Entdeckung eines Metastasen-Gens
Aus Zellen eines Tumors der Bauchspeicheldrüse von Ratten konnte ein Gen isoliert werden, dessen Proteinprodukt notwendig und hinreichend dafür ist, daß sich Tochtergeschwülste in Lymphknoten und Lungen bilden können. Das gleiche Gen befähigt weiße Blutzellen, Eindringlinge im Körper aufzuspüren und zu eliminieren.
Alle Zellen des menschlichen Körpers haben eine spezifische Aufgabe und die meisten auch einen festen Platz, an dem sie diese Aufgabe erfüllen. So würde etwa eine Leberzelle niemals plötzlich auswandern und sich beispielsweise im Fuß einnisten. Trotzdem gibt es in unserem Körper Zellen, zu deren normaler Aufgabe es gehört, zu vagabundieren: die weißen Blutzellen. Sie zirkulieren nicht nur im Blut, sondern treten an bestimmten Stellen der Gefäßwand auch aus dem Kreislauf aus und durchwandern fast alle Organe. Dies ist Teil ihrer Funktion als Abwehrzellen.
Jeder von uns hat die Wanderung der weißen Blutzellen schon indirekt an sich beobachten können: Sie strömen am Ort einer Entzündung (Vereiterung) zusammen, so daß er sich rötet und anschwillt. Auch die benachbarten Lymphknoten können sich vergrößern und schmerzhaft werden, weil die vom Entzündungsherd zurückkehrenden Lymphocyten sich dort sammeln und vermehren, bevor sie über die Blutzirkulation wieder zum Ort der Abwehr wandern.
Wegen ihrer Fähigkeit umherzuschweifen hat man weiße Blutzellen schon seit langem mit Krebszellen verglichen, die zum Schaden für den Gesamtorganismus ebenfalls ihren Ort wechseln können. Aus diesem Vergleich versuchte man Rückschlüsse auf das Verhalten der Krebszellen zu ziehen. Es wurde sogar postuliert – und in einigen Fällen mag das zutreffen –, daß Tumorzellen mit weißen Blutzellen verschmelzen und sich dadurch deren Fähigkeit zur Wanderung aneignen.
Über Krebs haben Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten sehr viel gelernt etwa, daß normale Zellen nicht auf einen Schlag entarten, sondern über mehrere Schritte, von denen manche aufgeklärt sind. Außerdem zeigte sich, daß Krebs keineswegs unbeeinflußbar sein muß. Könnte man im menschlichen Körper auf Dauer ausreichend starke Differenzierungssignale erzeugen (die eine Zelle auf ihre jeweilige Aufgabe festlegen), so ließen sich viele Krebszellen dazu bringen, ihr unkontrolliertes Wachstum einzustellen.
Bei der Beantwortung einer Frage hat sich die Wissenschaft bislang jedoch sehr schwer getan: Wie erwerben Krebszellen die verhängnisvolle Fähigkeit, den Platz im Körper zu wechseln? Nur dadurch können sie ja Absiedlungen (Metastasen) an vielen, zum Teil lebenswichtigen Stellen bilden, die sich nicht mehr mit chirurgischen Mitteln vollständig entfernen und auch mit Bestrahlungen und Chemotherapie nur bedingt unterdrücken lassen, so daß sie meist das Todesurteil für den Patienten bedeuten.
Ein Platzwechsel im Körper ist keineswegs ein einfacher Vorgang. Dabei müssen sich einzelne Tumorzellen von ihren Nachbarn lösen, etliche Hindernisse auf dem Weg zu den Lymph- und Blutgefäßen überwinden, im Lymphoder Blutstrom der Immunabwehr entgehen, sich in fremdem Gewebe einnisten und dort ihre Nährstoffversorgung sicherstellen (siehe "Zellinvasion und Metastasierung bei Krebs" von Lance A. Liotta, Spektrum der Wissenschaft, April 199S, Seite 50). Zwar wurden vielerlei Einzelkomponenten identifiziert, deren Funktionen in mehr oder weniger überzeugender Verbindung zur Wanderungsfähigkeit und zu den veränderten Wachstumseigenschaften der Tumorzellen stehen; doch der Gesamtvorgang erschien dadurch nur immer komplizierter und schwerer durchschaubar.
Große Hoffnungen weckte im Jahre 1985 eine Veröffentlichung, in der Shelly C. Bernstein und Robert A. Weinberg vom Whitehead-Institut für Biomedizinische Forschung im Cambridge (Massachusetts) berichteten, durch Gentransfer ein Gen identifiziert zu haben, das die Metastasierung auslösen könne. Bis heute ist es jedoch wider Erwarten nicht gelungen, dieses Gen zu isolieren. Immerhin gab es in jüngster Zeit in einigen Labors Fortschritte, die Einblicke in zentrale Elemente des Metastasierungsprozesses zu gewähren scheinen. Dazu zählt die Entdeckung des mutmaßlichen Metastasensuppressor-Gens nm23, dessen Proteinprodukt nicht mehr nachweisbar ist, wenn Zellen metastatisch werden. Außerdem zeigte sich, daß Krebszellen, um wandern zu können, auch bestimmte Kittproteine an ihrer Oberfläche (wie DCC und E Cadherin) verlieren müssen.
Ein faszinierender neuer Beitrag zum Verständnis des Metastasierungsprozesses erwuchs kürzlich aus einer multidisziplinären Zusammenarbeit mehrerer europäischer Labors mit Schwerpunkt im Kernforschungszentrum Karlsruhe und im Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg. Dabei wurde ein Protein entdeckt, das Krebszellen herstellen müssen, um metastasieren zu können.
Es gelang nicht nur, das zugehörige Gen zu isolieren, sondern auch zweifelsfrei nachzuweisen, daß seine Expression eine unerläßliche Bedingung für die Fähigkeit zur Metastasierung ist.
Die Entdeckungsgeschichte begann 1979, als am Heidelberger Krebsforschungszentrum bei einer Ratte ein Tumor der Bauchspeicheldrüse entdeckt und, herausgeschnitten wurde. Die Zellen dieser Geschwulst konnten dazu gebracht werden, in Kulturschalen zu wachsen. Erstaunlicherweise verhielten sie sich sehr uneinheitlich. Einige waren, wenn sie einer Ratte des gleichen Stamms unter die Haut gespritzt wurden, hochaggressiv und metastasierten sofort; andere dagegen blieben friedlich am Ort der Injektion.
Dies eröffnete die aufregende Möglichkeit, durch vergleichende Analyse der Tumorzellen die genetische Ursache ihrer Verschiedenheit aufzuspüren. Hier setzte auch die Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsgruppen in Karlsruhe und Heidelberg an. Da sonst kein Labor an diesen Rattentumorzellen arbeitete, bestanden zugleich gute Chancen, etwas wirklich Neues zu entdecken und nicht auf die ausgetretenen Pfade anderer zu geraten.
Aus dem Blut von Mäusen, denen wir die beiden Arten von Tumorzellen injiziert hatten, gewannen wir Lymphocyten, die Antikörper gegen die diversen Strukturen auf der Oberfläche der Tumorzellen bildeten. Nach einem mittlerweile gebräuchlichen Verfahren machten wir die Lymphocyten unbegrenzt teilungsfähig, indem wir sie mit Myelomzellen (entarteten Lymphocyten) zu sogenannten Hybridomen verschmolzen, die in großen Mengen jeweils einen bestimmten monoklonalen – Antikörper erzeugten. Es gelang uns, aus der Vielzahl solcher Antikörper einen zu finden, der sich nur an die aggressiven, metastasierenden Rattentumorzellen und nicht an die ortsständigen band. Dieser brachte uns auf die Spur eines Proteins (und des zugehörigen Gens), das ausschließlich auf der Oberfläche der metastatischen Tumorzellen vorkommt. Daß sich das gleiche Protein auch bei einem metastatischen Brustdrüsenkarzinom der Ratte fand, bestärkte den Verdacht, daß es mit der Aggressivität der Tumorzellen zu tun hätte.
Um dies zu prüfen, verabreichten wir Ratten gleichzeitig mit den aggressiven Tumorzellen subkutan oder intravenös die spezifischen Antikörper. Wir nahmen an, daß die ziemlich großen Antikörpermoleküle, indem sie sich an die Zelloberfläche anheften, die noch unbekannte Funktion des Proteins stören würden. Wenn diese Funktion für den Metastasierungsprozeß wichtig wäre, sollte er dadurch verzögert oder gänzlich unterbunden werden. Dies war tatsächlich der Fall. Durch Kontrollexperimente stellten wir sicher, daß der Hemmeffekt wirklich auf der Behinderung dieses einen Proteins beruhte.
Wenn das Ausschalten des Proteins die aggressiven Tumorzellen entschärfte, könnte dann seine Zugabe vielleicht die harmlosen Tumorzellen aggressiv werden lassen? Nachdem wir das Protein identifiziert hatten, war es uns gelungen, auch das zugehörige Gen zu isolieren. Damit konnten wir es in die nichtmetastasierenden Tumorzellen der Ratte einpflanzen und prüfen, ob diese daraufhin Metastasen bilden würden. Angesichts der Komplexität des Metastasierungsprozesses hielten wir dies freilich für eher unwahrscheinlich.
Dennoch machten wir den Versuch und wurden positiv überrascht: Bei subkutaner Injektion der genetisch veränderten Tumorzellen in Ratten entstanden Metastasen in Lymphknoten und Lunge. Dieses eine Gen (beziehungsweise Protein) reicht also aus, lokal wachsende Tumorzellen in metastasierende umzuwandeln (vergleiche auch Bild 1).
Untersuchungen zur Krebsentstehung haben klargemacht, daß die Entartung nicht daher rührt, daß völlig neue Gene im Genom auftauchen, sondern daß bereits vorhandene abgeändert oder fälschlich an- oder abgeschaltet werden. Unser Metastasen-Gen muß demnach auch eine normale Funktion haben.
Tatsächlich entdeckten wir eine solche bei den weißen Blutzellen. Sie tragen das Produkt dieses Gens allerdings nicht während ihres ganzen Lebens auf der Zelloberfläche, sondern nur nach dem Kontakt mit einer Fremdsubstanz, einem Antigen. Es handelt sich um ein Adhäsionsmolekül vom Typ CD44, mit dem die Lymphocyten sich an die Epithelzellen anheften können, die Blutgefäße auskleiden. Sie benötigen es vermutlich für die Wanderung in den Lymphbahnen und das Verweilen in denv Lymphknoten. Auch die meisten bösartigen Tumorzellen bilden als erstes Metastasen in den Lymphknoten.
Demnach scheinen metastasierende Krebszellen die weißen Blutzellen zu imitieren: Sie bedienen sich eines Schlüsselmoleküls, das die normalen Vagabunden einsetzen, um Eindringlinge im Körper aufspüren und eliminieren zu können. Obwohl man bei neuen Forschungsergebnissen sehr vorsichtig mit verallgemeinernden Schlußfolgerungen sein muß, denken wir nun darüber nach, ob sich aus diesen Experimenten Ideen ableiten lassen, die Metastasierung des Krebses beim Menschen zu behindern.
Fairerweise seien alle Wissenschaftler genannt, die an der Entdeckung des Metastasen-Gens beteiligt waren. Siegfried Matzku isolierte und charakterisierte die Tumorzellen. Die monoklonalen Antikörper isolierte der Diplomand Achim Wenzel unter Anleitung Matzkus und Margot Zöllers. Ursula Günthert klonierte und sequenzierte das Metastasen-Gen. Martin Hofmann erzeugte die Genkonstrukte für das Einpflanzen in nicht-metastatische Zellen. Die Genstruktur wurde von Cornelia Tölg aufgeklärt, die Proteinstruktur von Wolfgang Rudy. Martin Hofmann, Karl-Heinz Tdeider und der Amsterdamer Pathologe Steven Pals machten (hier nicht erwähnte) Untersuchungen an menschlichen Krebszellen. Robert Arch, Karin Wirth und Simone Seiter waren für die Untersuchung der weißen Blutzellen und für viele Tierversuche zuständig.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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