Erste moderne Tiere schon im Präkambrium
Ungewöhnlich gut erhaltene Fossilien von Mehrzellern in einer rund 570 Millionen Jahre alten Formation im südlichen Zentralchina belegen, daß die Evolutionsgeschichte der Tiere weiter zurückreicht, als bisher angenommen.
Obwohl sich die Spur des Lebens anhand von Mikrofossilien über mehr als 3,5 Milliarden Jahre zurückverfolgen läßt, erscheinen erst nach rund fünf Sechsteln dieses Zeitraums – im oberen Präkambrium (Neoproterozoikum) – mit bloßem Auge erkennbare Großfossilien, die Tieren und möglicherweise auch frühen Pflanzen zugeschrieben werden können. Berühmt sind die nach ihrem Erstfundort in Australien als Ediacara-Fauna bezeichneten Lebensformen, die unterdessen auch in Namibia, Neufundland, Rußland und der Mongolei nachgewiesen wurden (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1987, Seite 106). Diese mehrheitlich auf knapp 550 Millionen Jahre datierten Fossilien lassen sich jedoch keinem der heute bekannten Tierstämme zuordnen. Fast alle sind Relikte äußerst rätselhafter Weichkörperorganismen, die wohl großenteils wie winzige gesteppte Luftmatratzen ausgesehen haben.
Nach Meinung von Stefan Bengtson vom Schwedischen Museum für Naturgeschichte in Stockholm, einem Experten für (prä)kambrische Lebensspuren, haben die Ediacara-Faunen mehr Konfusion als Klarheit gestiftet und zum Verständnis der Evolution des Tierreichs insgesamt nur wenig beigetragen. So ist immer noch rätselhaft, warum sich Weichkörper-Fossilien gerade aus diesem Abschnitt der Erdgeschichte derart gut erhalten haben. Der Paläontologe Adolf Seilacher von der Universität Tübingen deutet die Ediacara-Organismen als skelettlose, möglicherweise nicht einmal mehrzellige Lebewesen aus einem Seitenzweig der Evolution, der blind endete, bevor er sich nennenswert aufspalten konnte.
Erst vor etwa 540 Millionen Jahren, an der Wende vom Proterozoikum zum Kambrium, tauchen innerhalb eines erstaunlich kurzen Zeitraums von wenigen Jahrmillionen die ersten bekannten Vertreter der wichtigsten heute unterschiedenen Tierstämme auf. Von den früh- zu den mittelkambrischen Fundschichten nimmt die Anzahl der nachweisbaren Bauplantypen geradezu exponentiell zu (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1993, Seite 54). Mit dieser sogenannten kambrischen Explosion schien, wie man bislang glaubte, die Fossilgeschichte der tierischen Vielzeller (Metazoen) und damit des Tierreichs zu beginnen.
Schwämme, Algen, Embryonen
Untersuchungen an Mikrofossilien, die in der chinesischen Provinz Ginzhou entdeckt wurden, erzwingen nun jedoch kräftige Retuschen am traditionellen Bild. Der Fundort ist eine Phosphorit-Lagerstätte der präkambrischen Doushantuo-Formation, die auf ein Alter zwischen 550 und 590 Millionen Jahre datiert und von Ediacara-Schichten überlagert wird; sie untergliedert sich in zwei Teilbänke von je 15 bis 20 Metern Mächtigkeit. Die Fossilien kamen beim Abbau des Phosphorits für die Düngemittelproduktion zutage. Um ihre Existenz wußte man zwar bereits seit 1984, aber erst jetzt wurde die vorzügliche dreidimensionale Erhaltung der vollständig mineralisierten Organismen erkannt; in günstigen Fällen lassen sich schon im Lichtmikroskop selbst feinste Details wie Zellkerne ausmachen.
So berichten die Zellbiologen Chia-Wei Li und Tzu-En Hua von der Tsing-Hua-Universität in Taiwan sowie der Paläontologe Jun-Yuan Chen vom Institut für Geologie und Paläontologie in Nanjing von geradezu spektakulären Funden im unteren Phosphorit-Schichtpaket („Science“, Band 279, Seiten 879 bis 882, 6. Februar 1998). Sie bestehen aus fossilen Schwämmen, deren feine, meist um 50 Mikrometer (tausendstel Millimeter) lange Silicatnadeln noch in den Zellen stecken, in denen sie gebildet wurden (Bild 1). Zudem ließen sich auf Dünnschliffen mutmaßliche Schwamm-Embryonen mit Resten von Dotter identifizieren. Auch eine Schwammlarve ist offenbar vertreten: An Umrissen in der passenden Größe zeichnet sich ein dichter Geißelbesatz ab.
Shuhai Xiao und Yun Zhang von der Universität Bejing sowie Andrew Knoll vom Botanischen Museum der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) haben außerdem Phosphorit-Proben aus dem oberen Schichtpaket mit dem Rasterelektronenmikroskop untersucht. Dabei fanden sie unter anderem acht verschiedene Formen von Cyanobakterien und 31 gut unterscheidbare Typen dickwandiger Dauerstadien (Cysten) einzelliger Algen (sogenannte Acritarchen). Auffälliger waren jedoch die zahlreichen Reste mehrzelliger Algen (Thallusfragmente), welche die gesamte Bandbreite vom einfachen, oft krustenförmigen Zellaggregat bis hin zu aufrechten, verzweigten Gestalten mit echter Gewebebildung repräsentieren („Nature“, Band 391, Seiten 553 bis 558, 5. Februar 1998).
Einige dieser Fossilien haben große Ähnlichkeit mit heute lebenden Gattungen und Arten, beispielsweise mit der flächiglappig wachsenden Rotalge Porphyra suborbiculata. Andere lassen Details der Sporenbildung oder in erstaunlich klaren Konturen auch die Entstehung von Keimzellen erkennen. Demnach hatten schon deutlich vor der Schwelle zum Kambrium die Rotalgen und, wie weitere Zellfossilien belegen, auch die Vertreter anderer bedeutender Verwandtschaftslinien einen Grad gestaltlicher Komplexität erreicht, wie man ihn von den entsprechenden heutigen Formen kennt.
Fossile Furchungsstadien
Im Phosphorit sind zahlreiche kugelige Mikrofossilien eingebettet, die noch geradezu lebendfrisch wirken. Zunächst hatte man sie als Grünalgenkolonien vom Typ der heutigen Gattung Pandorina gedeutet. Sie zeigen jedoch bei gleichbleibendem äußeren Durchmesser von ungefähr 0,5 Millimetern geometrisch exakte innere Untergliederungen in 2, 4, 8 oder mehr Teile – wie Einzelstadien der sogenannten Furchung in der Keimesentwicklung der Tiere, bei der sich die befruchtete Eizelle (Zygote) auf dem Weg zum Hohlkugelstadium (der Blastula) teilt und die Anzahl der Zellen in Zweierpotenzen zunimmt (Bild 2).
Offenbar handelt es sich also um frühe Embryonen. Dafür spricht auch, daß die Gebilde teilweise von einer gut erkennbaren dünnen Hülle eingeschlossen sind, die in ihren Abmessungen an die typische Eihülle heutiger Wirbelloser erinnert. In manchen Fällen erfolgte die zweite Furchung beim Übergang zum Vierzellstadium quer zur ersten, was in der Embryonalentwicklung heutiger Tiere nur noch selten und lediglich andeutungsweise vorkommt, etwa bei Krebsen; normalerweise teilen sich die Embryonalzellen jeweils in derselben Richtung, so daß die Furchen wie die Längengrade auf einem Globus angeordnet sind.
Über die Hohlkugelbildung hinausgehende Embryonalstadien wie Gastrula oder Larven sind im unteren Schichtpaket nicht gefunden worden. Dennoch läßt das vorliegende Material den Schluß zu, daß in der Doushantuo-Formation Wirbellosen-Embryonen in faszinierender Detailtreue konserviert sind; das Furchungsmuster liefert zudem den ersten direkten Beweis dafür, daß es damals bereits zweiseitig symmetrische Tiere gab.
Demnach erfolgte schon lange vor den Ediacara-Faunen, die man bisher für den Ausgangspunkt der Evolution der mehrzelligen Tiere hielt, eine Auffächerung in bedeutende stammesgeschichtliche Entwicklungslinien. Dies paßt auch zu jüngsten Ergebnissen molekularer Untersuchungen, bei denen sechs Gene verglichen wurden, die allen Mehrzellern gemeinsam sind; aus den Unterschieden in den Nucleotidsequenzen ließ sich
anhand plausibler Annahmen über die Mutationsraten errechnen, daß sich die Hauptlinien etwa der Stachelhäuter, Ringelwürmer, Gliederfüßer und Chordatiere schon vor ungefähr 670 Millionen Jahren aufgespalten haben müssen („Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA“, Band 95, Seiten 606 bis 611; 20. Januar 1998). Von dieser Verzweigung bis zum weltweiten Auftreten einer fossil nachweisbaren Makrofauna könnten gut 100 Jahrmillionen verstrichen sein. Die Mikrofossilien in den Doushantuo-Schichten dokumentieren somit, daß der evolutive Aufstieg der mehrzelligen Tiere schon im späten Proterozoikum begann – Dutzende von Jahrmillionen vor dem Auftreten fossilisierungsfähiger größerer Lebewesen während der kambrischen Explosion.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 27
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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