Sozialforschung: Familie im Wandel
Mit dem Zusammenbruch der DDR prallten zwei soziale Systeme aufeinander. 13 Jahre nach der Wiedervereinigung haben die Familiensysteme in Ost und West noch immer keinen Mittelweg gefunden.
Das Jahr der deutschen Wiedervereinigung markiert auch für die demografische Forschung eine Wende. Manche Wissenschaftler dachten, der Einfluss der ehemaligen DDR würde die traditionelle Familienform Westdeutschlands durchbrechen, die der Frau die Rolle der Mutter und Hausfrau zuweist und dem Vater jene des Ernährers. Für eine ostdeutsche Frau war es völlig normal und sozial anerkannt, in jungen Jahren ein Kind zu bekommen, ohne verheiratet zu sein. Doch bis heute scheinen sich die unterschiedlichen Familienformen nicht anzunähern.
In den ersten Jahren nach der Wende zeigten sich zwar auch innerdeutsche Gemeinsamkeiten. Doch waren sie für die demografische Situation überwiegend negativ: Die jährliche Geburtenzahl sank, während das mittlere Alter der Frau bei der Erstgeburt stieg.
Bereits 1980 war die Geburtenzahl in Deutschland rückläufig: 865000 Kinder, fast 50000 weniger als im Jahr zuvor. Im Jahr 2000 wurden 770000 Kinder in der Bundesrepublik geboren, davon nur etwa 111000 in den neuen Bundesländern und Ostberlin. Für eine Frau in den alten Bundesländern bedeutet dies, im Schnitt 1,4 Kinder zur Welt zu bringen, während ihre ostdeutsche Nachbarin nur 1,2 Kindern das Leben schenkt. Damit unterschreitet Deutschland deutlich die Schwelle von 2,1, die für eine konstante Bevölkerungszahl nötig wäre.
Anders als in den alten Bundesländern brachen in der ehemaligen DDR in den ersten Jahren nach der Wende die Geburtenzahlen drastisch ein. So wurden dort 1991 über 70000 Geburten weniger registriert als im Jahr zuvor. Neben der verstärkten Abwanderung und der gestiegenen Arbeitslosigkeit begründeten Sozialforscher den massiven Rückgang mit einem "demografischen Schock", den die Ostdeutschen durch den politischen und sozialen Wandel erlitten. Denn mit der Wiedervereinigung fehlte plötzlich die familienfreundliche Bevölkerungspolitik, die sich in zahlreichen Vergünstigungen und Förderungen für junge Eheleute und Eltern niedergeschlagen hatte. So fiel zum Beispiel das zinslose Darlehen weg, dessen Rückzahlungshöhe mit der Anzahl der Kinder abnahm, ebenso Wohnungsbeschaffung und Mietzuschuss.
Trotz des gravierenden Geburteneinbruchs, der seit 1995 mit langsam steigenden Geburtenraten abgemildert wird, sind die ostdeutschen Mütter bei der Geburt des ersten Kindes weiterhin jünger als Mütter in Westdeutschland. Während sich die Frauen in den alten Bundesländern 1989 mit fast 27 Jahren auf Nachwuchs freuten, waren ihre Nachbarinnen im Osten mit 23 deutlich jünger.
Mittlerweile macht das Ost-West-Gefälle nur noch zwei Jahre aus, da das Alter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes in den neuen Bundesländern stärker ansteigt als in den alten. Die Bereitschaft zur früheren Familiengründung bei ostdeutschen Paaren hängt, so vermuten Sozialforscher, mit dem zum Tragen kommenden ostdeutschen Lebensentwurf zusammen, in dem "Kind und Familie" wesentliche Bestandteile geblieben sein müssen.
Unterschiedliche Lebensentwürfe
Dies scheint tatsächlich der Fall zu sein. Neue Analysen am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock zeigen, dass Arbeitslosigkeit und instabile Beschäftigungsverhältnisse nicht zwangsläufig zu einem Aufschub der Familiengründung beigetragen haben (siehe auch Interview auf Seite 98). So sind es gerade Frauen mit schlechten Erwerbschancen, die sich früh für eine Elternschaft entscheiden. Selbst die Arbeitsmarktsituation des Partners, und das überrascht vor allem im Vergleich zu westdeutschen Männern, spielt laut so genannter Lebensverlaufstudien beim ersten Kind keine Rolle. Die finanzielle Grundlage scheint demnach dem ostdeutschen Kinderwunsch zu unterliegen und kann verbunden mit der Arbeitslosigkeit nicht als Hauptursache für den nach der Wende einsetzenden Geburtenrückgang gelten.
Anders als im Westen Deutschlands wird das Kind nicht als hinreichender Grund für die Mutter angesehen, zu Hause zu bleiben. Vielmehr versuchen die jungen Frauen, so schnell wie möglich in das Berufsleben zurückzukehren oder im Falle der Erwerbslosen Arbeit zu finden. Die für die ehemalige DDR typische Vereinbarkeit von "Kind und Beruf" ist vor allem durch die vergleichsweise gute Versorgung mit Betreuungsplätzen für Kinder gegeben. Nach der Wende fielen zwar die Vergünstigungen der Frau wie bezahlte Hausarbeitstage, spezielle Arbeitszeitregelung und zusätzliche Urlaubstage für Mütter weg, doch die Möglichkeit, Kinder tagsüber in Krippen oder ganztägig geöffneten Kindergärten unterzubringen, blieb.
Die Versorgung der 6- bis 10-Jährigen findet in Ostdeutschland, so das Deutsche Jugendinstitut 1998, zu sechzig Prozent in Horten statt, obwohl diese nicht mehr selbstverständlicher Teil ostdeutscher Schulen sind. In Westdeutschland ist ein nachmittägliches Betreuungsangebot für Schulkinder ebenso unüblich wie Ganztagsschulen. Dabei stellt sich die Frage, ob Mütter, die dann selbst für das Wohl der Kleinen sorgen, dies wegen der wenigen Betreuungsplätze tun oder aus ihrem Selbstverständnis heraus. Letzteres ist durch die Analysen der Jahrgänge 1961 bis 1970 wahrscheinlicher: Auf die Frage, ob ein Kleinkind leidet, wenn seine Mutter berufstätig ist, stimmten 65 Prozent der Befragten in Westdeutschland zu, während in Ostdeutschland nur 33 Prozent dieser Meinung waren.
Doch es gibt weitere Unterschiede: Die Geburt des ersten Kindes führt bei den meisten westdeutschen Paaren zur Heirat. Das dürfte nicht nur an finanziellen Anreizen wie dem Ehegattensplitting liegen, sondern vor allem an tradierten Wertvorstellungen. Die Grundeinstellung der ostdeutschen Frau indessen, nämlich trotz Kind berufstätig und unabhängig zu sein, bewirkt Gegensätzliches. Entgegen aller Prognosen hält der Trend zur Partnerschaft ohne Ehe weiter an und hat sich sogar auf die alten Bundesländer übertragen. Mittlerweile wachsen hier 17 Prozent aller Kinder nicht ehelich auf, in den neuen Bundesländern sind es über fünfzig Prozent. Wieso die Tendenz weiter steigt und selbst die Geburt des zweiten Kindes nur selten ein Nachholen bewirkt, bringt sogar Demografen in Erklärungsnöte.
Das zweite Kind ist in ostdeutschen Familien generell eher ungewöhnlich. Anders als beim ersten Kind scheint hier der Lebensentwurf nicht mehr bestimmend beziehungsweise mit dem Erstling größtenteils erfüllt zu sein. Soll die Familie nämlich vergrößert werden, wird das Augenmerk auch im Osten Deutschlands auf die finanzielle Voraussetzung gelenkt. Doch da diese vergleichsweise schlecht ist, so vermuten die Demografen am Max-Planck-Institut, liege die Wahrscheinlichkeit für eine ostdeutsche Frau, ein weiteres Kind zu bekommen, deutlich unter dem westdeutschen Niveau.
Bisher ist nicht abzusehen, wie und in welche Richtung sich die sozialen Strukturen einander angleichen werden. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat jedoch längst eine Bevölkerungsprognose parat: Der Osten wird seinen Aufholprozess fortsetzen, ihn aber selbst 2020 noch nicht abgeschlossen haben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2003, Seite 96
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