizinische Betreuung". Was zählt, verändert sich offenbar durch eine schwere Krankheit, die allgemeine Zufriedenheit bleibt aber dennoch oft erhalten!
Erstaunlicherweise stieg in unserer Untersuchung die subjektive Lebensqualität sogar mit der körperlichen Beeinträchtigung. Künstlich mit Sauerstoff versorgte Patienten waren zufriedener als jene, die noch selbstständig atmen konnten. Dies liegt vermutlich daran, dass das Luftholen auf Grund der fortschreitenden Lähmung immer anstrengender wird. Auch Depressionen – der einzige Faktor, der die Lebenszufriedenheit signifikant minderte – traten im Verlauf einer ALS-Erkrankung nicht häufiger auf als sonst in der Bevölkerung.
Über diese Informationen verfügen Patienten und Ärzte jedoch oft nicht. Sie verlassen sich beim Unterzeichnen der Patientenverfügung auf ihren Common Sense – ein Trugschluss! Einer meiner Patienten wurde vom Notarzt gerettet, weil dieser die Verfügung übersah. Nachdem er bereits acht Jahre lang künstlich beatmet worden war, sagte er im Hinblick auf seinen früheren Wunsch nach Sterbehilfe: "Einmal darf man sich doch irren!" Personen, die man nach der Beatmung im gelähmten Zustand fragt, ob sie eine Patientenverfügung mit diesen Richtlinien erneut unterzeichnen würden, verneinen dies in der Regel.
Bei erfolgreicher Schmerztherapie und guten sozialen Kontakten bleibt die Lebensqualität nicht nur bei ALS, sondern bei den meisten Erkrankungen hoch. Erfolglose Schmerz- und Psychotherapien sind auf Kenntnismangel oder Vorurteile zurückzuführen und daher bei kompetenter Betreuung fast immer vermeidbar.
Das Problem: Es ist nicht nur eine Zumutung für Mediziner und Verwandte, zu beurteilen, ob ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Viel schwerer wiegt, dass kaum jemand weiß, wie hoch die Lebensqualität im Krankheitsfall tatsächlich einmal sein wird. So führt beispielsweise die neurodegenerative Krankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) innerhalb weniger Jahre zu vollständiger Lähmung der Muskulatur – Wahrnehmung, Denken und Bewusstsein werden von der Erkrankung dagegen nicht direkt beeinflusst. In der Endphase kann der Patient in den Locked-in-Zustand geraten, in dem er sich nur noch mit Augenblinzeln oder per "Brain-Computer-Interface" mitteilen kann. Bei dieser maschinell gestützten Form der Kommunikation analysiert ein Computerprogramm die Hirnaktivität. Das so errechnete Muster zeigt etwa, ob der Patient eine Frage bejaht oder nicht (siehe G&G 3/2004, S. 70).
Viele ALS-Patienten gehen am Beginn der Erkrankung davon aus, dass der Locked-in-Zustand schrecklich sei; Ärzte und Angehörige teilen diese Ansicht. Folglich wird eine Verfügung aufgesetzt, die im Fall der Fälle untersagt, den Betroffenen maschinell zu beatmen – der Patient stirbt. Dabei haben mehrere empirische Untersuchungen ergeben, dass die subjektiv empfundene Lebensqualität auch bei länger andauernder künstlicher Beatmung befriedigend bis gut ist, jedenfalls nur unwesentlich schlechter als bei Gesunden.
Laut unserer Studie aus dem Jahr 2008 fürchten ALS-Patienten anfangs vor allem den späteren Autonomie- und Kontrollverlust. Diese Angst nimmt mit Fortschreiten der Erkrankung immer weiter ab. Personen, deren Mobilität bereits stark eingeschränkt war, nannten auf die Frage, was ihr Dasein lebenswert mache, andere Begriffe als Gesunde – etwa "gute medizinische Betreuung". Was zählt, verändert sich offenbar durch eine schwere Krankheit, die allgemeine Zufriedenheit bleibt aber dennoch oft erhalten!
Erstaunlicherweise stieg in unserer Untersuchung die subjektive Lebensqualität sogar mit der körperlichen Beeinträchtigung. Künstlich mit Sauerstoff versorgte Patienten waren zufriedener als jene, die noch selbstständig atmen konnten. Dies liegt vermutlich daran, dass das Luftholen auf Grund der fortschreitenden Lähmung immer anstrengender wird. Auch Depressionen – der einzige Faktor, der die Lebenszufriedenheit signifikant minderte – traten im Verlauf einer ALS-Erkrankung nicht häufiger auf als sonst in der Bevölkerung.
Über diese Informationen verfügen Patienten und Ärzte jedoch oft nicht. Sie verlassen sich beim Unterzeichnen der Patientenverfügung auf ihren Common Sense – ein Trugschluss! Einer meiner Patienten wurde vom Notarzt gerettet, weil dieser die Verfügung übersah. Nachdem er bereits acht Jahre lang künstlich beatmet worden war, sagte er im Hinblick auf seinen früheren Wunsch nach Sterbehilfe: "Einmal darf man sich doch irren!" Personen, die man nach der Beatmung im gelähmten Zustand fragt, ob sie eine Patientenverfügung mit diesen Richtlinien erneut unterzeichnen würden, verneinen dies in der Regel.
Bei erfolgreicher Schmerztherapie und guten sozialen Kontakten bleibt die Lebensqualität nicht nur bei ALS, sondern bei den meisten Erkrankungen hoch. Erfolglose Schmerz- und Psychotherapien sind auf Kenntnismangel oder Vorurteile zurückzuführen und daher bei kompetenter Betreuung fast immer vermeidbar.
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