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Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität

Aus dem Englischen
von Susanne Kuhlmann-Krieg.
Droemer Knaur, München 1995.
464 Seiten, DM 49,80.

Eigentlich ist dieses Buch recht empfehlenswert. Gerade die neuesten Forschungsergebnisse zur frühen Entwicklung der Lebewesen, in der alsbald die Sexualität mit weiteren, mitunter abstrus anmutenden Folgen auftrat, sind von allgemeinem Interesse. Sexualität betrifft schließlich fast jeden und eben wegen dieser Folge-Entwicklungen sehr viel weitergehend, als man meinen möchte. Das ist hier klar und mit Witz vorgeführt von dem englischen Wissenschaftsjournalisten und Sachbuchautor Matt Ridley, nicht zu verwechseln mit dem Biologen Mark Ridley, der ein viel strengeres Buch über Evolution geschrieben hat (siehe meine Rezension in Spektrum der Wissenschaft, August l992, Seite 129). Der hier vorliegende Text samt den 28 Seiten Literaturverzeichnis dürfte zudem für Lehrer, ob in Biologie, Ethik, Religion oder Philosophie, nützliche Anregungen bieten.

Ohne Sex kann das Immunsystem nicht funktionieren (Seite 94). Die sexuelle Rekombination der Erbanlagen ändert die genetische Einbruchssicherung der Individuen gegen viel rascher evolvierende Krankheitserreger; die Bakterien in unserem Darm bringen ja im Laufe eines Menschenlebens sechsmal so viele Generationen hervor, wie die Menschheit brauchte, um sich vom Affen bis heute zu entwickeln (Seite 84).

Doch Ridley geht es zumeist gar nicht um Sex, sondern um dessen Auswirkungen. Klar, "die sexuelle Fortpflanzung erhöht den Reproduktionserfolg, sonst wäre die Sexualität nicht mit einer solchen Beständigkeit erhalten geblieben" (Seite 16). Selbst "der freie Wille ist nur so lange von Vorteil, wie er zum Reproduktionserfolg beiträgt" (Seite 15).

Ridley macht derartige Folgerungen in gut durchdachten didaktischen Schritten verstehbar: Evolution ist nicht das Ziel aller Existenz, sondern ein ungerichteter Vorgang, der den Organismen geschieht (Seite 44). Sie schafft Veränderung, ist ein Mittel zur Lösung von Problemen, aber nicht eine Leiter des Fortschritts (Seite 80). Die Fortpflanzung des Bestangepaßten ist wichtiger als sein Überleben (Seite 208); oft genug richtet sich ja die sexuelle gegen die natürliche Selektion (Seiten 168 und 397). Allerdings: Lebewesen mit großen Populationen und kleinem Genom brauchen keine Sexualität (Seite 65); manche Rädertierchen existieren schon seit 40 bis 80 Millionen Jahren sexfrei. Auch der Löwenzahn pflanzt sich nicht sexuell fort.

In mehr als 140 Pflanzenarten wurden Gene nachgewiesen, die das männliche Geschlecht vernichten (Seite 129). Zwischen den beiden Geschlechtern besteht nämlich heftige Konkurrenz; den Organellen (zum Beispiel den Mitochondrien) der Spermien ist der Zutritt zum Ei verwehrt (Seite 124). Der Überlebenskampf zwischen den mitgebrachten Mitochondrien (bei Pflanzen auch den Chloroplasten) beim Verschmelzen der Keimzellen liefert überhaupt die Ursache für die heutige Existenz zweier Geschlechter (Seite 125).

Sexualität bleibt bestehen, wenn Individuen mit sexueller Vermehrung besser dran sind als ohne. Erst seit der Wiederentdeckung des Individuums und der Abkehr von der Gruppenselektionstheorie (Seite 49) wird klar, welche kollektiven Wirkungen auf die Handlungen selbstsüchtiger Einzelwesen zurückgehen. In diesen Abschnitten sind modernste Forschungsergebnisse für jeden verständlich und weitgehend vergnüglich zu lesen vorgeführt.

Ridley bezieht nun letztlich die zahlreichen wissenswerten biologischen Beispiele auf den Menschen, aber nicht immer hinreichend kritisch. In der zweiten Hälfte des Buches geht es explizit um den Menschen, und da sind meiner anfänglichen Empfehlung Vorbehalte anzufügen, denn es ist eben nicht alles klares Faktum, was als begründete Hypothese diskutiert wird, obwohl es nachweislich im Tierreich reichlich menschelt.

In manchen Völkern setzen sich sozialer Rang und Besitz tatsächlich in Nachkommenzahlen um, wie die Selektionstheorie voraussagt; auch in Europa waren Reichtum und Macht bis zur Renaissance kaum getrennt (Seite 232), und es entstand wie bei vielen Vogelarten eine PolygynieSchwelle (Seite 220): lieber Nebenfrau eines Reichen als einzige Frau eines armen Schluckers. Aber sind wirklich bei der Partnerwahl bestimmte Vorlieben "durch die gesamte menschliche Geschichte hindurch" (Seiten 348 und 357) am Werk gewesen, haben stets Frauen mit einer besonderen Charaktereigenschaft mehr Nachkommen hinterlassen als andere (Seite 351)? Woher weiß man das? Nicht jede Erscheinung, die formal ins Bild paßt, gehört auch inhaltlich dorthin.

Zwar sprechen gute Gründe dafür, daß der menschliche Intellekt das Produkt der sexuellen und nicht der natürlichen Selektion ist (Seite 34), daß wir unseren Intellekt primär nicht einsetzen, um praktische Probleme zu lösen, sondern um einander auszutricksen beziehungsweise uns nicht austricksen zu lassen (Seite 47). Freilich, die männliche und die weibliche Natur des Menschen sind verschieden, beeinflussen viele Organe und eben auch das Gehirn (Seite 289). Allerdings sind Ausagen über körperliche Geschlechtsunterschiede banal, solche über geistige Unterschiede brisant (Seite 292).

Wir verstehen den Nutzen der Schönheit (Seite 327), die Funktion der Eifersucht (Seiten 279 und 208) und wissen längst, daß das Ziel der Redekunst nicht die Wahrheit, sondern die Überredung ist (Seite 391). Vermutlich stimmt es auch, daß die Spezies Mensch "einer ungewöhnlich intensiven gegenseitigen sexuellen Selektion unterworfen gewesen ist, so daß manche Merkmale des weiblichen Körpers (Lippen, Brüste, Hüften) ebenso wie der Intellekt beider Geschlechter (Dichtung, Wettbewerbsverhalten, Statusstreben) für den Einsatz bei der Konkurrenz um Partner geformt ist" (Seite 409). Aber die Frage: "Warum sollte Intelligenz eine gute Sache sein?" (Seite 387) ist nicht beantwortet mit dem Hinweis, daß sie sich im sozialen Kontext nützlich machen läßt. Für das Überleben erforderliche Entwicklungen etwa von Augen, Beinen oder Flügeln geschahen immer wieder; Intelligenz unseres Typs hingegen gibt es nur einmal, die meisten Lebewesen kommen ohne sie aus. Also ist sie – wie Ernst Mayr, der Begründer der synthetischen Evolutionstheorie, betont hat – entweder sehr schwierig zu erreichen oder ein Lapsus in der Natur. (Und darum ist es wohl albern anzunehmen, sie sei auch noch anderswo im Weltall zustande gekommen).

Nicht nur bei der flotten Übertragung auf den Menschen, auch im sachlichen Text dürfte der kritische Leser hie und da stolpern. Nicht über Kleinkram wie die angeblich kenianischen Brüllaffen (Seite 144; Brüllaffen gibt es nur in Südamerika) oder ein rezessives Gen, das aus einer Ehe zwischen Cousin und Cousine "hervorgeht" (Seite 333). Es gibt für mich merkwürdige, fundamentale Aussagen mit Fehlern, die sicherlich nicht der (insgesamt guten) Übersetzung zuzuschreiben sind:

"Unterschiede, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, sind per definitionem genetisch" (Seite 293) – wo ist da die kulturelle Evolution (etwa die der Sprachen) in der Übermittlung von Traditionen geblieben? Andererseits: Wie kommt es, daß die Weibchen verschiedener Arten verschiedene Merkmale bei ihren Geschlechtspartnern bevorzugen, wenn diese Präferenz "sich nicht im Laufe der Evolution entwickelt" (Seite 198)?

Die generelle, an den deutschen Darwin-Anhänger August Weismann (1834 bis 1914) anknüpfende Feststellung "Das Keimplasma bleibt vom übrigen Körper getrennt" (Seite 20) wird widerlegt mit jedem vom Pflanzenkörper gezogenen Steckling, der dann fruchtbare Blüten bildet. Auch ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind keineswegs nur durch Kooperation geprägt: Die Behauptung "Beide streben nach demselben Ziel – dem eigenen Wohlergehen und dem des anderen" (Seite 32) übergeht die immer bekannter werdenden massiven, bis zur gegenseitigen körperlichen Schädigung reichenden Interessenkonflikte zwischen Mutter und Fötus. Die berühmte "Tragedy of the commons" ist auf deutsch nicht eine "Tragödie des kleinen Mannes" (Seite 113); und auch Ridleys erläuterndes Beispiel von dem Walfänger, der die letzten Wale selber erlegt, weil es sonst ein anderer täte (Seite 132), führt auf eine falsche Denkschiene. Gemeint ist vielmehr das "traurige Schicksal des gemeinsamen Eigentums", das kurzsichtige Ausbeuten freier Ressourcen; im klassischen Beispiel bringen mehrere Bauern ihr eigenes Vieh unter Schonung der eigenen Weide auf die Allmende, weil dadurch jeder den Vorteil einer größeren Herde für sich verbucht, während der Nachteil der Erosion durch Überweidung sich auf alle verteilt; aber dadurch wird die Allmende alsbald ruiniert. In diesen Problemkreis gehören der Versicherungsbetrug und das Pinkeln im Badesee ebenso wie die Getrenntgeschlechtlichkeit und das fürs Artwohl unsinnig ausgeglichene Zahlenverhältnis zwischen Weibchen und Männchen (Seite 151) .

Ich bleibe letztlich doch bei meiner Empfehlung; man muß das Buch eben mit etwas Hab-acht-Einstellung lesen. Der Verfasser selber schreibt auf der letzten Seite: "Die Hälfte der Ideen in diesem Buch sind vermutlich falsch" (Seite 409), jedoch nicht, weil er sie falsch beschrieben hätte, sondern weil künftige Forschung sie als revisionsbedürftig erweisen könnte. Es lohnt durchaus, sich schon jetzt vor Augen zu führen, wieviel von dem, was noch vor kurzem gelehrt wurde, inzwischen bereits revidiert werden mußte.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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