Extremisten des Lebens
Manche Mikroorganismen benötigen Umweltbedingungen, wie kaum eine andere Kreatur sie übersteht. Ihre daran angepaßte enzymatische Ausstattung ist ein Fundus für industriell und anderweitig nutzbare Biokatalysatoren.
Kochend heiße Quellen, klirrend kaltes Meereis, ätzend saure Gewässer oder scharfe Salzlauge – die meisten Lebewesen würden darin rasch zugrunde gehen. Für eine Reihe von Mikroorganismen jedoch sind gerade das die heimischen Gefilde (Bild 1). Die Extremophilen (nach griechisch philos für lieb, angenehm) tolerieren die eine oder andere dieser extremen Lebensbedingungen nicht einfach nur noch, sondern brauchen sie sogar meist, um überhaupt zu gedeihen und sich zu vermehren.
Einige dieser Lebenskünstler sind seit Jahrzehnten bekannt, wurden aber eher als seltene Ausnahmen angesehen. Erst in neuerer Zeit zeigte sich, daß bislang als keimfrei erachtete Plätze der Erde eine reiche Mikrofauna unterhalten können. Seitdem wird intensiver nach Extremophilen gesucht – auch deshalb, weil man sich von ihrer molekularen Überlebensausstattung vielfältige Anwendungsmöglichkeiten verspricht.
Besonderes Interesse gilt ihren speziell an ein solches Dasein angepaßten Enzymen. Ohne Proteine wie diese läuft kaum eine chemische Umsetzung in irgendeinem Organismus ab: Wie technische Katalysatoren verringern sie die erforderliche Aktivierungsenergie und gehen selbst unverändert aus der Reaktion hervor. Angewandt werden Enzyme schon auf vielen Sektoren, von der Industrie bis zur Biomedizin, beispielsweise um Süßstoffe oder gebraucht aussehende Blue Jeans herzustellen, Straftäter anhand des genetischen Fingerabdrucks zu überführen oder Infektions- und Erbkrankheiten zu diagnostizieren. Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr weltweit rund vier Milliarden Mark.
Gewöhnliche kommerziell eingesetzte Enzyme sind allerdings, wie die meisten Proteine, gegenüber hohen Temperatu-ren und anderen harschen Bedingungen empfindlich; damit sie stabil bleiben und zuverlässig arbeiten, sind für ihre Lagerung und Anwendung oft eigene Schutzvorkehrungen erforderlich. Mit widerstandsfähigen, diesen Aufwand nicht erfordernden Pendants aus extremophilen Organismen könnte man etablierte Verfahren womöglich kostengünstiger und gleichzeitig effizienter machen sowie völlig neue konzipieren.
Derzeit fahnden etwa zwanzig Forschergruppen aus den USA, Deutschland, Japan und anderen Ländern gezielt nach Extremophilen und deren Biokatalysatoren. Bislang haben zwar erst wenige der bereits bekannten "Extremozyme" Anwendung gefunden, aber wie bei anderen Enzymen können von ihrer Isolierung bis zur Entwicklung eines marktfähigen Produktes Jahre vergehen.
Die Erkundung exotischer Winkel der Biosphäre und die Untersuchung der vorgefundenen Mikroorganismen haben dazu beigetragen, die Vorstellungen über den Stammbaum des Lebens zu korrigieren. Ehedem herrschte die Lehrmeinung, alle heutigen Lebewesen ließen sich zwei großen Entwicklungslinien oder Urreichen zuordnen: entweder den einfach gebauten einzelligen Bakterien ohne echten Zellkern oder den ein- bis vielzelligen Eukaryoten mit komplexer gegliederten Zellen. Mittlerweile bestehen jedoch kaum noch Zweifel an der einst geradezu ketzerisch wirkenden These, es gebe eine dritte Domäne: die der Archaebakterien. Diese – oftmals extremophilen – Organismen haben zwar keinen Kern (sind also Prokaryoten) und ähneln den echten, den Eubakterien noch in weiteren zellanatomischen Merkmalen; auch gibt es für bestimmte ihrer Gene Entsprechungen in Eubakterien, was auf verwandte physiologische Funktionen in beiden Gruppen hindeutet. Doch ebenso enthält ihr Erbgut Gene, wie sie ähnlich nur bei Eukaryoten vorkommen – mehr aber noch solche, die einzigartig zu sein scheinen und eine von echten Bakterien und Eukaryoten eigenständige Entwicklung belegen. Eben diese besonderen Archaea-Gene dürften neue Einsichten in die Evolution des frühen irdischen Lebens vermitteln (siehe Kasten auf Seite 88).
(Da den neueren molekularen Stammbäumen nach die Archaebakterien sehr wahrscheinlich nicht die Vorläufer der übrigen Bakterien sind, wie ihr Name suggeriert, werden inzwischen abgewandelte Benennungen für die drei Kategorien vorgeschlagen: Archaea, Bacteria – das "Eu" entfällt wieder – und Eukarya statt Eukaryoten. Um Verwirrung vorzubeugen, behalten wir in diesem Ar-tikel die vertrauteren Begriffe bei. Die Redaktion.)
Manche brauchen's heiß
Zu den bestuntersuchten Extremophilen gehören die wärme- und hitzeliebenden Mikroorganismen. Diese Thermophilen vermehren sich am schnellsten bei Temperaturen von 45 Grad Celsius an aufwärts, manche – die Hyperthermophilen – brauchen dazu sogar mindestens 80 Grad. Der Rekord liegt bei mehr als 100 Grad; solche Temperaturen werden dort erreicht, wo geothermisch aufgeheiztes Wasser unter höherem Druck steht, beispielsweise an heißen Quellen am Meeresboden. Demgegenüber gedeihen die meisten gewöhnlichen Bakterien in einem Temperaturbereich zwischen 25 und 40 Grad am besten. Keiner der bekannten Vielzeller, ob Pflanze oder Tier, verträgt Körpertemperaturen von mehr als etwa 50 Grad; und keiner der bislang entdeckten einzelligen Eukaryoten übersteht auf Dauer mehr als um die 60 Grad.
Mäßig thermophile Mikroben, die sich bei Temperaturen bis zu 60 Grad wohl fühlen, sind seit dem letzten Jahrhundert bekannt. Solche mit noch höheren Vorzugstemperaturen wurden allerdings erst vor rund 30 Jahren entdeckt – im Rahmen einer Langzeitstudie über Mikroorganismen in Thermalquellen und anderen Gewässern des Yellowstone-Nationalparks im US-Bundesstaat Wyoming (Bild 2 Mitte).
Thomas D. Brock und seine Mitarbeiter an der Universität von Wisconsin in Madison stießen zu ihrem Erstaunen selbst in ausgesprochen heißen Quellen noch auf mikrobielles Leben. Zunächst identifizierten sie Ende der sechziger Jahre erstmals ein Bakterium, das bei immerhin 70 Grad Celsius optimal wächst und dementsprechend Thermus aquaticus genannt wurde – der im Warmwasser Lebende.
Etwa um dieselbe Zeit fand Brocks Gruppe in einer sehr heißen sauren Quelle den ersten echten Hyperthermophilen: Sulfolobus acidocaldarius, ein "Bakterium", das sich noch bei 85 Grad Celsius üppig vermehrte (der wissenschaftliche Name bedeutet säure- und hitzeliebender Schwefellappen, eine Anspielung auf die Form sowie die Eigenschaft, Schwefel zu oxidieren). Selbst in siedend heißen Wässern wurden eingehängte Objektträger von offensichtlich darin lebenden Mikroben bewachsen (Bild 2 rechts); eine Züchtung im Labor – Vorraussetzung für eine einwandfreie Identifizierung – mißlang jedoch damals.
Brock schloß aus all diesen Studien, daß Bakterien (wie man sie damals verstand) in der Anpassungsfähigkeit an hohe Temperaturen Eukaryoten überlegen sind und daß wahrscheinlich überall, wo Wasser in flüssiger Form auftritt, sich welche finden lassen. Das bestätigten schließlich weitergehende Forschungsarbeiten ab Ende der siebziger Jahre, darunter an Mikroben von anderen heißen Quellen auf dem Festland wie auch in der Tiefsee.
Inzwischen wurden mehr als 50 Arten hyperthermophiler Organismen isoliert, viele von Karl O. Stetter und seinen Mitarbeitern von der Universität Regensburg (Bild 3 links; siehe dazu seinen Artikel "Leben am Siedepunkt", Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1983, Seite 26). Die bislang größte Hitzeresistenz zeigt Pyrolobus fumarius; der "Feuerlappen aus dem Kamin" gedeiht am besten bei 105 Grad Celsius und kann sich noch bei 113 Grad vermehren (unter hinreichendem Druck bleibt Wasser, wie erwähnt, bei diesen Temperaturen flüssig). Sinkt die Umgebungstemperatur jedoch unter 90 Grad, hört er zu wachsen auf – dann wird ihm schon zu kalt! Das Archaebakterium lebt in der Wandung mancher hydrothermaler Schlote der Tiefsee, den schornsteinartigen Gebilden, aus denen mineralienreiches, zwischen 300 und 400 Grad heißes Wasser wie schwarzer Rauch empordringt. In das poröse Gestein der Kaminwandung dringt von außen das kalte, weniger als 4 Grad warme Meerwasser ein und schafft Zonen unterschiedlicher Temperatur. Dort hat Stetter auch Methanopyrus kandleri entdeckt, das "Kandlersche Methanfeuer" (Bild 1 Mitte links). Dieser hyperthermophile Methanbildner findet derzeit großes Interesse, weil er im Stammbaum der Archaebakterien nahe der Wurzel steht (Diagramm im Kasten auf Seite 88). Die Untersuchung seiner Gene und physiologischen Fähigkeiten dürfte Aufschluß darüber geben, auf welche Gegebenheiten die frühesten Zellen der Erde eingestellt waren.
Bis zu welcher Temperatur ist Leben überhaupt möglich? Gibt es Super-Hyperthermophile, die noch bei 200 oder 300 Grad Celsius wachsen? Niemand weiß das, doch nach heutigem Verständnis dürfte die Obergrenze bei etwa 150 Grad liegen. Darüber könnte wahrscheinlich keine Lebensform das Aufbrechen der chemischen Bindungen verhindern, welche die Erbsubstanz DNA und andere lebensnotwendige Moleküle zusammenhalten.
Welche Merkmale die Proteine hitzeliebender und sonstiger extremophiler Mikroben dazu befähigen, unter Bedingungen funktionsfähig zu bleiben, die verwandte Proteine von gewöhnlichen Organismen nicht unbeschadet überstehen, versucht man derzeit herauszufinden. Wie sich bereits abzeichnet, sind nicht unbedingt drastische Unterschiede erforderlich. So ähneln einige hitzetolerante Extremozyme ihren empfindlicheren Gegenstücken durchaus strukturell, aber es gibt in ihnen offenbar mehr je-ner innermolekularen Wechselwirkungen (etwa zwischen ionischen und polaren Gruppen), die alle Enzyme stabilisieren helfen.
Reicher Nutzen
Ihre stärkere Aktivität unter Extrembedingungen – wovon sie auch immer herrühren mag – hat Enzymen thermophiler Mikroben bereits zu einem eindrucksvollen Debüt in der Praxis verholfen. Paradebeispiel ist die Taq-Polymerase aus dem von Brock entdeckten Thermophilus aquaticus: Sie wird verbreitet bei der Polymerase-Kettenreaktion eingesetzt.
Erfunden hat dieses molekularbiologische Verfahren zur gezielten Vervielfältigung interessierender DNA-Abschnitte Kary B. Mullis Mitte der achtziger Jahre während seiner Tätigkeit bei der Cetus Corporation (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1990, Seite 60), was ihm 1993 den Nobelpreis eintrug. Heute ist es aus dem Instrumentarium der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung, der Diagnostik wie auch der Kriminalistik nicht mehr wegzudenken. Beispielsweise lassen sich mit dem Verfahren selbst noch geringste Spuren von DNA zum Erstellen eines sogenannten genetischen Fingerabdrucks nutzen. Ferner dient es zum Nachweis von Krankheitserregern, etwa des AIDS-Virus, und zunehmend auch von genetischen Dispositionen für bestimmte Leiden, darunter einige erbliche Formen von Krebs.
Die Polymerase-Kettenreaktion hat ihren Namen nach dem entscheidenden Enzymtyp: einer DNA-Polymerase. Diese kopiert, unterstützt von spezifischen Starthilfe-Molekülen, gezielt ein nachzuweisendes Stück DNA; die verdoppelte Menge wird weiter verdoppelt und so fort, so daß selbst aus winzigen Spuren von DNA rasch genügend Material für weitere Analysen entsteht. Vor jedem Verdoppelungsschritt muß allerdings die Temperatur zur Trennung der gepaarten Stränge vorübergehend stark hochgefahren werden, was aus der Vorrunde vorhandene DNA-Polymerasen-Moleküle zerstört, wenn sie aus gewöhnlichen Organismen stammen. Als Mullis seinerzeit die Idee der Kettenreaktion umsetzte, mußte man darum noch bei jedem Zyklus das Enzym dem Reaktionsgemisch erneut von Hand zufügen.
Deshalb stöberten Wissenschaftler von Cetus Ende der achtziger Jahre in einem Lagerraum, wo Brock rund zwanzig Jahre zuvor Proben eingemottet hatte, nach T. aquaticus. Sie isolierten daraus besagte Taq-Polymerase, deren Temperaturstabilität dann erstmals die Entwicklung einer vollautomatisierten Prozedur ermöglichte. Inzwischen wird vielfach auch Pfu-Polymerase aus dem Archaebakterium Pyrococcus furiosus (der von Stetter entdeckten "rasenden Feuerkugel") verwendet; sie arbeitet optimal bei Temperaturen um 100 Grad Celsius.
Ein weiteres hitzetolerantes Extremozym hat die industrielle Herstellung von Cyclodextrinen aus Maisstärke verbessert. Diese Verbindungen bestehen aus sechs bis acht zu einem Ring verknüpften Glucose-Einheiten. Die Moleküle sind im Kristallgitter so aufeinandergeschichtet, daß sie Kanäle bilden, die Gastmoleküle aufnehmen können. Deswegen verwendet man Cyclodextrine in Nahrungsmitteln, Kosmetika, Pharmazeutika und Pestiziden; sie halten beispielsweise flüchtige Substanzen wie Aromastoffe fest, erleichtern im menschlichen Körper die Aufnahme von Arzneimitteln und überdecken Bittergeschmack oder unangenehme Gerüche.
Eis, Säure, Lauge – kein Problem
Häufiger als heiße sind kalte Berei-che auf unserem Planeten vertreten. Die ozeanischen Wassermassen bringen es, insbesondere in der Tiefe, im Mittel auf nur ein bis drei Grad Celsius und bedecken mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche. Hinzu kommen ausgedehnte Landstriche am Süd- und Nordpolarkreis, wo Dauerfrost herrscht oder der Boden im Sommer allenfalls für wenige Wochen oberflächlich auftaut. Das sind Lebensräume der Psychrophilen (nach griechisch psychros, eiskalt).
Verschiedene Wissenschaftler haben beispielsweise ganze Mikrobengemeinschaften im antarktischen Meereis nachgewiesen, das die meiste Zeit des Jahres gefroren bleibt. Dazu gehören Photosynthese treibende Eukaryoten, vornehmlich Kiesel- und andere Algen, sowie diverse Bakterienarten (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1991, Seite 48). Ein Paradebeispiel für einen Psychrophilen ist Polaromonas vacuolata (Bild 1 links); das Bakterium wächst am besten bei vier Grad und stellt bei mehr als zwölf Grad wegen Überhitzung die Vermehrung ein. Isoliert hat es die Gruppe um James T. Staley von der Universität von Washington in Seattle (Bild 3 rechts).
Kälteliebende Mikroben finden zunehmend das Interesse von Unternehmen, die noch bei Kühlschranktemperaturen aktive Enzyme benötigen – etwa zur Verarbeitung von Lebensmitteln, die bei höheren Temperaturen verderben würden, oder zur Parfümproduktion, weil Duftstoffe sich bei Wärme verflüchtigen.
Auch acidophile und alkalophile Organismen – also solche, die stark saure beziehungsweise alkalische Bedingungen bevorzugen – werden mittlerweile intensiver erforscht. Die meisten Lebensräume der Erde weisen ein annähernd neutrales Milieu, mit pH-Werten zwischen fünf und neun auf (der Neutralpunkt liegt bei 7). Acidophile leben in den seltenen Habitaten mit niedrigerem, Alkalophile bevorzugt in solchen mit höherem pH-Wert.
Stark saure Milieus können durch natürliche geochemische und biologische Vorgänge entstehen, etwa bei der Freisetzung schwefelhaltiger Gase aus manchen unterseeischen und oberirdischen Thermalquellen oder durch die Stoffwechselaktivitäten gewisser acidophiler Organismen selbst. Auch schwelende Kohleabraumhalden bieten ein solches Milieu.
Interessanterweise sind säureliebende Extremophile gegenüber niedrigen pH-Werten in ihrem Zellinnern durchaus empfindlich – diese würden lebenswichtige Moleküle wie die DNA schädigen. Ihre wesentliche Anpassung besteht darin, die Säure draußen zu halten. Jene Moleküle aber, die diese Schutzfunktion wahrnehmen oder die aus anderen Gründen mit der Umgebung in Kontakt kommen, müssen unter stark sauren Bedingungen funktionsfähig bleiben. Tatsächlich hat man aus der Zellwand und der darunterliegenden Zellmembran einiger Acidophiler Enzyme isoliert, die noch bei einem pH von weniger als eins arbeiten – in stärkerer Säure als Essigessenz oder Magensaft.
Verwendbar wären solche Extremozyme als Biokatalysatoren zur Synthese von Verbindungen, die saure Lösemittel erfordern, oder auch als verdauungsfördernde Zusatzstoffe in der Tiermast, die erst im Magen aktiv werden. Beigaben anderer Enzyme, die billige Futtergetreidesorten besser auswerten helfen, sind bereits eine recht verbreitete Praxis; sie stammen von Mikroorganismen, die sie normalerweise in ihre Umgebung abscheiden, um dort vorhandene höhermolekulare Nährstoffe in aufnehmbare kleinere Moleküle zu zerlegen.
Alkalophile leben in carbonatreichen Böden und in Sodaseen, wie sie unter anderem in Ägypten, in der ostafrikanische Grabenzone und im Westen der USA vorkommen. Bei den darin herrschenden pH-Werten von mehr als acht zerfallen gewisse Moleküle, vor allem die Ribonucleinsäuren. Wie acidophile halten darum auch alkalophile Mikroben im Inneren ein neutrales Milieu aufrecht, so daß sich ihre Extremozyme wiederum im Bereich der Zelloberfläche oder unter den abgeschiedenen Molekülen finden. An ihnen sind besonders die Waschmittelhersteller interessiert. Vor allem in Japan hat die Industrie Extremozyme geradezu begeistert aufgenommen; treibende Kraft bei der Erforschung der alkalophilen Biokatalysatoren ist Koki Horikoshi vom Japanischen Zentrum für Meereswissenschaften und Meerestechnik in Yokosuka.
Ein Waschmittel muß Lebensmittelflecken und anderen eiweiß- und fetthaltigen Schmutz lösen. Am besten gelingt das protein- und lipidabbauenden Enzymen, also Proteasen beziehungsweise Lipasen; herkömmliche würden allerdings durch die gewöhnlich hochalkalischen Detergentien der Waschlauge geschädigt. Mit alkalophilen Lipasen und Proteasen ist das Problem zu lösen; einige, die zudem bei hohen oder bei tiefen Temperaturen effizient arbeiten, sind in der Entwicklung oder schon im Einsatz.
Alkalophile Enzyme bieten sich auch als Ersatz für herkömmliche an, die zur Herstellung abgetragen wirkender ("stonewashed") Blue Jeans dienen. Das Weichmachen und Ausbleichen des Baumwolldrillichs erzielt man nämlich nicht mit Steinen in der Waschtrommel, sondern mit biokatalytischem Celluloseabbau und Anlösen des indigoblauen Farbstoffs.
Eine weitere bemerkenswerte Gruppe extremophiler Mikroben bilden die Halophilen (nach halos, dem Genitiv des griechischen Begriffs für Salz). Sie kommen vor allem in natürlichen Salzseen sowie in Salzgärten vor, an Küsten zur Kochsalzgewinnung angelegten flachen Becken, in die man Meerwasser einströmen und durch Sonnenwärme verdunsten läßt (Bild 2 links). Manche solche Milieus sind zudem äußerst alkalisch, weil sie außer dem Natriumchlorid auch Natriumcarbonat und bestimmte andere Salze enthalten, deren Ionen in wäßriger Lösung eine basische Reaktion bewirken. Darin lebende Mikroben sind an beide Extrembedingungen angepaßt.
Ein faszinierender Mechanismus ermöglicht Halophilen ein Leben in hochkonzentrierter Sole. Moleküle suchen stets in Richtung ihres eigenen Konzentrationsgefälles zu diffundieren. Mithin verliert eine Zelle in einer sehr salzhaltigen Lösung normalerweise Wasser und trocknet aus – es sei denn, ihr Plasma enthält einen höheren Gehalt an Salz oder anderen gelösten Stoffen als das umgebende Medium. Eben dies ist bei Halophilen der Fall: Sie erzeugen in ihrem Innern einen Überschuß an solchen Substanzen, indem sie diese selbst herstellen oder aus der Umgebung anreichern. So speichert das Archaebakterium Halobacterium salinarum Kaliumchlorid in seinem Zellplasma. Entsprechend funktionieren seine plasmatischen Enzyme nur in Gegenwart hoher Konzentrationen dieses Salzes, seine Proteine mit Außenkontakt hingegen bei hohen Konzentrationen von Kochsalz.
Die Anwendungsmöglichkeiten salztoleranter Enzyme sind weniger augenfällig als die manch anderer Extremozyme. Gleichwohl kommt zumindest ein interessantes Einsatzfeld in Betracht – der Abbau eines bei der Erdölförderung eingesetzten Hilfsstoffes.
Um Öl, das nicht schon primär durch natürlichen Druck oder sekundär etwa durch Injektion von Gas oder Wasser aufzusteigen vermag, Durchlässe zu einem Bohrloch zu verschaffen, pumpt man bei einem Verfahren der tertiären Gewinnung in die Öffnung eine Mischung aus Sand und zähflüssigem Guargummi (einer wäßrigen Lösung des Quellmittels Guaran aus der Guarbohne Cyamopsis tetragonobolus). Eine am Grunde der Bohrung gezündete Sprengladung bricht dann das Speichergestein auf und preßt dabei die eingepumpte Masse in die entstehenden Risse. Das Guargummi läßt den Sand besser in die Spalten eindringen, und dessen Körnchen halten sie dann offen. Damit das Erdöl aber frei hindurchtreten kann, muß das viskose Hilfsmittel erst wieder beseitigt werden. Deshalb setzt man der Masse kurz vor dem Einpumpen ein Enzym zu, das Guaran nach und nach abbaut.
Zumindest tut es das im Idealfall. Doch mit der Tiefe der Bohrung nimmt die Erdwärme zu, und oft ist das Milieu auch salzhaltig, so daß gewöhnliche Enzyme nicht selten vorzeitig wirkungslos werden. Ein Guaran abbauendes thermo- wie halophiles Extremozym hingegen bliebe im relativ kühlen und salzarmen oberen Bereich wohl noch inaktiv, im unteren aber dafür länger und würde somit die Gesteinsrisse gründlicher vom durchlaßverwehrenden Guargummi freiräumen. Robert M. Kelly von der Staatsuniversität von North Carolina in Raleigh hat dazu erste Laborversuche angestellt, mit vielversprechendem Ergebnis.
Gewinnung von Extremozymen
Wären Extremozyme allein aus ihren natürlichen Produzenten zu gewinnen, könnten sie kaum in größerem Umfang wirtschaftlich genutzt werden. Für lohnende Enzymausbeuten braucht man die jeweilige Erzeugerspezies in großen Mengen, und die sind in der Natur nur selten zu finden. In der Regel zieht man am Standort Proben, isoliert im Labor einzelne Zellen und legt davon zunächst Reinkulturen an. Schon dies ist bei Organismen mit extremen Umweltansprüchen oft schwierig und teuer (oft noch gar nicht möglich) – um so problematischer kann ihre großtechnische Aufzucht und Haltung werden.
Dank der Gentechnik ist es jedoch möglich, Extremozyme auch von anderen Mikroorganismen herstellen zu lassen. Da der Aufbau eines jeden Proteins in seinem Gen festgelegt ist, wird man den entsprechenden DNA-Abschnitt klonieren, mit einigen Finessen versehen und in leicht zu kultivierende, gleichsam gezähmte Laborbakterien einbringen; wenn alles gelingt, werden sie zu einer nie versiegenden Quelle für die gewünschte Substanz.
Allerdings muß man die Gene nach wie vor erst einmal aufspüren. Die klassische Methode hierfür verlangt wiederum zunächst das Anlegen einer Reinkultur und ist umständlich. Doch gibt es einen ökonomischeren Weg. Dazu wird aus einer Probe des gewählten Extremstandorts – ein wenig Erde, Wasser oder sonstiges Material – gleich die gesamte DNA von allem, was darin lebt, auf einmal extrahiert. Dieses Sammelsurium an DNA zerlegt man in beliebige Bruchstücke und schleust sie (ohne zu wissen, welches Protein – wenn überhaupt eines – darin codiert ist) in Laborbakterien ein; eine Zelle sollte möglichst nur ein einziges Fragment des riesigen Sortiments erhalten. Dann läßt man die einzelnen Bakterien zu Kolonien heranwachsen und durchmustert sie auf neue Enzymaktivitäten. Eine solche ist Indikator für die Anwesenheit eines intakten Fremdgens, das zudem in der Wirtszelle auch wirklich funktioniert, also ausgeprägt wird.
Dieses Verfahren umgeht viele Probleme und spart Aufwand: Nur Enzyme, die sich ohne weiteres von industriell erprobten Wirtszellen herstellen lassen, sind überhaupt nachzuweisen; und die zugehörigen Gene sind gleich schon kloniert.
Außerdem kann man einfach im Gesamterbgut der natürlichen Mischpopulationen auf Schatzsuche gehen, die nach neueren molekularen Untersuchungen eine gewaltige, mit Kulturverfahren bislang nicht erfaßbare Fülle von Arten und Stämmen enthalten. Das erweitert den ausschöpfbaren Fundus beträchtlich.
Trotz der schier unglaublichen Vielfalt von Mikroorganismen auf unserem Planeten findet sich freilich nur selten ein Enzym, das den gewünschten Zweck bereits perfekt erfüllen würde. Darum hat man begonnen, die Moleküle (oder genauer ihre Gene) gemäß den industriellen Anforderungen abzuwandeln. Ein Extremozym zum Beispiel, das bestimmte Proteine recht wirkungsvoll bei hohen Temperaturen abbaut, will man vielleicht so verändern, daß es außerdem bei höheren Säure- und Salzgehalten arbeitet.
Im allgemeinen stehen dafür zwei Verfahrensweisen zur Verfügung. Zum einen läßt sich die Modifizierung gleichsam am Reißbrett planen. Bei diesem sogenannten rationalen Design muß man zunächst wissen, wie die Struktur eines Enzyms beschaffen sein sollte, damit es eine angestrebte Eigenschaft hat. Demgemäß wird dann das Gen abgeändert. Der andere Ansatz basiert auf evolutionären Prinzipien von Mutation und Auslese: Man stellt vom Gen des gewählten Enzyms Tausende mehr oder weniger zufällige Abarten her und testet die davon erzeugten Proteine darauf, ob eines die erwünschte Eigenschaft aufweist, ohne die anderen verloren zu haben.
Die wenigen schon kommerziell genutzten Extremozyme sind zumeist noch weitgehend in ihrem Urzustand. Von rationalem Design und evolutionären Strategien verspricht man sich merkliche Verbesserungen. Vielleicht lassen sich mit diesen Methoden sogar Enzyme gewöhnlicher Mikroben in künstliche Extremozyme verwandeln.
Die Forschung auf diesem Gebiet eröffnet somit neue Möglichkeiten, Moleküle mit außerordentlichen biokatalytischen Fähigkeiten zu entwickeln. Eine neuartige Substanz dieser Art wird jedoch nur marktfähig sein, wenn sie sich verläßlich, kostengünstig und in beliebigen Mengen gewinnen läßt. Schwierigkeiten bei der Perfektionierung der biotechnologischen Herstellungsverfahren einerseits und die Zögerlichkeit der Anwender in der Industrie andererseits, von bereits einigermaßen gut brauchbaren Produkten auf innovative umzusteigen, könnten der Einführung von Extremozymen hinderlich sein. Doch werden sie sich wohl ihrer vielen Vorteile wegen letztlich durchsetzen.
Literaturhinweise
- Enzymes Isolated from Microorganisms That Grow in Extreme Environments. Von M. W. W. Adams und R. M. Kelly in: Chemical and Engineering News, Band 73, Heft 51, Seiten 32 bis 42, 18. Dezember 1995.
– Extremophiles. Sonderausgabe von Federation of European Microbiological Societies (FEMS) Microbiology Reviews, Band 18, Hefte 2 und 3, Mai 1996.
– Hyperthermophiles in the History of Life. Von K. O. Stetter in: Evolution of Hydrothermal Ecosystems on Earth (and Mars?). Herausgegeben von Gregory R. Bock und Jamie A. Goode. John Wiley & Sons, 1996.
– Brock Biology of Microorganisms. Achte Auflage. Von Michael T. Madigan, John M. Martinko und Jack Parker. Prentice Hall, 1997.
– Exzentriker des Lebens. Von Michael Groß. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997.
Kasten: Archaea – die Dritte im Bunde
Im Sommer 1996 war erstmals das gesamte Erbgut eines Archaebakteriums Baustein für Baustein entschlüsselt worden; es stammte von Methanococcus jannaschii, einem extremophilen Methanbildner (unteres Photo), der bei Temperaturen um 85 Grad Celsius optimal gedeiht. Die Ergebnisse dieses Gemeinschaftsprojekts zahlreicher Wissenschaftler bestätigten überzeugend die vor 20 Jahren unterbreitete und sich zunehmend etablierende These, das irdische Leben umfasse drei große Urreiche und nicht zwei, wie zuvor als gesichertes Lehrbuchwissen galt.
Nach der klassischen Unterteilung gehörten alle einzelligen Mikroorganismen, die keinen echten, membranumhüllten Zellkern aufweisen und auch sonst bakterienähnlich sind, in die Kategorie Bakterien, gleichbedeutend mit Prokaryoten. Ihnen gegenüber standen die Eukaryoten: alle Organismen mit kernhaltigen Zellen, also Pflanzen und Tiere (ob einzellig oder mehrzellig) einschließlich des Menschen.
Zu einem anderen Schluß kamen Carl R. Woese und seine Mitarbeiter von der Universität von Illinois in Urbana-Champaign nach Vergleich bestimmter Zellmoleküle – insbesondere ribosomaler RNA – aus vielen verschiedenen Organismen: Danach bilden eigentümliche Mikroben, die er zunächst Archaebakterien nannte, offensichtlich eine eigene prokaryotische Hauptlinie; sie haben zwar keinen Kern und wirken wie echte Bakterien (von ihm Eubakterien genannt), sind aber in anderen Aspekten mindestens ebenso verschieden von ihnen wie von Eukaryoten. In seinem jüngsten Vorschlag aus dem Jahre 1990 bezeichnet er die Gruppe als Archaea|; der Begriff betont die Verschiedenheit von "echten" Bakterien (das "Eu" entfällt wieder) und stellt sie jetzt auch namentlich gleichberechtigt neben diese und die Eukaryoten (nun Eukarya).
Im Zuge der Komplettsequenzierung von M. jannaschii wurden dessen Gene mit den zahlreichen bereits entschlüsselten anderer Organismen verglichen. Für 44 Prozent von ihnen fanden sich ähnliche in Bakterien oder in Eukarya, ein Teil davon auch in beiden zugleich; die übrigen 56 Prozent sind von allen bisher bekannten Genen grundverschieden. Diese genetische Andersartigkeit stützt Woeses Schlußfolgerung einer schon früh eigenständigen Entwicklungslinie. Die zugleich vorhandenen Gemeinsamkeiten, die M. jannaschii mit den beiden anderen Gruppen teilt, sprechen dafür, daß alle drei Linien letztlich von einem einzigen Urorganismus abstammen.
Viele Archaea und manche echten Bakterien sind an Bedingungen angepaßt, wie sie vermutlich auf der frühen Erde herrschten: insbesondere hohe Temperaturen und wenig oder gar kein Sauerstoff. Unter anderem deshalb nehmen die meisten Fachleute an, daß diese beiden Linien schon bald nach der Entstehung des Lebens aus einer gemeinsamen Ahnform hervorgegangen und somit die ältesten sind|; später spalteten sich von den Archaea die komplexeren Eukarya ab. Dieses Szenario läßt sich zugleich aus zelleigenen Molekülen heutiger Lebewesen rekonstruieren: Erstellt man einen Stammbaum nach molekularer Ähnlichkeit, haben hyperthermophile, sauerstoffempfindliche Organismen wie Methanopyrus (Archaea) und Aquifex (Bakterien) ihren Ursprung dicht an der Wurzel ihrer Urreiche.
Die Experten sind nun sehr gespannt auf die Funktionen der nur bei den Archaea vorkommenden Gene von M. jannaschii; viele werden sich zweifellos als Bauanweisung für recht exotische Proteine erweisen, an denen sich vielleicht erkennen läßt, wie Zellen der Urzeit überlebten. Und wahrscheinlich lassen sich manche dieser ungewöhnlichen Eiweißstoffe – insbesondere die Enzyme, die Biokatalysatoren – dazu heranziehen, völlig neuartige Arzneimittel und trickreiche industrielle Verfahren zu entwickeln.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 86
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben