Wissenschaftsgeschichte: Experimentalsysteme und epistemische Dinge
Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas
Wallstein, Göttingen 2001. 344 Seiten, € 29,–
Wallstein, Göttingen 2001. 344 Seiten, € 29,–
Hans-Jörg Rheinberger, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, erzählt einerseits die Geschichte einer speziellen Forschungsstätte, des Labors für Krebsforschung der Harvard University am Massachusetts General Hospital (MGH) in Boston. Andererseits misst er, in Kapiteln, die mit den erzählenden alternieren, an dieser Realität gängige Vorstellungen von der Rolle des wissenschaftlichen Experiments. Die doppelte Thematik entspricht der Vorbildung Rheinbergers, der sich als Molekularbiologe wie als Übersetzer der französischen Gegenwartsphilosophie einen Namen gemacht hat.
Held der Geschichte ist der Laborleiter Paul C. Zamecnik. 1936 an der Harvard Medical School zum Doktor der Medizin promoviert, begann er sich während des Krieges für die Biochemie zu interessieren und wandte sich 1945 der Krebsforschung zu.
In einer Zeit, als die amerikanischen Krebsforscher mangels anderer Mittel vor den Kinos Spenden für ihre Untersuchungen sammelten, gelang es Zamecnik, damals Schriftführer im Forschungskomitee am MGH, die Atomic Energy Commission als Geldquelle zu erschließen. Er reichte selbst Forschungsanträge ein, in denen radioaktiv gekennzeichneten Molekülen eine besondere Bedeutung zukam. Eine wichtige Folge der Experimente mit der radioaktiven Tracer-Technik war, dass man in Boston anstelle von lebendem Rattengewebe zunehmend homogenisierte Extrakte von Rattenleber in Reagenzgläsern untersuchte.
Schon früh wandten Zamecnik und seine Mitarbeiter ihr Augenmerk auf Zwischenprodukte bei der Proteinsynthese. In den Laborbüchern vom November 1955 finden sich Hinweise, dass bei der Proteinsynthese ein zweistufiger Prozess anzunehmen ist. Rückblickend kann man feststellen, das dies ein erster Hinweis auf die Transfer-RNA war, jene kleinen RNA-Moleküle, die bei der Proteinsynthese die Übersetzung von Basentripletts in Aminosäuren realisieren. Rheinberger hebt hervor, dass diese Entdeckung ein unvorhergesehenes Ereignis war, das ans Licht trat, weil Zamecnik sich an das "Symmetrieprinzip" hielt. Es verlangt Gegenproben, in diesem Fall den Wechsel einer Versuchsreihe mit radioaktiv markierten Aminosäuren und einer Reihe mit nicht markierten.
Institutionelle Verpflichtungen und konzeptuelle Barrieren hielten Zamecniks Team davon ab, die Bausteine, die sie hatten, zu einer Theorie der Proteinsynthese zusammenzufassen und damit eine Brücke zur Molekularbiologie zu schlagen. Gleichwohl bewertet Rheinberger die Tätigkeit des Labors als sehr erfolgreich. Nicht weil Zamecnik und seine Mitarbeiter zum Beispiel die Funktionsweise des Ribosoms dargelegt oder etwa Tumorbildungen biochemisch oder molekularbiologisch erklärt hätten, sondern weil sie in einer bewegten und konkurrenzreichen internationalen Forschungslandschaft über zwanzig Jahre an einer Vielfalt von Fragen arbeiteten, die stets neue Aufgaben und Kompetenzen generierte.
Was sind die Gründen für diesen Erfolg? Rheinberger nennt an erster Stelle "Techno-Opportunismus". Zamecnik fasste "jede sich anbietende Gelegenheit beim Schopfe", um mit breitem Ansatz den biochemischen Grundlagen des Wachstums auf die Spur zu kommen.
Der negative Beiklang des Wortes wendet sich im Verlauf der Studie ins Positive. Denn einerseits überzeugt Rheinberger den Leser, dass lokale, und sei es opportunistisch geprägte, Laborgewohnheiten sich zu Techniken zu verdichten pflegen, die dann den Kern experimenteller Praxis bilden. Beispiele solcher Techniken sind neben der erwähnten Arbeit mit homogenisierten Leberextrakten die radioaktive Markierung von Aminosäuren und die Ultrazentrifuge. Anderseits kann gerade Opportunismus die Freiheitsliebe und Produktivität individueller Forschung sichern, solange Konsens über die Einhaltung praktischer Prinzipien besteht.
Als weitere Gründe für den erfolgreichen Laborbetrieb nennt Rheinberger Ausdauer und eine besondere Forschungsphilosophie. Zamecnik betrieb Forschung eben nicht mit dem Ziel, einen ersten Platz in der Wissenschaft zu er-langen, sondern achtete vielmehr darauf, dass seine Forscher selbstständig und an verschiedenen Fragestellungen arbeiteten.
Diese Philosophie impliziert eine Revision des Verständnisses von erfolgreicher Labortätigkeit, und hier liegt ein Clou in der vorliegenden Studie des Wissenschaftshistorikers. Rheinberger verzichtet aus gutem Grund darauf, die Laborgeschichte von Zamecnik an der Idee des allgemeinen Fortschritts in der Krebsbehandlung zu messen. Seine Auffassung von Wissenschaftsgeschichte nimmt Abstand von der Idee des allgemeinen Fortschritts zu Gunsten einer empirischen Betrachtung lokaler Gebräuche, die rückblickend zu bahnbrechenden Entdeckungen beigetragen haben, ohne sie für sich beanspruchen zu können.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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