Erhalt der Vielfalt von Bäumen - erstes forstliches Genreservat in der Schweiz
Der Schutz von Tier- und Pflanzenarten sowie von Lebensräumen ist mittlerweile auch in der Öffentlichkeit als notwendig anerkannt. Relativ neu sind Ansätze, genetische Ressourcen zu bewahren. Für Waldbäume richtet nun die Schweiz, statt kostspielige Samenbanken zu unterhalten, Reservate ein.
Die Erhaltung der Biodiversität ist in mehreren internationalen Abkommen zum politischen Ziel erklärt worden: auf den Ministerkonferenzen zum Schutze der Wälder von 1990 in Straßburg und von 1993 in Helsinki sowie im Jahre 1992 auf der Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Die Biodiversität umfaßt außer der Vielfalt der Ökosysteme und der Spezies von Lebensformen auch diejenige innerhalb der Arten, für die eine wichtige Voraussetzung ein reichhaltiger Genbestand ist.
Das Erbmaterial ist der Baukasten der Evolution. Je mannigfaltiger seine Elemente sind, desto größer ist die Chance, daß Pflanzen- und Tierarten sich an veränderliche Umweltbedingungen anpassen können. Schutzmaßnahmen für Bäume sind indes um so dringlicher, weil sie außer natürlichen Belastungen vermehrt dem Stress ausgesetzt sind, den der Mensch verursacht – durch Schadstoffe in Luft, Wasser und Boden sowie künftig möglicherweise durch kräftigere Ultraviolett-Einstrahlung infolge der Ausdünnung der stratosphärischen Ozonschicht oder durch noch nicht absehbare Auswirkungen eines verstärkten atmosphärischen Treibhauseffekts auf Witterung und Klima. Risiken einer genetischen Destabilisierung können auch durch Bewirtschaftungsmaßnahmen und die Auswahl nicht angepaßten Vermehrungsgutes hervorgerufen werden.
Erhaltung vor Ort
In der Schweiz arbeiten die Gruppe Forstgenetik der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) unter Leitung von Gerhard Müller-Starck und Erwin Hussendörfer zusammen mit Patrick Bonfils von der Professur für Waldbau der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich an der Einrichtung eines Netzes von Genreservaten. Das Konzept dafür hatte 1987 eine Arbeitsgruppe der Kantonsoberförsterkonferenz vorgelegt. Mit diesem Projekt sollen insbesondere genetisch reichhaltige Waldbestände des Landes geschützt und so ein möglichst großer Teil der genetischen Ressourcen von Waldbäumen auf Dauer bewahrt werden. Die Forstwissenschaftler der ETH suchen geeignete Gebiete aus und organisieren die Einrichtung von Reservaten mit den zuständigen Forstdiensten. Wichtiges Kriterium für die Auswahl sind die Ergebnisse genetischer Untersuchungen, welche die Wissenschaftler der WSL durchführen.
Vor kurzem ist im Kanton Fribourg die erste forstliche Schutzzone dieser Art der Schweiz eingerichtet worden. Sie umfaßt einen genetisch besonders variablen Eichenbestand im Staatswald Galm. Für die Zukunft ist ein ganzes Netz solcher Reservate geplant – außer für Eichen auch für Fichten, Tannen und Buchen.
Innerhalb eines Reservats gelten für die Bewirtschaftung besondere Regeln:
- Es wird ausschließlich mit Naturverjüngung gearbeitet.
- Fremdes Erbmaterial der zu erhaltenden Baumart darf nicht eingeführt werden, um Hybridisierung mit weniger angepaßtem Erbgut zu vermeiden.
- Eine Nutzung des Waldes ist gleichwohl mit wenigen Einschränkungen möglich; dafür wird das Reservat in eine kleine Kernzone (absoluter Schutz), Zonen strikter und gemäßigter Generhaltungsmaßnahmen sowie eine umgebende Pufferzone eingeteilt. Das neue Wald-Gesetz der Schweiz sieht für die Eigentümer des Areals Finanzhilfen vor.
Genetische Forschung für Umwelt- und Naturschutz
Müller-Starck und seine Gruppe nutzen für die Ermittlung der genetischen Vielfalt Isoenzyme, also Enzyme, die jeweils dieselbe biochemische Reaktion katalysieren, sich aber aufgrund evolutionärer Prozesse in ihrer molekularen Struktur und in ihren physikalischen Eigenschaften unterscheiden. Man kann die verschiedenen Varianten eines solchen Enzymsystems durch Gel-Elektrophorese identifizieren und damit genetische Merkmale bestimmen (Bild 1). Hinzu kommen neuerdings Methoden zur direkten Analyse des Erbmaterials DNA, etwa mittels genetischer Marker.
Die Forstgenetiker erkannten so zum Beispiel, daß bei der Fichte die Variation innerhalb einzelner Waldbestände größer ist als erwartet, diejenige zwischen verschiedenen Beständen aber vergleichsweise gering. Dieser Befund ist wichtig für die Einrichtung von Genreservaten: Für den Erhalt der Biodiversität dieser Baumart ist es besser, wenige große Flächen auszuweisen als viele kleine. Bei der Tanne wiederum zeichnet sich ein entgegengesetzter Trend ab. Generell befürworten die Wissenschaftler Mindestflächen von 20 und nach Möglichkeit Komplexe von rund 100 Hektar.
Genetische Marker lassen sich vielseitig nutzen. Sie halfen auch, Informationen über die nacheiszeitliche Wanderungsgeschichte der Weißtanne zu gewinnen. Hussendörfer untersuchte unter anderem zwei Genorte dieser Baumart auf die Verteilung seltener Allele und konnte damit die Vermutung von Paläobotanikern bestätigen, daß diese einzige in Mitteleuropa heimische Tannenart auf mehreren Routen von Südwesten bis Südosten in die Schweiz eingewandert ist (Bild 2).
Überleben in einer komplexen Umwelt
Wälder sind aus genetischer Sicht ein Sonderfall: Sie weisen eine deutlich größere Heterogenität auf als sonstige Pflanzengemeinschaften der Kulturlandschaft, insbesondere die der agrarwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen.
Bäume sind extrem langlebig. Während ihrer Generationsdauer von einigen Jahrzehnten bis zu mehreren Jahrhunderten (Weißtannen können 500, Lärchen und Arven gar 1000 Jahre alt werden) sind sie zahlreichen Belastungen wie Frost, Dürre, Krankheiten und Schadstoffen ausgesetzt, was hohe Anforderungen an ihre Anpassungsfähigkeit stellt. Die evolutive Reaktion war die Ausbildung einer wesentlich größeren genetischen Vielfalt als bei anderen Pflanzen – und zwar sowohl in ihrem Heterozygotiegrad (der Anzahl mischerbiger Genorte im Erbmaterial der Individuen) als auch in der Diversität in den Waldbeständen.
Unter heterogenen Umweltbedingungen wird das Überleben von Populationen allerdings nicht in erster Linie durch einzelne Bäume gewährleistet, die sich als Träger bestimmter Merkmale in einzelnen Lebensabschnitten als angepaßt erwiesen haben. Vielmehr muß die jeweilige Population als Ganzes ein hohes Potential haben, auch die nachfolgenden Generationen mit genetischer Vielfalt auszustatten.
Die Einrichtung von Genreservaten ist eine sehr wirkungsvolle Maßnahme, die Anpassungsfähigkeit der Waldbäume zu erhalten und Waldökosysteme zu stabilisieren. Sie sollte deshalb Vorrang vor der Konservierung von Vermehrungsgut in Samenbanken haben, weil die genetischen Ressourcen nur dann, wenn man sie dem Einfluß der Umwelt und entsprechenden Anpassungsprozessen aussetzt, Basis für die Lebenstüchtigkeit der Organismen sein können.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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