Falsche Fibonacci-Folgen
Vertrauen ist gut, Beweise sind besser. Gerade Vermutungen, die auf eine begrenzte Folge kleiner Zahlen gegründet sind, führen häufig in die Irre.
Ladies and Gentlemen: Auf das Wohl der Königin!" Wir standen auf, erhoben unsere Gläser und murmelten den Namen unseres Staatsoberhaupts. Bei allem Respekt vor dem britischen Königshaus: Dies war, wie jedes Jahr, der Moment, in dem das festliche Dinner des örtlichen Wohltätigkeitsvereins endgültig unerträglich wurde. Man hatte sich redlich bemüht, das Aufgetischte zu genießen, und alle hatten sich an die traditionelle Regel gehalten, daß vor dem Toast auf die Königin niemand raucht. Nun aber fühlte mein linker Nachbar sich frei, mich in eine stinkende Qualmwolke zu hüllen. Auf meinen mißbilligenden Blick hin glaubte er, mich aufheitern zu müssen, rückte näher und eröffnete ein Gespräch mit der Standardfrage: "Und was machen Sie beruflich?" Ich flüsterte ihm ins Ohr: "Ich bin Mathematiker." Es war wie immer. Obwohl ich unter der Hörbarkeitsgrenze geantwortet hatte, verstummte der ganze Tisch. "Ich war..." begann mein Nachbar. " ... in der Schule immer schlecht in Mathematik", beendete ich seinen Satz. "Das sagt jeder." "Ich habe Mathematik gehaßt", murmelte Athanasius Fell, ein Arzt, "und hasse sie immer noch." "Dann bin ich die große Ausnahme", rief eine Stimme zu meiner Rechten. "Ich habe Mathematik schon immer geliebt. Adam Smasher ist mein Name. Kernphysiker. Ich habe ein kleines Rätsel für Sie alle: Wie lautet die nächste Zahl in der Folge 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21?" "Neunzehn", grunzte ich ohne nachzudenken mit vollem Mund, während ich mit einem Nachtischplätzchen kämpfte, das offenbar mit Zement gebacken worden war. "Sie sollten es doch nicht verraten", erwiderte er. "Aber Ihre Antwort ist sowieso falsch. Die nächste Zahl ist 34. Wie kommen Sie auf 19?" Ich leerte mein Glas. "Nach dem klassischen Werk ,Mathematics Made Difficult' von Carl E. Linderholm ist die nächste Zahl immer 19, egal, wie die Folge lautet: 1, 2, 3, 4, 5 – 19. Und 1, 2, 4, 8, 16, 32 – 19. Sogar 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17 – 19." "Lächerlich." "Keineswegs. Es ist einfach, allgemein, universell anwendbar und deshalb jeder anderen Lösung überlegen. Mit der Interpolationsformel von Joseph-Louis Lagrange – ein Wunderkind, meine Damen und Herren, und Friedrich der Große holte ihn nach Berlin – kann man zu jeder Folge ein Polynom finden, das deren Glieder in der richtigen Reihenfolge reproduziert. Also kann man jede beliebige Zahl als nächstes Folgenglied wählen, und zwar mit gutem Grund. Der Einfachheit halber nimmt man natürlich immer dieselbe Zahl." "Aber warum 19?" "Na ja – man soll nicht seine Lieblingszahl wählen, sondern zum Beispiel eins mehr. Um die Amateurpsychologen hereinzulegen, die einem sonst aufgrund seiner Lieblingszahl die wildesten Eigenschaften andichten." "Unfug", sagte Smasher. "Ich erkläre Ihnen die richtige Lösung. Jede Zahl ist die Summe der beiden vorhergehenden. Die nächste Zahl in meiner Folge ist 34, nämlich 13+21. Dann kommen 55, 89 und so weiter. Das ist die sogenannte..." " ... Fibonacci-Folge", unterbrach ich ihn. "Ich bitte um Vergebung, aber ich kann sie einfach nicht mehr sehen. Schon der Name ist falsch. Angeblich steht Fibonacci für Sohn des Bonaccio. Aber das ist ein Spitzname, den Guillaume Libri 1838 erfunden hat, nachdem der große Mathematiker längst tot war. Er lebte ungefähr von 1170 bis 1250 und hieß eigentlich Leonardo Pisano Bigollo. Pisano heißt, daß er in Pisa gewohnt hat, aber niemand weiß, wofür Bigollo steht. Jedenfalls müßte man seine Folge eigentlich Leonardo-Pisano-Bigollo-Folge nennen, aber das ist zu lang." "Ihr Mathematiker habt seltsame Einstellungen", bemerkte mein schadstoffausstoßender Nachbar. "Jedenfalls andere als die meisten Leute." "Beweise!" rief Smasher. "Mathematiker wollen immer irgend etwas beweisen. Das ist wirklich merkwürdig. Wenn man immer weiter probiert und es immer stimmt, dann muß es doch richtig sein! Ich habe nie verstanden, warum man dann seine Zeit noch mit allerlei logischen Verrenkungen verschwenden soll." "Warum stellt ihr Physiker Experimente an? Wenn Ihnen eine Theorie sagt, was Sie hören wollen, könnten sie doch einfach annehmen, daß sie stimmt." "Aber man kann doch nicht an Theorien glauben, die nicht überprüft sind." "Und wir sind nicht bereit, an Sätze zu glauben, die nicht bewiesen sind." Ich wandte mich an meinen Freund, den Rechtsanwalt Alexander Bander-Gander. "Warum bestehen die Juristen darauf, Streitfälle vor Gericht zu verhandeln? Warum schaut sich nicht einfach ein Richter die Akten an und entscheidet dann, ob der Angeklagte schuldig ist?" "Das kann man nicht machen! Da könnte ein Fehlurteil ergehen!" "Richtig. Das fürchten auch die Mathematiker, und deshalb bestehen sie auf Beweisen. Sie wollen nicht später zugeben müssen, daß sie sich geirrt haben." Der Physiker schüttelte traurig seinen Kopf. "Sie wissen doch genau, daß das nicht stimmt. Mathematik ist im Prizip ganz einfach. Wenn Sie ein offensichtliches Muster sehen, kann es sich nicht um einen bloßen Zufall handeln. Wozu braucht man dann noch einen Beweis?" Ich dachte einen Moment nach. "Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ich nenne Ihnen den Anfang einer Folge, und Sie sagen mir die nächste Zahl." "Ich werde mein Bestes tun." "1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55." Er schaute mich überrascht an. "Machen Sie keine Witze. Ich habe Sie doch gerade selbst nach dieser Folge gefragt. Das ist die Fibonacci-Folge." "Tatsächlich? Wie lautet denn die nächste Zahl?" "89", erwiderte Smasher sofort. "Falsch. 91." "Aber... aber sie sieht doch genauso aus wie die..." "Sie ziehen voreilige Schlüsse aufgrund von Vorurteilen. Ihre Folge war die Fibonacci-Folge, aber das n-te Glied in meiner Folge ist die kleinste ganze Zahl, die nicht kleiner als ist. Dabei ist e=2,71828... die Basis der natürlichen Logarithmen. Ich fragte nach dem elften Glied, also nach der kleinsten ganzen Zahl oberhalb von , und das ist 91." "Hrmm. Offenbar ein seltener Zufall, eine Ausnahme. Ich werde Ihnen glauben, wenn Sie mir noch mehr solche Fälle nennen können", wandte der Rechtsanwalt ein. "Oder haben Sie Ihren Vorrat schon erschöpft?" "Es gibt Hunderte von Beispielen", erwiderte ich. "Sie sind leichter zu finden, als Sie glauben. Richard K. Guy, ein Mathematiker von der Universität Calgary in Kanada, sammelt sie. Er hat auch eine Faustregel aufgestellt, die er das starke Gesetz der kleinen Zahlen nennt: Es gibt einfach nicht so viele kleine Zahlen, daß jedes Bildungsgesetz seine eigene, unverwechselbare Folge hervorbringen könnte. Deswegen ist es nahezu unvermeidlich, daß man ein Gesetz zu erkennen glaubt, wo es in Wirklichkeit nur eine Koinzidenz gibt. Sie können übrigens über elektronische Post die ersten Glieder einer Folge an einen Computer bei AT&T Bell schicken und bekommen eine Auskunft zurück, ob eine von mehr als 5000 bekannten Folgen so anfängt. Die Chance für einen Treffer ist also ziemlich groß." Ich präsentierte der Gesellschaft elf Zahlenfolgen, für deren erste Glieder das Fibonacci-Gesetz zutrifft (jedes Glied ist die Summe seiner beiden Vorgänger) oder die dadurch entstanden sein könnten, daß man aus einer Fibonacci-Folge jedes zweite Glied herausgreift. Welche dieser Folgen (siehe Kasten auf der vorigen Seite) sind echte Fibonacci-Folgen und welche nicht? Die Auflösungen finden sich nebenstehend. Meine Gesprächspartner wurden unsicher. Schließlich glaubte der Physiker zu wissen, woran es lag, daß es für das erste Stückchen einer Folge so viele konkurrierende Erklärungen gibt. "Sie verwenden zu wenig Daten! Wenn Sie von Anfang an mehr Glieder berechnen, kommen die Unterschiede von selbst ans Licht, und solche Verwechslungen können einem nicht mehr passieren." Ich entfaltete meine Papierserviette und notierte die Folge 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, 73, 79, 83, 89, 97, 101, 103, 107, 109, 113, 127, 131, 137, 139, 149, 151, 157, 163, 167, 173, 179, 181, 191, 193, 197, 199, 211, 223, 227, 229, 233, 239, 241, 251, 257, 263, 269, 271, 277, 281, 283, 293, 307, 311, 313, 317, 331, 337. "Wie lautet das nächste Glied?" "Ist doch vollkommen klar. Das sind die ungeraden Primzahlen", rief Smasher triumphierend. "So viele Primzahlen hintereinander kann kein Zufall sein. Also ist das nächste Glied" – fieberhaftes Kopfrechnen – "347". "Sind Sie sicher?" fragte ich ruhig.
Literaturhinweise
- Primzahlverteilungen und das "starke Gesetz" der kleinen Zahlen. Von Martin Gardner in: Spektrum der Wissenschaft, Februar 1981, Seite 7.
– A Diary on Information Theory. Von Alfréd Rényi. Wiley, 1987.
– The Strong Law of Small Numbers. Von Richard K. Guy in: American Mathematical Monthly, Band 95, Heft 8, Seiten 697 bis 712, Oktober 1988.
– The Second Strong Law of Small Numbers. Von Richard K. Guy in: Mathematics Magazine, Band 63, Heft 1, Seiten 3 bis 20, Februar 1990.
– Das erwähnte Verzeichnis bekannter Zahlenfolgen ist abfragbar über e-mail an sequences@research.att.com. Schreiben Sie (beispielsweise) "lookup 1 3 6 10 15 21"; Sie erhalten die Auskunft, daß es sich um die Dreieckszahlen n(n+1)/2 handelt, samt Literaturhinweisen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1995, Seite 10
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