Teilchenphysik: Ende einer unendlichen Geschichte
Seit 1968 ergaben alle Messungen der Sonnenneutrinos auf der Erde einen zu niedrigen Wert. Jetzt endlich steht fest, dass nicht Ungenauigkeiten im Sonnenmodell oder Messprobleme dahinter stecken, sondern Verwandlungstricks der Neutrinos.
Unsere Sonne ist ein gigantischer Brennofen, der seine Energie aus der Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium gewinnt. Schon vor mehr als fünfzig Jahren glaubten die Physiker die Funktionsweise dieses kosmischen Fusionsreaktors ziemlich genau zu verstehen. Dabei zeigten ihre Berechnungen, dass uns die Sonne nicht nur in Licht, sondern auch in einer Flut geisterhafter Teilchen badet, die Materie praktisch ungehindert durchdringen. Diese so genannten Elektron-Neutrinos entstehen bei verschiedenen Teilreaktionen des solaren Fusionsprozesses, sind aber wegen ihrer äußerst geringen Wechselwirkungsneigung nur extrem schwer nachweisbar.
Den ersten Versuch, ihren Fluss von der Sonne zu ermitteln und mit dem theoretisch vorhergesagten Wert zu vergleichen, machten ab 1968 Raymond Davis jr. und Mitarbeiter vom amerikanischen Brookhaven-Nationallaboratorium. In einem unterirdischen Tank mit fast 400000 Litern Perchlorethylen verfolgten sie die Umwandlung von Chlor-37 in Argon-37. Diese Kern-Reaktion wird allerdings nur durch die relativ energiereichen Neutrinos aus einer Nebenreaktion des solaren Fusionsprozesses ausgelöst: dem Zerfall von Bor-8. Dennoch war das Ergebnis der Messungen für die Sonnenphysiker eine faustdicke Überraschung und ein großes Ärgernis: Davis fand nur etwa ein Drittel des erwarteten Neutrinoflusses.
Und dieses Ärgernis sollte für Jahrzehnte bestehen bleiben. Alle folgenden Experimente bestätigten das Defizit, wenngleich teilweise nicht ganz in derselben Höhe. Mit dem europäischen Gallex-Experiment ließen sich 1992 erstmals auch die Neutrinos aus dem Hauptzweig der Fusionskaskade messen, und die richtungsempfindlichen japanischen Detektoren Kamiokande und Superkamiokande zeigten, dass die nachgewiesenen Teilchen tatsächlich von der Sonne kommen. Eine überzeugende Lösung des Rätsels lieferten beide Ergebnisse aber noch nicht; auch hier wurden insgesamt viel zu wenige Neutrinos registriert.
Die Ursache des Problems konnte in Unzulänglichkeiten des Sonnenmodells oder der Teilchentheorien liegen. Im ersteren Fall müsste die Temperatur im Zentrum der Sonne um sechs Prozent unter den berechneten 15,7 Millionen Kelvin liegen. Das wäre jedoch nicht plausibel und ergäbe Widersprüche zu anderen Messdaten, insbesondere den sehr genau ermittelten Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Schallwellen in der Sonne. Deshalb schien von Anfang an die zweite mögliche Ursache wahrscheinlicher: dass sich die Elektron-Neutrinos auf dem Weg vom Sonneninnern zur Erde im Verlauf so genannter Oszillationen in andere Neutrino-Arten (Myon- oder Tau-Neutrinos) umwandeln, auf welche die Detektoren nicht ansprachen. Das bedeutete zugleich, dass sie im Widerspruch zum Standardmodell der Teilchenphysik eine von null verschiedene Ruhemasse haben mussten.
Tatsächlich lieferten Messergebnisse am japanischen Superkamiokande-Detektor 1998 deutliche Hinweise auf Neutrino-Oszillationen (Spektrum der Wissenschaft 8/1998, S. 14). Allerdings betrafen diese Resultate zunächst nicht die solaren, sondern die wesentlich energiereicheren "atmosphärischen" Neutrinos, die bei Wechselwirkungen der kosmischen Strahlung mit der irdischen Lufthülle entstehen. Am kanadischen Sudbury-Neutrino-Observatorium SNO gelang 2001 dann auch der Nachweis, dass sich zumindest jene solaren Elektron-Neutrinos, die aus dem Zerfall von Bor-8 stammen, in Myon- oder Tau-Varianten umwandeln können (Spektrum der Wissenschaft 10/2001, S. 12). Allerdings mussten für dieses Ergebnis Präzisionsdaten vom japanischen Superkamiokande-Detektor zum Vergleich he-rangezogen werden. Dies war ein Manko; denn Messungen mit zwei unterschiedlichen experimentellen Anordnungen an verschiedenen Orten sind möglicherweise nicht vollständig kompatibel.
Jetzt hat die SNO-Kollaboration um Art McDonald neue Resultate vorgelegt, die den Schluss auf Neutrino-Oszillationen ermöglichen, ohne dass die japanischen Daten als Vergleichsmaßstab benötigt werden. Sie wurden als ein Höhepunkt der Neutrinokonferenz im Mai in München der Öffentlichkeit vorgestellt und sind inzwischen in der Fachzeitschrift "Physical Review Letters" erschienen (Bd. 89, Nr. 011301).
Der SNO-Detektor befindet sich in einem über 2000 Meter tiefen Bergwerkstollen und besteht aus einem kugelförmigen Tank mit 1000 Tonnen schwerem Wasser (D2O), umgeben von 7000 Tonnen normalem Wasser (H2O) als zusätzlicher Abschirmung. Die solaren Neutrinos werden über ihre Wechselwirkung mit dem Deuterium des schweren Wassers aufgespürt. Zuerst betrachteten die Forscher eine Reaktion, in deren Verlauf das einfallende Neutrino das Deuterium in zwei Protonen und ein Elektron aufspaltet. Dieses lässt sich nachweisen, weil es sich anfangs schneller als Licht in Wasser bewegt und deshalb so genannte Tscherenkow-Strahlung aussendet, die mit einer Anordnung aus 9456 Photomultipliern registriert wird. Die Aufspaltung von Deuterium in zwei Protonen und ein Elektron findet allerdings nur mit Elektron-Neutrinos statt, nicht mit den Myon- und Tau-Varianten.
Das Neutrino-Defizit verschwindet
Deshalb betrachteten die SNO-Forscher nun zusätzlich eine zweite Reaktion. Dabei wird das Deuterium von einem Neutrino in ein Proton und ein Neutron zerlegt. Letzteres reagiert dann seinerseits mit einem anderen Deuterium zu Tritium (überschwerem Wasserstoff). Zugleich entsteht ein Lichtquant einer charakteristischen Wellenlänge von 198 Nanometern, das zum Nachweis dient.
Diese Detektionsmethode ist zwar etwas umständlich und wird durch den Zerfall natürlicher radioaktiver Substanzen wie Wismut-214 und Thallium-208 aus den Uran- und Thorium-Zerfallsketten in den Detektormaterialien erschwert, bei dem in schwerem Wasser ebenfalls freie Neutronen entstehen. Dennoch hat sie einen ganz entscheidenden Vorteil: Sie spricht auf Neutrinos aller drei Sorten gleichermaßen an. Der Vergleich der damit erhaltenen Werte mit denen der früheren Messung, die nur Elektron-Neutrinos erfasste, sollte also die Frage eindeutig beantworten, ob Oszillationen bei den Sonnenneutrinos stattfinden.
Und die Antwort ist ein klares Ja. Bei einer Messzeit von 306 Tagen ermittelten die SNO-Forscher für Neutrinos aus dem Zerfall von Bor-8 einen hochgerechneten Wert von 5,09 Millionen Teilchen pro Quadratzentimeter und Sekunde. Innerhalb der systematischen und statistischen Fehlergrenzen stimmt er sehr gut mit den 5,05 Millionen überein, die sich aus dem Standard-Sonnenmodell bei einer unveränderten Zentraltemperatur von 15,7 Millionen Kelvin ergeben. Damit hat erstmals eine Messung kein Defizit an Sonnenneutrinos ergeben. Noch genauere Resultate verspricht man sich vom jüngsten SNO-Experiment, das bereits seit Juni 2001 läuft. Dabei wird das schwere Wasser mit Kochsalz (Natriumchlorid) versetzt. Da Chlor-35 die bei der Neutrino-Reaktion freigesetzten Neutronen wirksamer einfängt als Deuterium, entstehen noch mehr nachweisbare Lichtquanten, und die Fehlerschranken werden sich weiter verkleinern lassen.
Hinsichtlich der Oszillationen ist das Ergebnis der Kanadier jedoch jetzt schon überzeugend. Mit ihrer früheren Messmethode haben die SNO-Forscher einen Fluss von 1,76 Millionen Elektron-Neutrinos pro Quadratzentimeter und Sekunde aus dem Zerfall von Bor-8 entdeckt. Der neue Wert für sämtliche Neutrino-Arten von 5,09 Millionen Teilchen pro Quadratzentimeter und Sekunde ist 2,89-mal so groß. Unter der naiven Annahme, dass sich die drei Neutrino-Sorten maximal mischen und somit eine Gleichverteilung zwischen ihnen entsteht, wäre der Faktor drei zu erwarten.
Tatsächlich sind Mechanismus und genaues Ausmaß der Mischung noch nicht völlig klar. Über diese Frage wurde auf der Neutrinokonferenz ausführlich diskutiert; sie wird sich nur durch weitere Experimente mit neuen Detektoren beantworten lassen. Mit dem endgültigen Nachweis der Oszillationen bei Sonnenneutrinos aber ist ein störender Fleck im physikalischen Weltbild nach Jahrzehnten endlich aus der Welt geschafft.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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