Explosivstoffe für militärische Anwendungen
Nur wenige Stoffklassen haben während der vergangenen Jahrhunderte die technische und soziale Entwicklung so nachhaltig geprägt wie Explosivstoffe. Seit dem 17. Jahrhundert nutzt man sie im Bergbau, mit ihrer Hilfe weichen enorme Erd- und Gesteinsmassen Tunneln oder Stauseen, und Feststoffraketen befördern Meßinstrumente in große Höhen. Eine große Rolle spielen auch militärische Anwendungen.
Bis vor etwa 140 Jahren war das Schwarzpulver – ein Gemenge aus Kaliumsalpeter, Schwefel und Holzkohle – der einzige praktisch nutzbare Explosivstoff. Bis in die Neuzeit hinein war es allerdings außerordentlich teuer, denn Salpeter wurde über Venedig aus Indien eingeführt oder mühselig aus verweslichen Stoffen mit Pottasche hergestellt. Erst 1820 begann der Import größerer Mengen aus Chile, und Salpetersäure ließ sich in technischem Umfang herstellen. In der Folge gelangen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die wichtigsten Synthesen und Erfindungen auf diesem Gebiet wie die Herstellung von Nitrocellulose, Nitroglycerin, Treibladungspulver, Dynamit, Initialsprengstoffen und aromatischen Nitroverbindungen wie Trinitrotoluol (TNT). Letzteres wurde 1863 synthetisiert – Salpetersäure dient dabei als Nitriermittel – und 1905 im Russisch-Japanischen Krieg erstmals militärisch eingesetzt.
Bis zum Ersten Weltkrieg verbesserte man die Leistung und Funktionssicherheit der Stoffe sowie die Verfahrenstechnik ihrer Herstellung. Insbesondere vermochte man seit 1913 großtechnisch aus Stickstoff und Wasserstoff im Haber-Bosch-Verfahren Ammoniak zu synthetisieren – und daraus wiederum auch Salpetersäure. Das schuf die Produktionskapazität für die Munition des Ersten Weltkriegs.
In der kurzen Friedenszeit optimierten die Forscher Schießpulvertypen für unterschiedliche Rohrwaffen und erhöhten weiter Leistung und Sicherheit der Explosivstoffe. Diese Entwicklung wurde durch die mathematische Erfassung ballistischer Vorgänge unterstützt. Während des Zweiten Weltkriegs entstanden zudem Raketenantriebe und neue, dem TNT noch überlegene Sprengstoffe.
Anforderungen moderner Militärtechnik
Explosivstoffe entfalten ihre Wirkung durch eine stark exotherme – also Energie freisetzende – chemische Reaktion; dabei wird ein Teil der beteiligten Stoffe oxidiert, der andere reduziert. Der erforderliche Sauerstoff ist chemisch gebunden, entweder in Salpetersäureestern (R-ONO2), Nitroverbindungen (R-NO2), Nitraminen (R-NH-NO2) oder in Nitrat- (NO3-) beziehungsweise Perchloratsalzen (ClO4-). Sprengsätze bringt man durch einen Zünder zur Detonation, wobei sich das Material druckunabhängig mit 1000 bis 10000 Metern pro Sekunde umsetzt. Treibladungen zum Antrieb von Projektilen und Treibsätze für Flugkörper werden pyrotechnisch entzündet; sie brennen abhängig vom Umgebungsdruck mit einem Millimeter bis einem Meter pro Sekunde ab. In beiden Fällen entstehen in einer exothermen Reaktion etwa 1100 bis 5000 Grad Celsius heiße Gase, welche die gewünschte Druckwelle erzeugen beziehungsweise das Projektil oder die Rakete antreiben. Will man Explosivstoffe wehrtechnisch einsetzen, so müssen sie in der Handhabung sicher sein, gleichmäßige und reproduzierbare Funktionseigenschaften bei langer Lebensdauer haben, auch bei extremen Umweltbedingungen funktionieren und bei hoher Leistung preiswert sein. Zusätzliche spezifische Anforderungen können sich aus der besonderen Einsatzfunktion ergeben; so sollten Raketentreibstoffe keine weithin sichtbare Abgasfahne hinterlassen. In neuerer Zeit sind zwei wesentliche Aspekte hinzugekommen: Eigenverwundbarkeit und Umweltverträglichkeit. Das Vernichtungspotential von Waffenplattformen wie Panzern oder Jagdflugzeugen wird immer größer, und Nachschubtransporter bewegen immer größere Mengen an Munition. Das mag eine Folge der abnehmenden nuklearen Bedrohung sein – wodurch konventionelle Kriegsführung wieder wichtiger wird –, birgt aber Risiken, zumal es inzwischen zielsuchende Munition gibt. Es gilt demzufolge, die sogenannte Eigenverwundbarkeit zu senken: Die Munition sollte gegenüber Fremdeinwirkung unempfindlich sein, möglichst sogar abgestimmt auf eine spezielle Bedrohung, ohne jedoch an Leistung zu verlieren. Diese Forderung wird die Experten noch weit über das Jahr 2000 hinaus beschäftigen. Des weiteren legt die Umweltgesetzgebung auch für diese Materialien – ob militärisch oder zivil verwendet – enge Grenzen für Herstellung, Nutzung und Entsorgung fest. Gesucht sind deshalb Stoffe und Produktionstechniken, die es beispielsweise erlauben, Hilfsstoffe wie Lösemittel oder Säuren möglichst im Kreislauf zu führen und Fehlchargen aufzuarbeiten. Bei bestimmungsgemäßer Handhabung von Treib- und Sprengstoffen wird die Umwelt allerdings im Vergleich zu den Belastungen durch Industrie-, Energie- und Verkehrstechnik nur gering kontaminiert. Allerdings gibt es einige Ausnahmen: -nsehr hohe lokale Konzentrationen wie etwa auf Schießständen und Brandplätzen, -nspezielle Stoffe in Zünd- und Anzündmischungen, beispielsweise Quecksilber in der Munition der Streitkräfte der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, -nder Einsatz von Pyrotechnika, Nebelsätzen oder Abbrandmoderatoren, -nAmmonium- und Kaliumperchlorat sowie Hydrazinderivate als Komponenten von Raketentreibstoffen; letztere sind häufig giftig, und Ammoniumperchlorat bildet Chlorwasserstoffgas, das die Ozon-Schicht in der Stratosphäre schädigen kann. Benötigt werden zudem Techniken, um die schweren Hypotheken aus der Vergangenheit abzutragen: Da man besonders in Kriegszeiten ohne Rücksicht auf die Umwelt produzierte, sind Altlasten in den Böden ehemaliger Fabriken, Munitionsfüllstationen, Lager und Erprobungsstellen entstanden, deren Beseitigung noch Jahrzehnte dauern wird. Viele chemische Verbindungen werden nur langsam abgebaut, wobei sich oft hochtoxische Zwischenstufen bilden – so im Falle der Nitroaromaten. Unter Luftabschluß kann Nitroglycerin über Jahrzehnte hinweg im Boden stabil bleiben; zur Zeit kennt man noch keine wirtschaftliche Methode zur Säuberung. Auch mußten nach dem Ende des Kalten Krieges große Munitionsmengen entsorgt werden, und es gab Überlegungen, die Explosivstoffe zivil einzusetzen oder nach einer chemischen Umsetzung weiter zu verwerten. Mit wenigen Ausnahmen war das aber unökonomisch. Für eine Entsorgung bietet sich vielmehr die kontrollierte Sprengung oder Verbrennung an. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, daß Sprengschwaden weniger umweltbelastend wirken als Verbrennungsgase. Allerdings kann wegen der Splitter- und Lärmbelästigung nur in sehr abgelegenen Gegenden gesprengt werden. Explosivstoffe werden freilich in Deutschland – falls keine Sondergenehmigung besteht – nach den Gesetzen des Immissionsschutzes verbrannt. Im Prinzip wäre auch der biologische Abbau von Explosivstoffen denkbar. Doch fehlt es dafür noch an ökonomisch akzeptablen Technologien.
Anwendung kristalliner Sprengstoffe
Kleine Sprengkörper stellt man aus kristallinen, sehr leistungsstarken Explosivstoffen wie Hexogen (RDX) oder Octogen (HMX) her (Bild 2), die durch Zusatz von wenigen Prozent Wachs gegen Stöße und Schockbelastung unempfindlich gemacht werden.
Für große Sprengkörper wie Bomben, Minen und Granaten vergießt man das bei 80,6 Grad Celsius schmelzende Trinitrotoluol (TNT) und kühlt es ab (da TNT erst bei erheblich höherer Temperatur seine chemische Stabilität verliert, läßt sich dieser bereits vor dem Ersten Weltkrieg in technischen Mengen hergestellte Sprengstoff sicher schmelzen und verarbeiten). Werden in der Schmelze kristalline Explosivstoffe wie Hexogen suspendiert, erhält man sehr leistungsstarke Composites wie die sogenannte Composition B mit Trinitrotoluol und Hexogen im Verhältnis 60:40. Unterwassersprengstoffe enthalten zusätzlich Aluminiumpulver als Brennstoff.
Angeregt durch die Entwicklungen der kunststoffgebundenen Composit-Raketentreibstoffe (Bild 1) begann in den sechziger Jahren die Entwicklung von Plastiksprengstoffen (plastic bonded explosives, PBX). Ihre namensgebende Komponente ist ein Polymer, das sich bei der chemischen Reaktion zweier Komponenten bildet und als Brennstoff und Bindemittel dient. Darin bettet man vor dem Aushärten kristalline Explosivstoffe ein. Der zehn- bis zwanzigprozentige Polymeranteil verleiht der fertigen Masse eine kautschukartige Elastizität.
Wie man Ende der siebziger Jahre erkannte, ist ein Hauptvorteil kunststoffgebundener Sprengladungen ihre große Unempfindlichkeit bei hoher Wirkleistung. Deshalb gewannen sie als IHE (insensitive high explosive)-Sprengstoffe große Bedeutung. Normalerweise geht dagegen eine hohe Wirkleistung mit hoher Empfindlichkeit einher und umgekehrt.
Rohrwaffen-Treibstoffe
Seit der Erfindung des rauchlosen Pulvers basieren Rohrwaffen-Treibstoffe auf gelatinierter Nitrocellulose als Polymerbestandteil. Für bestimmte Typen werden explosive Weichmacher wie Nitroglycerin oder kristalline Explosivstoffe wie Nitroguanidin zugesetzt.
Die Gelatinierung erfolgt durch Lösemittel (Alkohol, Ether, Aceton) oder durch explosive Plastifizierungsmittel wie Nitroglycerin oder mit beiden in Knetern. Das überschüssige Lösemittel wird wieder entfernt und der Explosivstoff je nach den waffenabhängig geforderten Druck- und Zeitverläufen im Rohr zu Blättchen, Streifen, Röhren, Zylindern oder Mehrlochkörpern extrudiert.
Ein besonderer Typ ist das Kugelpulver, das bei kleinkalibriger Munition den Füllvorgang erleichtert. Man erhält es durch einen Ausfällprozeß, mit dem man übrigens auch alte Pulver wieder aufbereiten kann.
Die Nitrat-Ester zersetzen sich bei höheren Temperaturen und bilden dabei Stickoxide, die durch Autokatalyse weitere Estergruppen spalten. Deshalb werden Stabilisatoren wie Amine und Harnstoffderivate verwendet, um Stickoxide abzufangen.
Seit einigen Jahren sucht man wenig empfindliche Treibladungen zu entwickeln (low vulnerability ammunition, LOVA). Dabei greift man wiederum auf Kompositionen aus Polymeren zurück, die mit kristallinen Explosivstoffen, insbesondere mit Nitraminen, gefüllt sind. LOVA-Pulver lassen sich – ebenso wie konventionelle – kontinuierlich mit Doppelschneckenextrudern herstellen; diese Art der Fertigung wird künftig breite Anwendung finden.
In neuerer Zeit gelang es, hülsenlose Munition für kleinere Kaliber und verbrennbare Hülsen für größere zu entwickeln. Erstere ist eine so feste Kompaktladung, daß sie den hohen Beanspruchungen während des Ladevorganges widersteht (Bild 3); bei letzterer verbrennt die Hülse gemeinsam mit der Treibladung beim Schießen. Vorteile sind außer der Materialersparnis eine höhere Schußfolge, weil keine Hülse ausgeworfen werden muß.
Betrachtet man eine Rohrwaffe als Verbrennungsmotor mit dem Geschoß als fliegendem Kolben, stellt sich die Frage, warum nicht auch flüssige Treibmittel verwendet werden können. Untersuchungen dazu begannen in den fünfziger Jahren in den USA, international wird seit den siebziger Jahren intensiv geforscht. Der zur Verbrennung erforderliche Luftsauerstoff läßt sich in Flüssigkeiten mit sauerstoffreichen Gruppierungen einbringen. Der Treibstoff besteht dann entweder aus einem Gemisch, in dem der zur Verbrennung erforderliche Sauerstoff in einer chemisch gebundenen Form enthalten ist, oder es werden zwei Flüssigkeiten (Brennstoff und Oxidator) in den Verbrennungsraum eingespritzt (Bild 4).
Beide Versionen wurden bereits erfolgreich erprobt. Sie könnten wesentlich dazu beitragen, die Automatisierung der Rohrwaffe zu verbessern, die Leistung zu steigern und die Eigenverwundbarkeit zu verringern. Allerdings gibt es noch erhebliche Probleme: Viele der möglichen Flüssigkeiten sind giftig und wirken zudem stark korrodierend; innerballistische Vorgänge sind dabei noch ungeklärt.
Noch weiter in der Zukunft liegen der elektrothermische und der elektromagnetische Antrieb eines Geschosses. Denkbar wäre eine Rohrwaffe mit flüssigem Treibstoff und zusätzlicher elektrothermischer Aufheizung der Verbrennungsschwaden.
Raketen-Festtreibstoffe
Intensive Forschung an Festtreibstoffen für Raketen seit den fünfziger Jahren resultierte in zwei heutzutage ausgereiften Konzepten – thermoplastischen Treibstoffen auf der Basis von Nitrocellulose als Polymerkomponente, die mit explosiven Weichmachern plastifiziert ist, und kautschukelastischen Composit-Treibstoffen aus Reaktionspolymeren mit kristallinem Ammoniumperchlorat und gegebenenfalls Aluminiumpulver als Füllstoff. Auch Kombinationen von beiden gibt es; sie sind kautschukelastisch und in ihren spezifischen Eigenschaften sehr variabel.
In jüngerer Zeit geht es unter anderem darum, ganz bestimmte Abbrandgeschwindigkeiten zu erzielen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entwicklung von Treibstoffen, die trotz hoher Leistung kaum sichtbare Abgasstrahlen erzeugen. Dazu ersetzt man das Ammoniumperchlorat teilweise oder ganz durch Nitramine wie Hexogen oder Octogen. Um die Leistung zu erhöhen, wird bei einigen Typen der polymere Binder, der nicht an der Reaktion teilnimmt, mit energiereichen Weichmachern versetzt, oder man verwendet gleich Polymere mit energiereichen Gruppierungen.
Auch diese Treibstofftypen sollen gegenüber Fremdeinwirkungen möglichst unempfindlich sein; als Sauerstofflieferant dienen Ammoniumnitrat, Nitroguanidin oder Triaminoguanidinnitrat. Diese stickstoffreichen Verbindungen werden auch bei Gasgeneratorsätzen benutzt (Bild 5). Spezifische mechanische Anforderungen ergeben sich schon daraus, daß Raketentreibsätze im Unterschied zu Sprengsätzen nicht in Hohlräume eingebracht, sondern freistehend gezündet werden.
Theoretische Forschung
Besondere Aufmerksamkeit bei der weiteren Entwicklung von Explosivstoffen, gleich für welchen Zweck, gilt den physikalischen und chemischen Vorgängen bei der Einleitung einer Verbrennung, bei der Deflagration – einer Zersetzungsreaktion eines Explosivstoffes, die sich durch freiwerdende Reaktionswärme fortpflanzt und nicht mit Schallgeschwindigkeit abläuft – und bei der Detonation.
Dabei lassen sich Rechenprogramme zur theoretischen Ermittlung der möglichen Existenz von chemischen Verbindungen und deren Eigenschaften (zum Beispiel thermodynamischen Daten, Dichte, Stabilität, Leistung) einsetzen und Vorschläge für neue Explosivstoffe aus den Ergebnissen ableiten. Wieweit diese verifizierbar und für die Praxis von Interesse sind, muß die Zukunft zeigen. Da Sicherheit in diesem Industriezweig oberstes Gebot ist – es ereignen sich dort sogar weniger Unfälle als in der Landwirtschaft –, herrscht eine konservative Denkweise; Untersuchungen haben gezeigt, daß es im Durchschnitt mindestens 15 Jahre dauert, bis Forschungsergebnisse Eingang in die Praxis finden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 97
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