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Explosion der Ariane-501 - Rückschlag für die europäische Weltraumforschung

Die Entscheidung, ein aufwendiges wissenschaftliches Satellitensystem auf dem – vermeintlich – kostenlosen Erstflug einer neuen Trägerrakete mitzunehmen, erwies sich als teurer Mißgriff.

Am 4. Juni scheiterte der Jungfernflug der neuentwickelten Ariane-5-Rakete der Europäischen Weltraumorganisation (European Space Agency, ESA). Der von einem Flüssig- und zwei Feststofftriebwerken beschleunigte Schwerlastträger, der eine Nutzlast von 6,8 Tonnen in eine Erdumlaufbahn zu bringen vermag, hob zwar planmäßig von dem ebenfalls neugebauten Startkomplex in Französisch-Guayana ab, doch nach nur 30 Sekunden Flug neigte er sich in 3500 Meter Höhe unvermittelt zur Seite. Die Rakete zerbarst infolge der enormen aerodynamischen Belastung, und ein automatisches Sicherheitssystem zündete Sprengladungen an Bord, um zu verhindern, daß größere Trümmer auf die Umgebung des Startplatzes niedergehen und dort Schaden anrichten würden.

Gemeinsam mit der Rakete wurden vier baugleiche Forschungssatelliten in Stücke gerissen, die von ihr auf stark elliptische polare Umlaufbahnen gebracht werden sollten. Gleichzeitig zerstoben auch die Hoffnungen und Erwartungen vieler hundert Wissenschaftler und Ingenieure, die das Produkt ihrer jahrelangen Arbeit in Rauch aufgehen sahen.

Der Verlust der wissenschaftlichen Nutzlast ist für die europäische Weltraumforschung insgesamt sehr schmerzlich, denn die vier zerstörten Satelliten waren Bestandteil eines ehrgeizigen Forschungsprogramms. Im Februar 1986 hatte die ESA die Mission Cluster als erstes Kernprojekt eines Programms zur Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Sonne und Erde im Rahmen des Langzeitplans "Horizont 2000" beschlossen. Vier gleichartige Satelliten sollten in der Magnetosphäre der Erde umlaufen und die turbulenten Materie- und Energietransportvorgänge erkunden, die durch das Auftreffen des Sonnenwindes auf das Erdmagnetfeld ausgelöst werden. Weil die vier Instrumentenkapseln nicht nur mit identischen Meßgeräten ausgerüstet sein, sondern auf ihren unterschiedlichen Bahnen auch eine tetraederförmige Konfiguration einnehmen sollten, hätten so die räumlichen und zeitlichen Veränderungen der beobachteten Prozesse mit hoher Präzision aufgezeichnet werden können – ein Novum in der Weltraumforschung.

Am Bau der 800 Millionen Mark teuren Satelliten waren unter Federführung der Firma Dornier in Friedrichshafen 15 europäische Firmen beteiligt. Hinzu kommen der personelle und finanzielle Aufwand, der nötig war, um die Meßgeräte und die zur Auswertung erforderliche Software zu entwickeln sowie Zentren einzurichten, in denen während der auf zwei Jahre veranschlagten Mission die Datenströme zusammenlaufen sollten; etwa 200 Forscher aus Europa sowie Kollegen aus China, Kanada, Rußland, Indien, Israel und den USA hatten während der zehnjährigen Vorbereitungszeit daran mitgewirkt.

Das alles ist nun umsonst. Warum, so fragt man sich verbittert, hat die ESA das verlockende Angebot der Arianespace – der kommerziellen Organisation, die den Bau der Ariane-Rakete beaufsichtigt und die Satellitenstarts durchführt – angenommen, die Cluster-Satelliten kostenlos mit dem Erstflug der neuen Trägerrakete in den Weltraum zu befördern? Mit dem Verlust dieses Instrumentariums ist nun nicht nur das Projekt jäh zu Ende, sondern auch die Hoffnung auf die Fortsetzung der Magnetosphärenforschung in Europa erloschen.

Dabei kam das Desaster des Jungfernfluges noch nicht einmal unerwartet. Neuentwickelte komplexe Systeme weisen sehr oft kleine Fehler auf, die sich im Betrieb leicht zu einer Panne oder gar einer Katastrophe verstärken können. Die Erfahrung lehrt, daß alle Raketensysteme erst nach vielen Flügen den Grad an Verläßlichkeit erreichen, den man gerne haben möchte – das war bei den amerikanischen Raketen so und auch bei der Ariane-1, -2, -3 und -4.

Die Ariane-5 hat kaum etwas mit ihren Vorgängerinnen gemein; sie ist eine komplette Neuentwicklung. Insofern war der erste Start riskant und darum die Entscheidung, das unersetzliche Satelliten-Ensemble Cluster mitzunehmen, von Anfang an fragwürdig. Ein vorsichtiger Projektleiter hätte darauf bestehen müssen, die Sonden erst nach erfolgter Qualifikation der Rakete zu starten.

Gewiß wird man den Fehler, der den Flug 501 versagen ließ, finden und beheben. Und zweifellos werden auch die Ariane-502, -503... fliegen, bis die neue europäische Trägerrakete irgendwann ein verläßliches Transportmittel sein wird. Doch der Schaden, den ein vielversprechendes Forschungsgebiet erlitten hat, ist nicht wieder gutzumachen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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