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Erkenntnisse zum Vergessen - ein neues Modell der Alzheimer-Krankheit

Überraschende Befunde über das Protein, das sich in großen Mengen im Gehirn von Alzheimer-Patienten ablagert, stellen die bisherigen Theorien über die Ursache der krankhaften Alters-Vergeßlichkeit auf den Kopf.


Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Ursache geistigen Verfalls im Alter (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1992, Seite 56). Oft kann aber selbst der Arzt kaum zwischen einem frühen Stadium dieser Erkrankung und einer weniger gravierenden Form der Gedächtnisschwäche unterscheiden. Erst nach dem Tode verschafft die Sektion des Gehirns Klarheit: Bei Alzheimer-Patienten sind jene Teile, die an Gedächtnis und Wahrnehmung beteiligt sind, durchsetzt mit auffälligen Knötchen.

Diese neuritischen Plaques bestehen aus faserigen Ablagerungen eines kleinen Eiweißmoleküls, des beta-Amyloid-Proteins, und degenerierten Fortsätzen von Nervenzellen (von deren Namen – Neuriten – sich die Bezeichnung ableitet). Da die Degeneration der Neuriten ein sehr komplexer, schwer zu untersuchender Vorgang ist, hat sich die Forschung bisher darauf konzentriert, die Rolledes beta-Amyloid-Proteins zu klären. Dennoch ist bis heute nicht bekannt, ob dessen Ablagerung die Krankheit verursacht oder lediglich sichtbare Begleiterscheinung eines Prozesses ist, der die Regeneration von Neuriten auslöst. Gegen die ursächliche Rolle der Plaques spricht, daß auch das Gehirn von gesunden Menschen, die älter als 75 Jahre sind, meistens einige solche Knötchen aufweist.

Das beta-Amyloid geht aus einem viel größeren Vorläuferprotein hervor, dem beta-APP (beta-amyloid presursor protein) . Dieses besteht, wie man seiner Aminosäuresequenz entnehmen kann, aus einem kurzen Abschnitt, der die Membran der Nervenzellen durchquert ( einer Transmembran-Domäne), sowie einem langen extra- und einem kleinen intrazellulären Bereich. Das beta-Amyloid-Protein wird in speziellen Verdauungsorganellen der Zelle, den Prä-Lysosomen, aus beta-APP herausgeschnitten. Es umfaßt nur noch einen Teil der extrazellulären Region und die Hälfte der Transmembran-Domäne.

Normalerweise werden Proteine, die in das Prä-Lysosom gelangen, vollständig abgebaut. Das beta-Amyloid-Protein scheint dagegen im wahrsten Sinne des Wortes schwer verdaulich zu sein. Da es in den neuritischen Plaques extrazellulär vorliegt, muß es von den Verdauungsorganellen, die es offenbar nicht weiter zerlegen können, schließlich irgendwie an die Zelloberfläche gelangen und dort in das umgebende Medium abgegeben werden.

In Wirklichkeit sind die Verhältnisse allerdings noch etwas komplizierter. Das beta-Amyloid-Protein existiert nämlich in mehreren, geringfügig verschiedenen Formen, die durch Spaltung an unterschiedlichen Stellen der Transmembran-Domäne zustande kommen. Die Form, die in den neuritischen Plaques überwiegt, besteht aus 43 Aminosäuren und ist unlöslich.

Vor kurzem wurde im Blutplasma sowie in der Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit auch eine lösliche Variante entdeckt ("Nature", 24. September 1992, Seite 322). Für die Fachwelt war dies sehr überraschend, weil ein Protein, das eine halbe Transmembran-Domäne enthält, eigentlich zusammenklumpen sollte. Derartige Domänen bestehen nämlich aus hydrophoben (wasserabstoßenden) Aminosäuren, die sich, um einem wäßrigen Medium eine möglichst geringe Oberfläche zu bieten, normalerweise zu einem unlöslichen Knäuel zusammenballen. Obwohl die hydrophobe Region bei der löslichen Form vermutlich um drei bis vier Aminosäuren kürzer ist als bei der unlöslichen, widerspricht das Verhalten dieses Proteins allen bisherigen Erfahrungen.

Erstaunlicherweise wurde lösliches beta-Amyloid-Protein nicht nur bei Alzheimer-Patienten, sondern auch bei gesunden Personen nachgewiesen ("Science", 2. Oktober 1992, Seite 126). Dabei stand seine Menge in der Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit in keinem erkennbaren Zusammenhang mit einer Erkrankung.

Dieser Befund zwang viele Wissenschaftler zum Umdenken. Bis dahin hatte man das beta-Amyloid-Protein nicht für ein normales Stoffwechselprodukt, sondern für eine pathologische Bildung bei Alzheimer-Patienten gehalten. Dementsprechend wurde auch nach einer toxischen Wirkung gesucht. Nun sterben zwar tatsächlich bis zu 50 Prozent der Nervenzellen einer Kultur ab, wenn ihnen die 40 Aminosäuren lange Form in hoher Konzentration zugesetzt wird; in niedriger Konzentration aber fördert das gleiche Protein sogar das Überleben junger Nervenzellen ("Science", 12. Oktober 1990, Seite 279).

Dabei ist fraglich, ob die im Experiment verwendeten hohen Konzentrationen im Gehirn überhaupt auftreten. Vermutlich fördert das lösliche beta-Amyloid-Protein also unter natürlichen Bedingungen das Überleben von noch nicht ausgereiften Nervenzellen und hat somit eine wichtige physiologische Funktion bei der Entstehung der Nervenverknüpfungen im sich entwickelnden Gehirn. Die unlösliche Form hingegen kommt möglicherweise tatsächlich nur bei Alzheimer-Patienten vor und hängt eng mit den geistigen Verfallserscheinungen zusammen.

Eine mögliche Rolle des beta-Amyloid-Proteins als Nervenwachstumsfaktor erklärt allerdings nicht die Aufgabe von beta-APP selbst. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß ein so großes Protein nur hergestellt wird, um dann auf ein 40 Aminosäuren langes Bruchstück gestutzt zu werden – eine solche Verschwendung hätte sich im Laufe der Evolution sicherlich nicht durchsetzen können.

Aufgrund der Struktur von beta-APP hatte man schon immer vermutet, daß es ein Rezeptor sein könnte. Doch erst jetzt gelang es einer Gruppe von Forschern, diese Vermutung zu erhärten ("Nature", 4. März 1993, Seite 75). Nach ihren Befunden kann sich beta-APP an ein bestimmtes G-Protein (G0) binden.

G-Proteine spielen bei der Signalübermittlung eine zentrale Rolle (Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 54). Viele Hormone gelangen niemals in die Zelle, sondern docken außen an einen spezifischen Rezeptor in der Zellmembran an und ändern dadurch dessen räumliche Struktur. Der Rezeptor bindet und aktiviert daraufhin seinerseits ein G-Protein. Diese an der Innenseite der Membran verankerten Proteine regulieren die Aktivität von Enzymen, die sogenannte sekundäre Botenstoffe synthetisieren. Die Bindung eines einzelnen extrazellulären Botenmoleküls löst auf diese Weise die Bildung vieler Moleküle eines intrazellulären Boten aus, der – wiederum über diverse Zwischenschritte – bestimmte Schlüsselprozesse des Zellstoffwechsels kontrolliert. Die Aktivierung von G0 zum Beispiel hat einen Anstieg des intrazellulären Calciumspiegels zur Folge (siehe Bild auf Seite 21).

Eine nur 20 Aminosäuren lange intrazelluläre Sequenz (Peptid 20 genannt) vermittelt die Bindung von beta-APP an G0. Außerdem reicht sie allein bereits aus, G0 zu aktivieren. Dieser Befund ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen ähnelt Peptid 20 einer Sequenz, die zuvor schon bei einem anderen Rezeptor gefunden worden war und dort gleichfalls für die Aktivierung von G0 verantwortlich ist; offenbar wurde damit ein bisher unbekanntes Sequenzmotiv entdeckt. Zum anderen bieten diese Erkenntnisse eine überraschend plausible Erklärung für die Entstehung der Alzheimerschen Krankheit: Es ist nämlich denkbar, daß die Aktivierung von G0 Neuriten degenerieren läßt.

Auf den ersten Blick mag die Existenz eines solchen Suizid-Moleküls absurd scheinen. Das Absterben von Neuriten ist aber ein wichtiger Vorgang bei der spezifischen Verschaltung von Nervenzellen während der Gehirnreifung. Außerdem gibt es ein wichtiges Indiz, daß G0 daran beteiligt ist: Durch einen Inhibitor von G-Proteinen oder durch eine Behandlung, die den Anstieg des Calziumspiegels unterdrückt, läßt sich das Absterben der Neuritenspitze verhindern ("Science", 1. Januar 1993, Seite 77).

Daraus ergibt sich eine attraktive Hypothese, die das Entstehen der Plaques mit der Degeneration der Neuriten verbindet. Möglicherweise bleibt nach dem Herausspalten des unlöslichen beta-Amyloid-Proteins ein fortwährend aktives Fragment von beta-APP zurück. Dadurch würde G0 auch dann aktiviert, wenn kein extrazelluläres Botenmolekül an das beta-APP gebunden ist. Dies ließe den intrazellulären Calciumspiegel unkontrolliert ansteigen und die Neuriten schließlich absterben. Ein solches Erklärungsmodell für die Alzheimer-Krankheit, das bei der Degeneration der Neuriten ansetzt und die Plaques nur als Nebenprodukt des pathologischen Geschehens betrachtet, fügt sich jedenfalls besser in das Bild der bekannten Gehirnvorgänge als bisherige Vorstellungen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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