Endlich ist das Thema Einwanderung aus dem Giftschrank heraus
Frau Schmalz-Jacobsen, nach Angaben des Bevölkerungswissenschaftlers Herwig Birg von der Universität Bielefeld betrug die Anzahl der Einwanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika, den klassischen Schmelztiegel von Immigranten unterschiedlichster Herkunft, zwischen 1983 und 1988 pro 100000 Einwohner und Jahr 245 – in der früheren Bundesrepublik waren es demgegenüber 1022. Ist Deutschland also faktisch nicht schon längst ein Einwanderungsland? Warum tut sich die Politik so schwer mit diesem Begriff?
Einwanderungsland – ja oder nein? Diese Frage mag ich eigentlich nicht mehr hören, denn sie führt in eine Sackgasse. Wir haben in Deutschland eine, wenn man sehr scharf formuliert, verlogene Situation: Lange Zeit hieß es – übrigens parteiübergreifend –, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, und mit dieser Lebenslüge wurde über viele Jahre eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben tabuisiert und blockiert. Die Realität sieht hingegen so aus: Wir haben Einwanderung, ohne uns als Einwanderungsland zu definieren.
Zugleich leben bei uns viele Zuwanderer, die für sich selbst noch nicht definitiv entschieden haben, ob sie hier bleiben wollen oder nicht; mehrheitlich schweben sie unschlüssig in einem Niemandsland zwischen unbefristetem Arbeitsaufenthalt und ungeklärter Niederlassungsabsicht.
Und doch läßt sich die Einwanderungssituation nicht leugnen: Immerhin gibt es mitunter schon bizarre Befunde von Erhebungen wie jenen, demzufolge 80 Prozent der jugendlichen Türken, die in Köln leben, auch dort geboren sind – aber nur 75 Prozent der jugendlichen Deutschen in der Stadt.
Deutschland ist sicherlich kein klassisches Einwanderungsland wie Kanada, Australien, die USA oder seinerzeit Preußen – aber de facto ist es ein Einwanderungsland wider Willen geworden, und wir müssen uns sehr viel bewußter mit den Folgen auseinandersetzen. Umfassende gesetzliche und politische Antworten auf die Herausforderung durch die Migration fehlen noch.
Die Bevölkerungswissenschaft prognostiziert, daß die Einwohnerschaft der Bundesrepublik von 1994 bis zum Jahre 2050 von 81,5 Millionen auf 38,9 Millionen schrumpfen werde. Zum Ausgleich müßten jährlich etwa 500000 Menschen zuwandern. Antworten zu finden wird also immer dringlicher.
In der Tat: Deutschland ist nach wie vor ein besonders attraktives Ziel für Zuwanderung und kann sich nicht völlig abschotten. Zugleich gibt es langfristig einen gewissen Bedarf an Zuwanderung _ nicht um irgendwelche Bevölkerungszahlen zu bewahren, sondern um die Folgen der Überalterung abzumildern. Ich halte nichts davon, Sterbe-, Geburten- und Zuwanderungsraten abstrakt zu diskutieren; das gilt auch für das bloße Aufrechnen von Arbeitsmarktzahlen, etwa um vor dem Zuzug von weiteren Ausländern zu warnen. Die gesellschaftliche Entwicklung muß in ihrer Dynamik erfaßt werden. Eine Politik, die offene Stellen und Arbeitslose einfach nur abzählt und daraus Schlüsse zieht, kommt zu falschen Ergebnissen.
Zum Beispiel ist die Zahl der selbständigen Ausländer inzwischen prozentual höher als diejenige der Deutschen. Ausländische Unternehmer schaffen in Deutschland neue Arbeitsplätze, die es sonst nicht geben würde – inzwischen sind es rund eine Million.
Also gibt es gute Argumente, die Ängste abbauen und Vorurteile konterkarieren könnten.
Wir brauchen tatsächlich ein gewisses Maß an Zuwanderung, und deshalb sollten wir schleunigst über Einwanderungsregelungen nachdenken. Erforderlich ist eine offene, sehr breit geführte Generaldebatte in unserer Gesellschaft.
Öffentlich erörtert werden schon längst viele Probleme. Für verbindliche Regelungen brauchen wir aber die politische Diskussion.
Zum Glück beginnt sie jetzt. Sowohl die FDP als auch Bündnis 90/Die Grünen haben mit ihren Entwürfen für Einwanderungsgesetze das Thema auf das parlamentarische Parkett gebracht. Außerdem hat die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, gebildet aus einer Koalition aus SPD und FDP, einen sehr guten Entwurf im Bundesrat eingebracht. Die SPD hat im letzten Sommer immerhin Eckwerte für einen geregelten Zuzug vorgelegt; zu einem Gesetzentwurf konnte sie sich allerdings noch nicht durchringen. Am weitesten ist zur Zeit die CDU/CSU von einem Einwanderungsgesetz entfernt. Allein von einigen jungen Mitgliedern der Unionsparteien ist gelegentlich hinter vorgehaltener Hand zu hören, daß doch etwas geschehen müsse.
Dennoch: Das Thema ist endlich aus dem Giftschrank herausgenommen worden und steht auf der politischen Tagesordnung. Die Diskussion muß freilich sehr gründlich geführt werden, denn eine neue Gesetzgebung muß ja schließlich von der Bevölkerung akzeptiert werden können.
Die aber scheint noch weitgehend uninformiert über die wirkliche Situation zu sein.
Sie ist sogar völlig verwirrt. Die Zuwanderung aus dem Ausland wird von vielen Menschen in unserem Land als Bedrohung empfunden – weil die Situation unübersichtlich und ungeregelt ist und weil die bisherigen politischen Auseinandersetzungen häufig demagogisch geführt wurden.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks begegnen sich in Deutschland nicht einfach Deutsche und Ausländer, sondern auch Einheimische mit einem fremden und Fremde mit einem deutschen Paß, die nach dem Grundgesetz Deutsche sind. Diese deutschstämmigen Aussiedler haben meist größere Sprachprobleme als die zweite oder gar die dritte Generation der früher etwa als Gastarbeiter zu uns gekommenen oder sonstigen Zuwanderer.
Was ebenfalls erheblich zur Verwirrung beiträgt, ist die in der Öffentlichkeit gehandelte Anzahl der Menschen, die neu nach Deutschland kommen. Medien und Politik weisen stets nur auf den Gesamtzuzug hin, der bei über einer Million Personen jährlich liegt. Daß viele Migranten wieder fortziehen, wird häufig nicht bedacht. Der Wanderungssaldo, die eigentliche Richtgröße, betrug in den letzten Jahren zwischen 330000 und 400000 Nettozuzug – trotz der vielen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und einschließlich der rund 150000 deutschstämmigen Aussiedler.
Diese enorme Fluktuation erschwert im übrigen die Integration der Zuwanderer in Deutschland. In klassischen Einwanderungsländern bleiben die meisten Menschen, die im Rahmen von Quotierungen kommen dürfen, für immer.
Und was muß, was kann nun getan werden?
Für das gesamte Wanderungsgeschehen – eben auch für die Folgeprobleme – ist in Deutschland eine realitätsnahe und umfassende, auf klare Rechtsgrundlagen gestützte Politik für Migration, Integration und Minderheiten längst überfällig. Dabei müssen wir Auswirkungen auf den Arbeits- und Wohnungsmarkt, auf die Sozial- und Kulturpolitik sorgfältig abwägen.
Deutschland braucht ein Zuwanderungsgesetz mit klaren Quoten und Kriterien. Die Menschen, die zu uns kommen, müssen wissen, daß sie bei uns eine Perspektive haben, daß sie hier zu Hause sein können. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem Zwischenaufenthalt im staats- und rechtspolitischen Niemandsland. Dazu gehört wiederum selbstverständlich auch, daß die Zuwanderer die deutsche Sprache erlernen und unsere Gesetze respektieren. Durch ein Zuwanderungsgesetz würden beide Seiten – die Migranten und die aufnehmende Gesellschaft – mehr Klarheit gewinnen.
Im gemeinsamen Interesse an der Gestaltung der Zukunft und an der Sicherung von sozialem Frieden und kultureller Toleranz muß es gelingen, konsensfähige Perspektiven zu finden. Ich wünsche mir deshalb eine Deeskalation der hoch emotionalisierten und oft völlig irrationalen deutschen Migrationsdiskussion, und ich wünsche mir die Bereitschaft zu einem pragmatischen Dialog über die gemeinsamen Probleme.
Und wann werden wir, nach Ihrer Einschätzung, ein Einwanderungsgesetz in Deutschland haben?
Das wird bestimmt noch einige Zeit dauern, weil die Widerstände nur sehr behutsam überwunden werden können. Aber so viel wage ich vorauszusagen: Es wird in Deutschland ein Einwanderungsgesetz geben, und ich werde es wahrscheinlich auch noch erleben.
Was sind die nächsten Schritte?
Parallel zur Diskussion um ein Zuwanderungskontrollgesetz müssen wir dringend unser Staatsangehörigkeitsrecht reformieren und die Einbürgerung erleichtern. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage sind 52 Prozent der Bevölkerung dafür, daß in Deutschland geborene ausländische Kinder von Eltern mit Dauerbleiberecht Deutsche werden, 42 Prozent möchten dies nicht, den restlichen 6 Prozent ist es egal. Aber da gibt es bei einigen Politikern Denkblockaden, und diese sind einfach unerträglich.
Ich wünschte mir, wir hätten wenigstens eine Regelung wie in Frankreich. Dort sind nämlich die Kinder der dritten Generation nach klassischem Geburtsrecht sofort Franzosen, und die zweite Generation muß lediglich einen formlosen Antrag per Postkarte stellen. Auch ist die doppelte Staatsbürgerschaft in diesem Nachbarland kein Problem. Noch einmal: Ohne ein handfestes rechtliches Integrationsangebot ist ein Zuwanderungsgesetz nicht sinnvoll. Wir brauchen Spielregeln für beides: für Einwanderung und Eingliederung.
Mit der Globalisierung aller Märkte verlieren die Nationalstaaten mehr und mehr Einfluß auf wirtschaftliche Entwicklungen. Der Zusammenschluß Europas erscheint als Ausweg. Müßten nicht auch Fragen der Migration auf der Ebene der Europäischen Union behandelt und gelöst werden?
Natürlich müssen wir auch den Konsens innerhalb der Europäischen Union suchen, aber wir müssen zunächst selbst vernünftige Regelungen schaffen – aus dem EU-Himmel wird keine Zuwanderungsregelung von alleine auf uns herunterfallen.
Deutschland muß an einer einheitlichen Einwanderungsregelung besonders interessiert sein und mit einer nationalen Gesetzgebung eine Initiative dazu einleiten, weil hier im Vergleich zu anderen EU-Staaten der größte Zuwanderungsdruck herrscht. Wir haben übrigens mehr Drittstaatsangehörige als EU-Bürger unter den Zuwanderern: Der Anteil derjenigen aus der Gemeinschaft beträgt nur etwa 25 Prozent; allein die Gruppe der Türken ist größer. Darauf folgen die deutschstämmigen Aussiedler, die einen deutschen Paß haben – sie stellten in den vergangenen Jahren die größte Gruppe der Neuankömmlinge.
Am 3. Oktober jährt sich bereits zum siebten Male der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, und wir haben immer noch gravierende emotionale Vereinigungs- und Anpassungsprobleme beidseits der ehemaligen Grenze. Nun warnen Kritiker der Zuwanderung, ob mit fatalen nationalistischen Hintergedanken oder nicht, vor einem Verlust an "deutscher Identität". Entsteht nicht wirklich ein gefährliches ethnisch-kulturelles Gemisch, wenn sich die Menschen, die zusammenleben müssen, einander nicht verstehen und akzeptieren?
Wenn man – im eigenen Interesse – offene Märkte haben will, dann ist es eine Illusion zu glauben, man könne sie haben, ohne die Grenzen für Wanderungen herüber und hinüber bis zu einem gewissen Maß offen zu halten.
Die Realität ist übrigens weit weniger dramatisch, als so manche Stammtischrede glauben machen könnte: Binationale Ehen zum Beispiel haben in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Jede achte Ehe in Deutschland wird derzeit zwischen einem Ausländer und einer Deutschen beziehungsweise einer Ausländerin und einem Deutschen geschlossen. Zählt man noch die Eheschließungen zwischen Ausländern unterschiedlicher Nationalität hinzu, beispielsweise die Heirat eines hiesigen Türken mit einer hiesigen Italienerin, dann bedeutet dies doch, daß bereits heute sehr viele persönliche Beziehungen und Familienbande über alle nationalstaatlichen, aber auch kulturellen und sogar religiösen Grenzen hinweg bestehen. Das sagt einiges mehr über die Offenheit unseres Landes aus als manches historisch überholte, wenn nicht gar verwerfliche Argument in der politischen Debatte.
Irrationale Furcht vor Überfremdung oder auch nur vor Kontakt mit Menschen anderer Herkunft schadet uns nur. Ich sehe zum Beispiel mit großer Besorgnis, daß die Anzahl der ausländischen Studenten in Deutschland stetig abnimmt; schon 1992 waren es nur mehr etwa 7 Prozent. Wir sind aber auf partnerschaftliche Beziehungen sowohl mit den Nachbarstaaten als auch mit dem außereuropäischen Ausland angewiesen, wenn wir in Wissenschaft und Wirtschaft international wettbewerbsfähig bleiben wollen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß vor allem die verschlechterten Bedingungen des Ausländer- und Arbeitsrechts ein Studium in Deutschland unattraktiv machen. Allerdings müssen unsere Universitäten außer dem Diplom vermehrt auch international vergleichbare Studienabschlüsse – wie Bachelor und Master – anbieten. Wir tun unserem Land einen Tort an, wenn wir hier keine Verbesserungen erzielen. Momentan werden leider mehr neue Hürden errichtet als alte abgebaut. Das halte ich für fatal.
Die Wissenschaft hat sich der Migrationsproblematik von verschiedener Seite genähert. Insbesondere die Sozialwissenschaften befassen sich immer häufiger mit Aspekten der Bevölkerungsentwicklung, der Wanderungsbewegungen und der Kulturkonflikte. Reicht ihr Engagement aus?
Die Wissenschaft hat wesentlichen Anteil daran, daß Migration jetzt besser verstanden und ein Konsens in Deutschland gefunden werden kann. Sie ist in den letzten Jahren sozusagen vorneweg marschiert, beispielsweise mit dem 1994 veröffentlichten "Manifest der 60 – Deutschland und die Einwanderung". Es war bedeutsam, daß sich hier 60 Wissenschaftler gemeinsam geäußert haben; und es ist nicht zuletzt ein Verdienst der Wissenschaft, daß das Thema Migration endlich auch die Politik erreicht hat. Jetzt müssen die sachlichen Befunde und die nüchternen Überlegungen weiter in die Bevölkerung hineingetragen werden. Die Vogel-Strauß-Taktik so mancher Politiker ist dabei wenig hilfreich. Man muß auch den Mut zu unbequemen Wahrheiten haben.
Das Interview führten Dieter Beste und Norbert Poßberg.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1997, Seite 69
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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