Ethnische Konflikte - Ursachen und Lösungwege
Immer mehr Völker entdecken ihre eigene Identität und drängen in die nationale Selbständigkeit – oftmals mit Waffengewalt. Nur eine konstruktive Lösung zum frühestmöglichen Zeitpunkt kann eine Eskalation der Konflikte verhindern.
Der Rückzug der Sowjetunion aus den Ländern Osteuropas und ihr anschließender Zerfall haben jahrzehntelang unterdrückte Spannungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen in dramatischer Heftigkeit wieder aufleben lassen. Beginnend mit dem Loslösen der baltischen Republiken von der UdSSR setzte förmlich eine Lawine von Abspaltungsbewegungen ein, die die politische Landkarte Europas radikal veränderte. Selbst in Ländern, die nur indirekt oder überhaupt nicht von diesen Umwälzungen betroffen waren, machen sich verstärkt nationalistische Tendenzen bemerkbar – offensichtlich wirkt dabei auch eine gewisse Vorbildfunktion mit.
Die wesentliche äußere Ursache dieser ethnischen oder ethno-nationalistischen Konflikte ist, daß der Verlauf von Staatsgrenzen aus vielerlei historischen Gründen nicht mit der Verbreitung der einzelnen Völker übereinstimmt. Einerseits gibt es Ethnien, die nie über eine eigene Nation verfügt haben wie etwa die Kurden, deren Lebensraum von den Grenzen der fünf Länder Türkei, Syrien, Irak, Iran und Armenien durchschnitten wird; andererseits leben in manchen Staaten – wie etwa in der Russischen Föderation und in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken – zahlreiche Völker zusammen, die sich alle einem wirtschaftlichen und politischen System unterordnen müssen.
Ethnische Gruppen haben jedoch ebenso wie Nationen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach eigener Identität sowie den Wunsch, ihre Rechte und Interessen wahrzunehmen und durchzusetzen. Fast immer kommt es dabei zu Gegensätzen mit anderen Volksgruppen im Bereich des jeweiligen Staatsgebietes – sei es aus wirtschaftlichen Gründen, aus Angst vor Überfremdung oder aus der Befürchtung, spezifische kulturelle oder ethnische Werte zu verlieren.
Hintergründe nationalistischer Bestrebungen
Große regionale Unterschiede in der Ökonomie eines Landes können einen Nationalismus der Besitzstandswahrung hervorrufen, wie er sich in besonders eindeutiger Form im ehemaligen Jugoslawien offenbarte: Slowenen und Kroaten fühlten sich seit langem von der übrigen Nation ausgenutzt. Vor allem die Slowenen behaupteten – nicht zu Unrecht –, aus ihrer relativ hochentwickelten Region flössen unablässig Ressourcen in die industriell rückständigeren Republiken ab, ohne daß diese den Transfer politisch honorieren würden. Wenngleich die Industrie Sloweniens nicht dem westeuropäischen Entwicklungsniveau entspricht, schien eine Anbindung an die Länder der Europäischen Gemeinschaft nützlicher als ein Verbleib im förderativen Verbund, der aus den beiden Weltkriegen (1918 als Königreich, 1945 als Volksrepublik) hervorgegangen war.
Die Umstände in anderen Ländern, die Anlaß zu dieser Form der Abgrenzung geben, sind von außen her noch schwerer zu überschauen und zu verstehen. Zum Beispiel hatte Italien immerhin schon 1861 seine nationale Freiheit gewonnen. Mittlerweile agitiert dort in der hochindustrialisierten Region um Mailand die Lega Lombarda – eine politische Bewegung, die die Interessen der Aufsteiger und Systemgewinnler zu artikulieren und zu organisieren versteht – mit großer Resonanz für eine Loslösung vom armen Süden und damit für den Ausbruch aus der Nation.
Eine weitere, häufigere Variante des Nationalismus ist auf eine Abwehr von Überfremdung und Diskriminierung im eigenen Lebensraum gerichtet. Dies war bei der Loslösung der baltischen Staaten das ausschlaggebende Moment, wenngleich es auch historische und völkerrechtliche Motive für diesen Schritt gab. Insbesondere die Esten und Letten sahen in der – auch gesteuerten – Zuwanderung von Arbeitskräften aus den übrigen Sowjetrepubliken (vor allem von Russen, Weißrussen und Ukrainern) einen schweren Angriff auf die eigene Identität: Der Zeitpunkt schien nicht mehr fern, da sie zu ethnischen Minderheiten im eigenen Land geworden wären.
Hinzu kamen die als Fremdbestimmung empfundenen politischen Entscheidungen der Zentralregierung in Moskau beispielsweise bei neuen Industrieansiedlungen; die dadurch bedingten ökologischen Schäden wurden vom Zentrum freilich nicht zur Kenntnis genommen. Ein weiteres Motiv war schließlich die Sprachpolitik – wie überall ein besonders sensibler Bereich, weil Sprache als Inbegriff kultureller Identität angesehen wird.
Die baltische Botschaft – wie man die Unabhängigkeitserklärungen Estlands, Lettlands und Litauens nennen könnte – wurde sofort von allen maßgeblichen Nationalitäten in den übrigen Sowjetrepubliken aufgenommen: „Kasachstan den Kasachen!“ lautete die anderwärts entsprechend variierte Devise (Bild 1). Lokale Bevölkerungsmehrheiten erhoben sich gegen zugewanderte, überlagernde Minderheiten, die als Brückenköpfe des fernen Moskau erachtet wurden. Diese Abwehr einer Überfremdung steigerte sich zumeist bis zum Fremdenhaß und nicht selten zur Vertreibung der Zugewanderten, insbesondere der Russen. In den ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens kam der islamische Fundamentalismus als weitere treibende Kraft hinzu, der die als verwerflich empfundene westliche Fortschrittsideologie samt der darauf aufbauenden Wirtschaftspolitik für die eigene ökonomische Misere und die zunehmende ökologische Verödung verantwortlich macht.
Die häufigste Ursache nationalistischer Bewegungen ist indes der Versuch einer ethnischen Minderheit, sich gegen den Assimilationsdruck der Mehrheit zu wehren. So wollen sich die in Bulgarien lebenden Türken nicht zu „Bulgaren muslimischen Glaubens“ und die Kurden in Ostanatolien nicht zu „Bergtürken“ umfunktionieren lassen. Die ungarische und die deutsche Bevölkerung in Rumänien widersetzten sich lange Jahre dem Versuch der Regierung, ihre angestammten Lebensbereiche durch Vernichten traditioneller Dorfstrukturen zu beseitigen; und nationalistische Korsen sahen ein Urteil des französischen Verfassungsgerichts, demzufolge der im Autonomiegesetz verwendete Begriff „Korsisches Volk“ verfassungswidrig sei, geradezu als Kriegserklärung an.
Beispiele dieser Art gibt es inner- und außerhalb Europas unzählige (Bild 2). Die Dynamik all dieser Konflikte ist ver-gleichbar und mutet fast wie die gesellschaftliche Variante eines grundlegenden physikalischen Naturgesetzes an: Kraft gleich Gegenkraft. Je mehr die Bevölkerungsmehrheit versucht, eine Minderheit kulturell einzuebnen und anzugleichen, desto mehr verstärkt diese ihre Abwehr. Unter permanentem Assimilierungsdruck kann dieser sich aufschaukelnde Prozeß bis zum Bürgerkrieg eskalieren und unter Umständen sogar – wie in der Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Berggebiet Nagorny-Karabach, das um den Anschluß an Armenien kämpft – zum zwischenstaatlichen Konflikt.
Doppelmoral
In diesen drei zeitgenössischen Formen des Nationalismus – der Besitzstandswahrung sowie der Überfremdungs- und der Assimilationsabwehr – kommt eine Existenzangst zum Ausdruck, von der sich die betroffenen Kollektive befreien wollen: Der drohende oder erwartete Verlust an Macht, Wohlfahrt und Kultur soll abgewendet, vielleicht sogar noch ein Zuwachs dieser identitätsbestimmenden Größen erreicht werden.
Nicht selten jedoch werden die – zumeist berechtigten – Anliegen durch das Verhalten gegenüber Minderheiten im eigenen Bereich diskreditiert. So vertauschten sich nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten zunächst die Rollen von Unterdrücker und Unterdrückten: Nun waren die dort lebenden Russen ähnlichen Repressalien ausgesetzt wie zuvor Esten, Letten und Litauer. Es dauerte lange, bis die Rechte der ethnischen Minderheiten als legitimes politisches Thema anerkannt wurden. Falls sie nicht bald in den Verfassungen verankert werden, droht das Baltikum nach dem Balkan zum zweiten chronischen Konfliktherd Europas zu werden – die Russische Föderation würde einer fortgesetzten Verletzung der Rechte von Russen wohl kaum tatenlos zusehen und womöglich mit militärischer Intervention drohen.
Ähnlich ist die Situation in anderen Konfliktgebieten. Obwohl beispielsweise die Georgier jahrzehntelang unter der Fremdbestimmung durch die Moskauer Zentralregierung litten, hat sie dies keineswegs motiviert, die in ihrer eigenen Republik lebenden Minderheiten – vor allem die Abchasier und Osseten – pfleglich zu behandeln; und die Slowaken, die sich erfolgreich gegen den Prager Zentralismus zur Wehr setzten und nun seit Anfang dieses Jahres über einen eigenen Staat verfügen, scheinen den in der Südslowakei lebenden etwa 500000 Ungarn die wenigen Minderheitenrechte auch noch streitig machen zu wollen.
Derartige Beispiele weisen auf die Doppelmoral vieler ethnozentristischer Bewegungen hin: Der Druck der selbst erfahrenen Diskriminierung und Identitätsgefährdung wird – absichtlich oder unbedacht – in der Regel auf den Nächstschwächeren weitergegeben.
Von der Selbstbestimmung zum Bürgerkrieg
Nationalistische Bewegungen sind eine vergleichsweise moderne Erscheinung, weil ihr Entstehen an bestimmte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsstufen geknüpft ist, die es erlauben, Gemeinschaften zu mobilisieren und für politische Zwecke einzuspannen. Bauern in einem subsistenzwirtschaftlichen System etwa, die in voneinander isolierten Dörfern leben und nur den eigenen Haushalt versorgen, würden sich kaum aus der Ferne für fragwürdige Ziele vereinnahmen lassen. Ganz anders jedoch eine urbanisierte Bevölkerung: Städtische Milieus schaffen neue Kommunikationszusammenhänge und fördern eine politische Organisation. Die entstehende Intelligenzschicht vermag unbefriedigte Bedürfnisse und Erwartungen besserer Lebensumstände zu formulieren und einzufordern.
Der Konflikt entzündet sich zumeist an der Sprach- und Kulturpolitik, denn die darauf bezogenen Emotionen sind am ehesten mobilisierbar. Darum sind der Gebrauch der eigenen Sprache, das verantwortliche Mitgestalten des Erziehungswesens und eine faire politische Beteiligung an der Kulturpolitik die ersten Rechte, die aufgrund des erwachten Willens auf Selbstbestimmung eingefordert werden. Später wird schließlich die Gestaltung der Wirtschaft zum eigenen Nutzen zu einem zentralen Streitpunkt, weil sozialer Aufstieg eine erweiterte Teilhabe an der Ökonomie voraussetzt.
Erfahrungsgemäß werden Volksgruppen vor allem dann in ihrem Sinne politisch aktiv, wenn die Kluft zwischen Anspruch auf günstigere Lebensbedingungen und dem, was in überschaubarer Zeit realisierbar ist, zunimmt. Wenn die soziale und kulturelle Emanzipation bisher benachteiligter Schichten durch Verteilungskonkurrenz ins Stocken gerät oder durch die vom Status quo Begünstigten abgewürgt wird, ist die objektive politische, ökonomische und kulturelle Konstellation für eine ethno-nationalistische Mobilisierung gegeben. Führerpersönlichkeiten, die solche zunehmend problematischen Lebensumstände rhetorisch geschickt zu verarbeiten und agitatorisch zu überzeichnen verstehen, gewinnen dann an Einfluß. Dabei nimmt erfahrungsgemäß fast immer die Radikalität mit der Zeit zu: Anfänglich Gemäßigte, die noch zu Kompromissen bereit wären, werden von der Dynamik der Bewegung überrollt und durch Leitfiguren abgelöst, die schließlich sogar bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen in ihr politisches Kalkül einbeziehen.
Bei einer solchen Eskalation von Gewalt und Gegengewalt spielen Rücksichten auf die ökonomische Lage augenscheinlich nur mehr eine untergeordnete oder überhaupt keine Rolle. Wie sonst wäre es zu erklären, daß ethno-nationalistische Konflikte dermaßen erbittert, emotional und brutal ausgetragen werden, wie es meistens der Fall ist?
Zwar werden damit auch konkrete Ziele wie politische Mitbestimmung, Wohlfahrtssteigerung und kulturelle Selbstbehauptung verfolgt, doch haben ethno-nationalistische Konflikte oft in erster Linie eine identitätsstiftende Funktion. Indem Konfliktparteien sich überhaupt herausbilden, definieren sie sich allmählich als Kollektiv. Sie rekonstruieren die eigene Geschichte in mystifizierender und glorifizierender Weise und versuchen nicht selten, vergangene Größe wiederherzustellen – sei es nun Großserbien, Großaserbaidschan, Großmazedonien oder Großrumänien.
Die für den Ethno-Nationalismus kennzeichnende identitätsbildende Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen wird im Verlauf eines eskalierenden Konflikts immer stärker akzentuiert und schließlich überzogen; die eigene Hochschätzung kippt um in Überwertigkeitswahn, der die maßgeblichen Akteure für die Kosten der Auseinandersetzung völlig unsensibel werden läßt. Der Prozeß gewinnt dadurch eine äußerst gefährliche Eigendynamik: Affekte heizen sich auf, die Feindfixierung spitzt sich zu, und die Gegnerschaft beginnt geradezu autistisch die ganze Existenz zu beherrschen. Wenn die Parteien auch noch militärisch aufrüsten, sind alle Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg gegeben – Abbruch von Gesprächen, eine erhebliche Emotionalisierung, Kompromißlosigkeit und schließlich die Bereitschaft, Waffengewalt einzusetzen.
Dann ist – wie es in den Analysen der internationalen Politik heißt – ein Sicherheitsdilemma entstanden: Keiner weiß mit Gewißheit, was der andere plant, so daß er stets den worst case – den schlimmsten aller denkbaren Fälle – annehmen muß. Sicherheit wird dann gemäß der Lagebeurteilung auf jeder Seite nur durch Initiativen zur Selbstbehauptung gewährleistet, also durch die Mobilisierung militärischer Ressourcen. Wie auf internationaler Ebene setzt auch bei ethnischen Konflikten ein Rüstungswettlauf ein in dem Glauben, die stärkeren Bataillone würden obsiegen.
Infolge der Dialektik von Affektsteigerung und Verlust an kritischer Reali-tätsprüfung einerseits und Machtbehauptungswillen andererseits spitzen sich – wie man heute weltweit feststellen kann – ethno-nationalistische Konflikte häufig irrational zu: Die Wortführer der Kontrahenten verschließen sich allen Argumenten, die Unbeteiligten als vernünftig erscheinen, verlieren jegliche Sensibilität gegenüber Opfern und Kosten und setzen Gewalt jeder Art bis hin zu Terroraktionen, Massenvergewaltigung von Frauen und der sogenannten ethnischen Säuberung ein.
Gibt es Auswege?
Ethno-nationalistisch motivierte Politik ist nicht ohne Tragik. Einerseits bedürfen Gruppen von Menschen, um sich aus Entmündigung und Diskriminierung zu befreien, wirksamer Mittel der Selbstbestimmung – also auch der Abgrenzung gegenüber anderen Ethnien, sofern von diesen eine Überfremdung oder eine Zwangsassimilation droht. Andererseits besteht jedoch dabei die Gefahr, die eigene Gruppe zu sehr abzukapseln und die Kommunikationsfähigkeit zu verlieren; der Selbstbehauptungswille kann in Machtbesessenheit ausarten.
Daraus resultieren jene Exzesse, die nationalistische Politik und ihre arrogant-aggressiven Auswüchse zu Recht diskreditiert haben. Anfänglich berechtigte Beschwerden und Anliegen bewirken dann nicht eine Zivilisierung von Politik, etwa indem neue Formen der Koexistenz zwischen Mehr- und Minderheiten gefunden werden, sondern im schlimmsten Falle ihre Barbarisierung, so wie sie seit zwei Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten ist.
Gibt es aus einer solchen Situation, in der die letzten Kraftreserven mobilisiert werden und oft genug die schiere Existenz auf dem Spiele steht, überhaupt einen Ausweg?
Historische Erfahrungen und die gegenwärtigen Ereignisse stimmen eher pessimistisch. Der Nordirland-Konflikt etwa – eine im Grunde genommen jahrhundertealte Auseinandersetzung – ist seit den sechziger Jahren virulent geblieben. Der Bürgerkrieg im Libanon – dem Land, das einst als „Schweiz des Nahen Ostens“ durch friedliche Koexistenz geprägt war – dauerte ungefähr 15 Jahre. Die Parallelen zwischen den derzeitigen Kämpfen im ehemaligen Jugoslawien und historisch vergleichbaren Auseinandersetzungen im Balkan-Raum sind frappierend.
Die Kräfteverhältnisse bei einem solch dauerhaften Konflikt (protracted conflict in der politologischen Fachsprache) sind dabei meist derart, daß es keinen Sieger geben kann. Im günstigsten Falle erschöpfen sich die Gegner.
Interventionen von außen erscheinen zwar eigentlich geboten; aber die internationale Gemeinschaft ist nur schwer zu bewegen, sich in möglicherweise verlustreiche und kostspielige Aktionen einzulassen. Hilfreich wäre ein Aufbrechen der Konfliktfronten im Inneren. Doch wie auch bei anderen Auseinandersetzungen erzwingt die Eskalation die Loyalität der Menschen zur jeweils eigenen Ethnie. Politik reduziert sich dadurch auf bloße Freund-Feind-Bezüge; gemäßigte Haltungen und Skrupel werden als Verrat angesehen. Folglich ist niemand bereit, sich gegen die Kriegstreiber zu stellen. Auch im Falle Jugoslawiens fiel wieder das schreckliche resignative Wort, der Konflikt müsse „ausbluten“.
Die Lehre aus solchen dauerhaften Konflikten ist eindeutig: Wer nicht frühzeitig zu einer vorbeugenden Intervention bereit ist – gleich ob In- oder Ausländer, Diplomat oder soziale Bewegung, regionale oder internationale Organisation –, kann dies, sobald die Eskalationsdynamik eingesetzt hat, nicht mehr ohne erhebliches eigenes Risiko tun.
Eine konstruktive Konfliktbearbeitung zum frühestmöglichen Zeitpunkt hat sich deshalb an vier Erfordernissen zu orientieren:
– Vertrauensbildende Maßnahmen. Falls durch Eskalation bei einem ethnischen Konflikt ein strukturelles und grundlegendes Sicherheitsdilemma droht, sind analog zur internationalen Politik vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zur Einhegung nötig – insbesondere dann, wenn militärische Aktionen kurz bevorstehen oder bereits begonnen haben. Die wechselseitige Beobachtung und die Überwachung der gegnerischen Streitkräfte, ihrer Logistik und Bewaffnung sind dabei ebenso bedeutsam wie symbolische Maßnahmen, die in förmliche Vereinbarungen übersetzt werden können.
– Empathie. Die Bereitschaft, sich in die Einstellung der jeweiligen Gegenseite einzufühlen, deren Problemlage zu verstehen und ihre Belange anzuerkennen, ist schwerlich zu erwarten, wenn ein Konflikt sich vertieft. Sie ist aber eine Grundvoraussetzung friedlicher Koexistenz. Ein solches einfühlendes Verständnis rechtzeitig zu fördern steuert einer Eskalation entgegen.
– Horizonterweiterung. In dem autistischen Milieu von emotionaler Selbstbezogenheit und Engstirnigkeit, das ethnische Spannungen erzeugen, erkennen die Konfliktparteien oft nicht mehr, daß es in ihrem weiteren Umfeld verfassungspolitische Instrumentarien und Prinzipien gibt, die für eine Lösung hilfreich wären. Pluralistisch organisierte Rechtsstaaten kennen eine Vielzahl solcher staatlichen und gesellschaftlichen Modalitäten, auf die bei neuen Versuchen der Konfliktbeendigung zurückgegriffen werden könnte.
– Problemlösungsorientierung. Die Förderung von Empathie und die Erweiterung des Spektrums an Perspektiven sind die Grundlagen dafür, die Nullsummen-Mentalität der Kontrahenten (der Gewinn der einen Seite entspricht genau dem Verlust der anderen) aufzubrechen. Gelingt es, die destruktiven Kräfte auf neue, übergeordnete Ziele umzupolen, kann die Erfahrung eines Zugewinns für alle Beteiligten wirksam werden.
Lösungsmöglichkeiten
Sind die Voraussetzungen für eine Deeskalation frühzeitig gegeben oder geschaffen, gilt es, sich auf die dem Konflikt zugrunde liegenden Streitfragen zu besinnen. Was wäre praktisch zu tun, um sie zu regeln?
Verfolgt eine nationalistische Bewegung die Wahrung des Besitzstandes, böte sich in einem Vielvölkerstaat die Trennung an, sofern die separierten Staatsgebilde lebensfähig wären. Weniger drastisch wäre die Herstellung regionaler Autonomie innerhalb des überkommenen Staates – eine Lösung, wie sie nach vielen Jahrzehnten mit einiger Aussicht auf Erfolg für Katalonien innerhalb Spaniens gefunden werden konnte. Auch Slowenien und Kroatien hatten, bevor sie ihre Unabhängigkeit erklärten, mehrmals versucht, eine konföderalistische Struktur aufzubauen.
Bei der Angst vor Überfremdung durch eine die ethnische Mehrheit überlagernde Minorität könnte Demokratisierung die geeignete Lösung sein, sofern sie nicht nur symbolisch, sondern ernst gemeint wäre. Dabei müßte ein ausdrücklicher Rechtsschutz für die Minderheit bestehen, damit eine Koexistenz nicht nur friedlich, sondern auch dauerhaft sein könnte.
Der Angst einer Minderheit vor zwangsweiser Assimilierung durch die Politik und Kultur einer dominierenden Volksgruppe ist konstruktiv nur durch eine ausdrückliche Sicherung der Minderheitenrechte zu begegnen. Dazu gehören zumindest ein aktiver Minderheitenschutz, die weitreichende Kulturautonomie hinsichtlich Sprache, Ausbildung und Medien, besondere Beteiligungsrechte im politischen System sowie Verfahrens- und Rechtsschutzgarantien. Solche Regelungen sollten in der jeweiligen Verfassung festgeschrieben sein. Es wäre indes nützlich, sie international abzusichern, innerhalb Europas etwa im Rahmen des Europarates oder der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Gäbe es supranationale Organisationen mit entsprechenden Rechtsschutzbefugnissen, könnte man Regierungen dort berichtspflichtig machen; gleichzeitig könnten sie als Appellationsinstanz und Konfliktbearbeitungsforum für alle potentiellen Konfliktparteien ansprechbar sein.
Bemühungen darum, ethno-nationalistische Konflikte friedlich beizulegen, können also durchaus erfolgreich sein – aber nur dann, wenn sie frühzeitig einsetzen und der Radikalisierung energisch gegensteuern. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben: Dieses prominenteste Zitat aus der Zeit des weltpolitischen Umbruchs vor vier Jahren gilt auch dafür – mit grauenvollen Konsequenzen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 95
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