Familienplanung in Entwicklungsländern
In vielen Ländern der Dritten Welt nimmt die durchschnittliche Familiengröße ab|; der Grund dafür ist in aller Regel nicht wachsender Wohlstand, sondern kultureller Wandel und besserer Zugang zu Verhütungsmitteln. Damit ergeben sich neue Ansätze dafür, der Übervölkerung der Erde gegenzusteuern.
In den Entwicklungsländern ereignet sich zur Zeit eine Revolution des Fortpflanzungsverhaltens. Überall in der Dritten Welt wünschen sich die Frauen – so sehr sie sich kulturell, politisch und in ihrem sozioökonomischen Status unterscheiden mögen – kleinere Familien als bisher üblich. Die Geburtenraten sind seit Mitte der sechziger Jahre um ein Drittel zurückgegangen: Hatte eine Frau früher im Schnitt sechs Kinder, sind es heute nur noch vier.
Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter machen die Entwicklungsländer nicht den klassischen demographischen Übergang durch, der in vielen Industrieländern im letzten Jahrhundert stattfand (siehe Spektrum der Wissenschaft, November 1989, Seite 98). Zum Beispiel gingen in Deutschland, Großbritannien und den USA die Geburtenziffern erst zurück, nachdem sich durch das Wirtschaftswachstum Gesundheitsversorgung und Bildungswesen verbessert hatten. Alles in allem dauerte der Übergang viele Jahrzehnte (siehe Spektrum der Wissenschaft, Januar 1989, Seite 40).
Hingegen gibt es neuerdings Indizien dafür, daß in den Entwicklungsländern die Geburtenziffern gefallen sind – sogar bemerkenswert schnell –, obwohl die Lebensbedingungen sich nicht generell gebessert haben. Anscheinend haben sich in diesen Ländern immer wirksamere Programme zur Familienplanung, neue Verhütungstechniken und die aufklärende Wirkung der Massenmedien positiv ausgewirkt (Bild 1).
Entwicklung der Fertilität
Dies ist äußerst bedeutsam für künf-tige Bemühungen, das Bevölkerungswachstum zu bremsen. Denn trotz des beobachteten Rückgangs der Geburtenraten schwillt die Weltbevölkerung weiter an: Bis zum Jahre 2050 wird sie sich vermutlich auf 10 Milliarden verdoppeln. Schätzungsweise 97 Prozent dieses Wachstums werden auf die Entwicklungsländer entfallen; dort ist immerhin ein Drittel der Menschen jünger als 15 Jahre, kommt also gerade ins fortpflanzungsfähige Alter.
Anhand neuer Erhebungen zur Demographie und Familienplanung konnten wir die direkten und indirekten Ursachen für fallende Geburtenraten in Entwicklungsländern analysieren und dabei herausfinden, wodurch sie sich vom demographischen Übergang in den reichen Ländern unterscheiden. Mit diesem Wissen können wir nun angeben, wie diese unerwartete und zugleich willkommene Revolution sich am wirksamsten unterstützen läßt.
Die neuesten Daten über die Fertilität in Entwicklungsländern stammen aus 44 Erhebungen während der letzten acht Jahre bei mehr als 300000 Frauen. Die Umfragen zu Demographie und Gesundheit hat die Firma Macro International durchgeführt, die zur Familienplanung haben die Gesundheitsämter (Centers for Disease Control) der USA übernommen; beide hat zu einem großen Teil die US-Agentur für Internationale Entwicklung finanziert. Die Studien lieferten repräsentative und vergleichbare Daten über 18 afrikanische Länder südlich der Sahara, 16 lateinamerikanische und karibische Staaten, sechs im Nahen Osten und in Nordafrika sowie vier in Asien. Davon unabhängige Erhebungen geben einen gewissen Aufschluß über China, Indien, Bangladesch und drei weitere asiatische Länder.
Diese Untersuchungen setzen ein internationales Projekt fort, das vor gut 20 Jahren begonnen hat. Vor dem World Fertility Survey – der weltweiten Fertilitätserhebung von 1972 – gab es keinen Versuch, umfassende und miteinander vergleichbare Daten zu Fruchtbarkeit und Familienplanung in Entwicklungsländern zu sammeln. Bislang haben mehr als 30 Länder solche Angaben aufgezeichnet – sowohl im 1984 abgeschlossenen World Fertility Survey selbst als auch in der 1985 begonnenen und derzeit laufenden Erhebungsrunde. Damit können die Demographen Trends bei Fertilität und Geburtenkontrolle über zwei Jahrzehnte hinweg darstellen. Insgesamt bilden diese Programme eines der umfassendsten Forschungsprojekte, die in den Sozialwissenschaften je unternommen worden sind.
Die großräumig erfaßten Daten geben einzigartige Auskünfte über das Fortpflanzungsverhalten in Entwicklungsländern. In jedem untersuchten Land legte man zufällig ausgewählten Frauen in gebärfähigem Alter mehr als 200 Fragen vor: über ihre Fortpflanzungsgeschichte, ihre Haltung zur Mutterschaft sowie ihre theoretische und praktische Kenntnis von Verhütungsmitteln. Auch heikle Themen wie die Häufigkeit der Sexualkontakte blieben nicht ausgespart. Zudem wurde statistisches Material über Alter, Familienstand, Ausbildung und Besitz von häuslichen Gütern wie Radio- und Fernsehapparat gesammelt – einerseits, um den sozialen und wirtschaftlichen Status zu bewerten, andererseits, um den möglichen Einfluß der Kommunikationstechnik auf die Fertilitätsraten und den Gebrauch von Verhütungsmitteln festzustellen.
Um die Fruchtbarkeit verschiedener Länder, Gruppen von Frauen oder Zeitabschnitte vergleichen zu können, berechnen die Demographen die sogenannte totale Fertilitätsrate. Diese statistische Größe beruht auf den Angaben von Frauen zwischen 15 und 49 Jahren über die Anzahl ihrer Geburten. Für Gruppen aus je fünf Altersjahrgängen errechnet man die durchschnittliche Anzahl von Geburten pro Jahr, und die Summe ergibt die totale Fertilitätsrate. Sie entspricht der Gesamtzahl der Kinder, die eine typische Frau in ihren gebärfähigen Jahren hätte, wenn sie immer den jeweils geltenden Fertilitätsraten folgte.
Wie die Zahlen zeigen, ist die Fertilität seit den siebziger Jahren dramatisch zurückgegangen. In Thailand etwa fiel sie in zwölf Jahren um 50 Prozent: zwischen 1975 und 1987 von 4,6 auf 2,3 Kinder pro Frau. In Kolumbien sank sie zwischen 1976 und 1990 von durchschnittlich 4,7 auf 2,8 Kinder pro Frau. In Indonesien ging die Fruchtbarkeit zwischen 1971 und 1991 um 46 Prozent zurück, in Marokko zwischen 1980 und 1992 um 31 und in der Türkei zwischen 1978 und 1988 um 21 Prozent. In acht lateinamerikanischen und karibischen Ländern haben die Frauen heute im Mittel ein Kind weniger als vor 20 Jahren.
Ursachen
Fraglos gibt es für diesen Wandel viele direkte und indirekte Ursachen. In den fünfziger Jahren haben die Demographen Kingsley Davis und Judith Blake – sowie kürzlich John Bongaarts vom Rat für Bevölkerungsfragen in New York – die vier wichtigsten direkten Einflüsse auf die Fruchtbarkeit beschrieben: den Gebrauch wirksamer Verhütung, das Alter der Frauen bei der ersten Heirat, die Zeitspanne, in der die Frauen nach einer Geburt nicht empfangen (weil sie stillen oder sexuell enthaltsam sind), und Abtreibungen.
Leider sind die Informationen über die Rolle der Abtreibung in Entwicklungsländern auch heute noch sehr vage; zwar ist bekannt, daß diese Praxis die Fertilität erheblich einschränkt, doch die Wissenschaftler bekommen von den Frauen nur schwer genaue Auskunft – insbesondere, wenn Abtreibungen verboten sind.
Nach Bongaarts zählen Bildung, Beruf, Wohlstand, Wohnort, religiöser Glaube und sozialer Status zu den indirekten Faktoren; ihre Wirkung auf die Fertilität läßt sich in aller Regel weniger leicht feststellen.
Unter den direkten Einflüssen ist die Familienplanung am wichtigsten. Die kontrazeptive Prävalenz eines Landes – der Prozentsatz verheirateter Frauen in gebärfähigem Alter, die eine Form von Verhütung praktizieren – bestimmt weitgehend die Fertilitätsrate. Die Daten zeigen sogar, daß die Variation der Fruchtbarkeitsraten sich zu etwa 90 Prozent durch Unterschiede in der Verhütungsprävalenz erklären läßt. Allgemein gilt: Wenn der Gebrauch von Kontrazeptiva um 15 Prozent steigt, bringen die Frauen durchschnittlich ein Kind weniger zur Welt. Den Erhebungen zufolge ist die Fertilität am stärksten dort gesunken, wo die Familienplanung am meisten zugenommen hat.
Wenn man von China absieht, praktizieren in den Entwicklungsländern derzeit 38 Prozent der verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter Familienplanung – alles in allem etwa 375 Millionen (mit China sind es 51 Prozent). Hingegen nutzen in den meisten Industriestaaten mehr als 70 Prozent der verheirateten Paare Verhütungsmittel. In Japan und einigen westeuropäischen Staaten erreicht oder unterschreitet die totale Fertilitätsrate schon den Gleichgewichtswert von 2,1 Kindern pro Paar, bei dem die Bevölkerung zu wachsen aufhört.
Moderne Verhütungsmethoden
Da der Zugang zu neueren Formen der Verhütung in den Entwicklungsländern leichter geworden ist, müssen sich immer weniger Paare auf traditionelle Methoden wie periodische Abstinenz (die Rhythmusmethode) und Coitus interruptus verlassen. Bei den untersuchten Ländern dominieren die traditionellen Methoden nur noch in vier afrikanischen Staaten, wo überhaupt kaum verhütet wird und hohe Fruchtbarkeit herrscht: Burundi, Kamerun, Ghana und Togo. In einem lateinamerikanischen Land, nämlich in Bolivien, verlassen sich 17 Prozent der verheirateten Frauen auf die Rhythmusmethode, während dort weniger Frauen moderne Verhütungsmittel einsetzen.
Heute nutzen in der Dritten Welt 80 Prozent der verheirateten Frauen, die überhaupt Verhütung praktizieren, kürzlich entwickelte Methoden. Den Fragebögen zufolge ist freiwillige Sterilisation der Frau nach mehreren Geburten die gebräuchlichste Form der Familienplanung – vor allem in Lateinamerika und der Karibik; dort ist sie in neun von 16 betrachteten Ländern die vorherrschende Methode. Auch in Indien wird die freiwillige Sterilisation am häufigsten angewandt, und in China kommt sie gleich hinter dem Intrauterinpessar an zweiter Stelle.
Für die Sterilisation entscheiden sich in Lateinamerika viele Frauen, weil sie die gewünschte Familiengröße schon kurz nach der Eheschließung erreichen: Die Ehepaare haben im Schnitt drei oder vier Kinder, und zwar meist kurz hintereinander. In den untersuchten Staaten Afrikas und des Nahen Ostens ist die Sterilisation hingegen nicht üblich.
Trotz der AIDS-Pandemie nutzen in den Entwicklungsländern nur etwa 4 Prozent der verheirateten Paare im fortpflanzungsfähigen Alter Kondome zur Familienplanung. Zwar gibt es zu wenige Daten, aber insbesondere Nichtverheiratete scheinen aufgrund des AIDS-Problems mehr Kondome zu verwenden. Spezielle Erhebungen zum Einfluß von AIDS auf Familienplanung, Fertilität und Mortalität sind geplant.
Die neuen Ergebnisse stützen die Ansicht, daß die Bereitstellung von Mitteln zur Geburtenkontrolle den größten direkten Einfluß auf die Fertilitätsraten hat. Außerdem bestätigen die Daten frühere Beobachtungen, wonach Frauen mit besserer Ausbildung eher Verhütungsmittel verwenden. Auch zeigt sich, daß Frauen in städtischen Gebieten mit höherer Wahrscheinlichkeit Verhütung praktizieren als Frauen auf dem Lande: Erstere sind in der Regel besser informiert und modernen Ansichten intensiver ausgesetzt – so auch dem Wunsch nach kleineren Familien. Zudem sind Kinder in Städten oft kostspieliger, der Wohnraum ist knapp, und die Paare dort haben weniger Bedarf an Kinderarbeit als die Menschen in landwirtschaftlich geprägten Gegenden. Am wichtigsten ist vielleicht, daß man in Städten leichter Zugang zu Beratungsstellen und Mitteln zur Geburtenkontrolle hat.
Allerdings zeigen die Untersuchungen auch, daß Bildung oder urbanes Leben keine Voraussetzung für den Gebrauch von Kontrazeptiva sein muß. In einigen Ländern, in denen Methoden zur Geburtenkontrolle leichter zugänglich wurden und der Wunsch nach kleineren Familien sich verbreitete, ist die Fertilität auch der auf dem Lande lebenden und weniger gebildeten Frauen stark zurückgegangen. In Kolumbien sank sie in den achtziger Jahren vor allem dadurch, daß die Einrichtungen zur Familienplanung auch von weniger gebildeten Frauen stärker genutzt wurden. In Indonesien, wo das staatliche Familienplanungsprogramm jedes Paar zu erreichen suchte, ging die Fertilität in allen Bereichen der Gesellschaft gleichmäßiger zurück als in den meisten anderen Ländern. Im größten Teil der Dritten Welt hat in den letzten zwei Jahrzehnten der Gebrauch von Kontrazeptiva in allen Bildungsschichten zugenommen, und die erziehungsbedingten Lücken in der Prävalenz der Familienplanung sind kleiner geworden (siehe Kasten auf Seite 34 und 35).
Afrikanische Beispiele
Die Veränderungen in drei Staaten Afrikas südlich der Sahara belegen diesen neuen Trend besonders deutlich. Bevor die aktuellen Daten zur Verfügung standen, bezweifelten viele Experten, daß Schwarzafrika sich in absehbarer Zukunft der Revolution des Reproduktionsverhaltens anschließen würde: Traditionelle Überzeugungen und Verwandtschaftssysteme, so meinten sie, begünstigten hohe Fruchtbarkeit (siehe "Ursachen der Übervölkerung Schwarzafrikas" von John C. Caldwell und Pat Caldwell, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 122). Trotzdem sank die Fertilität seit den siebziger Jahren in Botswana um 26, in Kenia um 35 und in Zimbabwe um 18 Prozent. Diese Länder unterscheiden sich von den meisten anderen südlich der Sahara durch Nachfrage nach Familienplanung und Verfügbarkeit von Kontrazeptiva.
Gleichwohl dürften Botswana, Kenia und Zimbabwe eher eine Vorhut als die Ausnahme sein. Zum Beispiel bevorzugt die Kultur Kenias große Familien, und erste Versuche zur Förderung der Familienplanung kamen nicht weit. Doch sobald das schnelle Bevölkerungswachstum die Landwirtschaft zu überfordern drohte und die Städte anschwellen ließ, schwanden die Vorzüge großer Familien. Außerdem veränderten bessere Ausbildung und steigender Sozialstatus die Ansichten der Frauen über die optimale Kinderzahl.
Zugleich vermag Kenia aufgrund großer Anstrengungen von Regierung und Hilfsorganisationen den Bedarf an Verhütungsmitteln weitgehend zu decken. Zwischen 1984 und 1989 stieg der Gebrauch von Kontrazeptiva um 59 Prozent, und die Zahl der gewünschten Kinder sank um 24 Prozent. Real ging die Fertilität um 16 Prozent zurück (Bild 2).
Auch in anderen Ländern Schwarzafrikas ändern sich die traditionellen Haltungen und der Status der Frau. Selbst dort, wo nur wenige Paare Verhütungsmittel gebrauchen, sind gebildetere Frauen nicht mehr der Meinung, große Familien würden ihren sozialen und wirtschaftlichen Status heben oder das Schicksal bestimme die Familiengröße. Die Frauen heiraten später: Obwohl sie in Schwarzafrika meist früher Familien gründen als anderswo, ist das Heiratsalter in praktisch allen untersuchten Ländern während der letzten 20 Jahre gestiegen. Die kulturellen Muster vieler afrikanischer Länder unterscheiden sich zwar nach wie vor erheblich von denen in Asien oder Lateinamerika, und Vielweiberei ist noch immer weitverbreitet, doch die Muster ändern sich (siehe Kasten auf Seite 38).
Empfängnisverhütung wird auch im Afrika südlich der Sahara akzeptabler – vor allem bei gebildeteren und in Städten lebenden Frauen. In Niger wünschen 16 Prozent der städtischen Frauen Familienplanung, aber nur 3 Prozent der ländlichen. In Nigeria, dem mit 90 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas, zeigen landesweite Umfragen, daß die Prävalenz der Verhütungsmittel allein zwischen 1990 und 1992 von 6 auf 11 Prozent gestiegen ist.
Zwar erzählen die meisten afrikanischen Frauen den Befragern, daß sie große Familien wünschen, doch tatsächlich sind sie oft an größeren Abständen zwischen den Geburten interessiert. In den untersuchten Ländern Schwarzafrikas möchte ein Viertel bis ein Drittel aller Frauen zwischen den Schwangerschaften mindestens zwei Jahre Pause. Dieser Wunsch bedeutet, daß wahrscheinlich mehr Frauen Kontrazeptiva benutzen würden, wenn die Regierung die Empfängnisverhütung stärker propagieren und praktisch unterstützen würde.
Außerhalb Schwarzafrikas ereignen sich enorme Veränderungen. Mindestens die Hälfte der Frauen in 16 von 22 untersuchten Ländern gab an, daß sie keine Kinder mehr wollten. Der Anteil der verheirateten Frauen mit dieser Einstellung hat fast überall zugenommen. Ihre Zahl hat sich für die kurzfristige Vorhersage der Fertilitätsrate als brauchbar erwiesen. Aufgrund der Daten sagte Charles Westoff von der Universität Princeton (New Jersey) 1991 voraus, daß bis 1996 die Fertilität in Lateinamerika weiter um 13 Prozent und in Afrika um 10 Prozent sinken werde.
Eigene Gesetzmäßigkeit
Der Rückgang der Fertilitätsraten in diesen Ländern unterscheidet sich grundsätzlich vom Geburtenrückgang, der vor einigen Generationen in den Industrieländern stattfand. Um den generellen Trend in den rund hundert Jahren nach der industriellen Revolution in Europa zu erklären, haben die Sozialwissenschaftler den Begriff des demographischen Übergangs eingeführt. Im 19. Jahrhundert sanken die Sterberaten, weil die Lebensbedingungen sich besserten und die Medizin Fortschritte machte; dadurch wuchs die Bevölkerung Europas rapide – eine Ursache der Auswanderungswelle nach Übersee. Im 20. Jahrhundert fielen schließlich auch die Geburtenraten, und das Bevölkerungswachstum verlangsamte sich.
Die Theorie des demographischen Übergangs folgt diesem Muster. Sie besagt, daß sich Gesellschaften ursprünglich durch hohe Fertilität und hohe Mortalität auszeichnen: Die Bevölkerung wächst nicht. Dieser Phase folgt ein Zwischenstadium, in dem die Modernisierung einsetzt und die Sterblichkeit zurückgeht, die Fruchtbarkeit aber hoch bleibt: Dies ist eine Periode schnellen Bevölkerungswachstums. Die Fertilität nimmt erst später ab. In der letzten Phase – mit stabilem Bevölkerungswachstum bei niedriger Mortalität und niedriger Fertilität – ist heute der größte Teil der entwickelten Industrienationen.
Doch bei dem seit kurzem zu beobachtenden Reproduktionsverhalten in den Entwicklungsländern passen weder das Tempo noch die Umstände in diesen theoretischen Rahmen. Die Fertilitätsraten sind dort viel schneller gefallen als beim demographischen Übergang in Europa. Selbst in armen und von der Entwicklung relativ unberührten Ländern haben neue Anschauungen Fuß gefaßt, und mehr Paare haben kleinere Familien. Die Fruchtbarkeit sank gerade in den achtziger Jahren, als in vielen Entwicklungsländern die Wirtschaft stagnierte oder gar zurückfiel.
Diese Tatsache widerspricht dem Slogan "Entwicklung ist die beste Geburtenregelung", der 1974 auf der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest geprägt wurde. Demnach dürfte die Fertilität erst fallen, wenn die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer Aufschwung nehmen. Aber Bangladesch ist das perfekte Gegenbeispiel. Es ist eines der ärmsten und am meisten von traditioneller Landwirtschaft geprägten Länder der Erde. Die Kindersterblichkeit ist hoch, Frauen haben einen niedrigen Sozialstatus, und die meisten Familien sind auf Kinder zur wirtschaftlichen Absicherung angewiesen. Dennoch ging die Fertilität zwischen 1970 und 1991 um 21 Prozent zurück – von 7 auf 5,5 Kinder pro Frau. In dieser Zeit stieg der Gebrauch von Kontrazeptiva bei verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter drastisch – von 3 auf 40 Prozent.
Die Unterschiede zwischen dem Fertilitätsrückgang in den Entwicklungsländern und in Europa lassen sich am besten durch die unterschiedliche Akzeptanz der Familienplanung erklären. Beim demographischen Übergang in der westlichen Welt waren moderne Methoden der Kontrazeption noch nicht erfunden, und die Idee der Geburtenregelung setzte sich nur langsam durch. Wer sich offen für Empfängnisverhütung aussprach, wurde oft scharf verurteilt. Als zum Beispiel die Amerikanerin Margaret Sanger (1883 bis 1966), eine Vorkämpferin für die Geburtenkontrolle, 1916 im New Yorker Stadtviertel Brooklyn eine darauf spezialisierte Klinik eröffnete, wurde sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Das Wissen über Verhütungsmittel verbreitete sich nur langsam, denn das Bildungsniveau war niedrig und die Reichweite der Massenmedien beschränkt.
Im Vergleich dazu bedeutet der Zugang zu wirksamen Verhütungsmitteln für die heutigen Entwicklungsländer einen großen Vorteil. Früher waren die meisten Europäer auf Enthaltsamkeit, Coitus interruptus oder Abtreibung angewiesen; in manchen Ländern, vor allem in Osteuropa, verlassen sich viele Paare noch immer auf diese Praktiken, da moderne Kontrazeptiva rar sind.
Parallel zur Entwicklung von Verhütungsmitteln wie den Ovulationshemmern – in Pillenform oder als Injektionspräparat –, dem Intrauterinpessar, Spermagiften und Sterilisation haben Regierungen und Spenderorganisationen den Entwicklungsländern geholfen, Programme zur Familienplanung einzurichten und Kontrazeptiva anzubieten. Diese aktiv propagierten Dienstleistungen haben viele wirtschaftliche Hindernisse aus dem Weg geräumt, die der Gesundheitsvorsorge und dem Erwerb von Verhütungsmitteln im Wege standen.
Breit gestreute Aufklärung und der Einfluß der Massenmedien haben die Verbreitung neuer Einstellungen zur Familienplanung in Stadt und Land beschleunigt. Anders als frühere Generationen sind heute Millionen Menschen durch Radio und Fernsehen direkt und augenblicklich mit aller Welt verbunden; wie aus den Erhebungen in Ghana und Kenia hervorgeht, haben gerade Kampagnen in den Massenmedien die Frauen beeinflußt. Westoff und Germán Rodriguez von der Universität Princeton haben nachgewiesen, daß kenianische Frauen, die durch Radio oder Fernsehen informiert worden waren, sich eher eine kleinere Familie wünschten und Geburtenkontrolle betreiben wollten.
Dasselbe gilt für Nigeria, Gambia und Zimbabwe. Wie Phyllis T. Piotrow von der Fakultät für Hygiene und öffentliches Gesundheitswesen der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) herausfand, hat sich in Nigeria nach drei beliebten Unterhaltungssendungen, die Hinweise auf Möglichkeiten der Familienplanung brachten, die Zahl der in entsprechenden Kliniken Rat suchenden Frauen mehr als verdoppelt – und in einer Stadt sogar vervierfacht. Viele Entwicklungsländer versuchen auf diese Weise Verhütungsmittel gesellschaftsfähig zu machen.
In den meisten Entwicklungsländern motivierte der starke wirtschaftliche Rückgang gegen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre erstmals viele Familien, die Zahl ihrer Kinder zu begrenzen oder zumindest die nächste Geburt hinauszuschieben. Daß dieser Trend sich bei besserem Lebensstandard wieder umkehrt, ist unwahrscheinlich. So ist in Thailand, Indonesien, Kolumbien, Kenia und vielen anderen Ländern der Dritten Welt die Fertilität durch die Verbreitung neuer Ideen zur Familienplanung und praktischer Verhütungsmethoden derart rasch gesunken, daß man statt von einem demographischen Übergang von einer Revolution des Reproduktionsverhaltens sprechen muß.
Umwälzung durch Wertewandel
Wie aus unserer Analyse der Daten hervorgeht, schaffen Entwicklung und sozialer Wandel zwar günstige Bedingungen für kleinere Familien, aber Kontrazeptiva sind trotzdem die beste Empfängnisverhütung. W. Parker Mauldin und John Ross vom Rat für Bevölkerungsfragen haben nachgewiesen, daß Familienplanungsprogramme – unabhängig von der Wirkung sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen – entscheidend für den Fertilitätsrückgang in den Entwicklungsländern zwischen 1975 und 1990 waren. Einer von uns (Rutstein) hat gezeigt, daß Veränderungen bei Verhütung und Fertilität mindestens so sehr von staatlich geförderter Familienplanung wie vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen.
Zudem betonen immer mehr Forscher, daß die Ausbreitung neuer Einstellungen eine starke Triebfeder für sinkende Fertilität ist. Ein solcher Wertewandel mag, wie John Cleland von der Fakultät für Hygiene und Tropenmedizin der Universität London und Christopher Wilson von derjenigen für Wirtschaftswissenschaften und Politologie meinen, die Halbierung der Fruchtbarkeit in Thailand zwischen den siebziger und achtziger Jahren erklären: Die meisten Thais gehören einer gemeinsamen Kultur an, die offen für Veränderungen ist, und viele ländliche Regionen sind in die Volkswirtschaft integriert; neue Ansichten über Geburtenkontrolle und besserer Zugang zu Bildung, Arbeit und Konsumgütern breiteten sich rasch von den Städten aufs Land aus. Ein energisches nationales Programm förderte den Trend zur Familienplanung.
Trotz sinkender Fruchtbarkeitsraten ist unklar, wann die Dritte Welt insgesamt das Kontrazeptionsniveau erreichen wird, das heute erst in einigen Entwicklungsländern und in der entwickelten Welt herrscht. Obwohl Paare heute im Durchschnitt weniger Kinder haben als früher, steigt die Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter weiter an. In den bevölkerungsreichsten Ländern – etwa in Indien – liegt die Fertilität weit über dem Gleichgewichtswert. Die Weltbevölkerung wächst noch immer rapide. Damit die Fertilität auf ein Niveau sinkt, bei dem der Zuwachs sich spürbar verlangsamt, muß ein immer größerer Teil der Bevölkerung wirksame Verhütung praktizieren.
Das Tempo der künftigen Fertilitätsabnahme hängt wahrscheinlich von drei gekoppelten Faktoren ab: wie schnell sich die betreffende Gesellschaft wirtschaftlich entwickelt, wie rasch kleine Familien und Geburtenplanung zur akzeptierten Norm werden und – vielleicht am wichtigsten – wie gut öffentliche Programme und private Anbieter den Bedarf an Verhütungsmitteln befriedigen.
Die Nachfrage übersteigt schon jetzt das Angebot bei weitem. In den untersuchten Ländern verwenden 20 bis 30 Prozent der verheirateten Frauen keine Kontrazeptiva, obwohl sie eine Schwangerschaft vermeiden wollen. Trotz variierender Schätzungen stimmen die Demographen darin überein, daß dies großenteils an mangelndem Angebot liegt. Richard Blackburn vom Informationsprogramm über Bevölkerungsfragen der Johns-Hopkins-Universität schätzt nach einer Hochrechnung, daß in der gesamten Dritten Welt mehr als 120 Millionen verheiratete Frauen im gebärfähigen Alter nicht Familienplanung betreiben können, wie sie möchten; demnach ist davon mit Ausnahme der Chinesinnen jeweils eine von fünf Frauen in den Entwicklungsländern betroffen. (Für China nimmt man keinen unerfüllten Bedarf an, da Verhütungsmittel allgemein zugänglich sind und die Regierung die Ein-Kind-Familie propagiert.)
In allen Ländern außerhalb Schwarzafrikas – Haiti und Pakistan ausgenommen – praktizieren die meisten verheirateten Frauen im gebärfähigen Alter bereits Geburtenkontrolle oder streben sie zumindest an. In Asien und Lateinamerika wird dem Bedarf bereits größtenteils entsprochen, in 14 untersuchten afrikanischen Staaten hingegen nur zu weniger als der Hälfte; in den meisten Ländern südlich der Sahara wird kaum ein Drittel der möglichen Nachfrage erfüllt, und in Liberia, Mali und Uganda sogar nur weniger als ein Fünftel. Am größten ist der Mangel in den ländlichen Gebieten, wo moderne Kontrazeptiva meist gar nicht zu haben sind.
Ungestillte Nachfrage
Könnte der Wunsch nach Familienplanung auch wirklich umgesetzt werden, stiege der Gebrauch von Kontrazeptiva in den Entwicklungsländern von 51 auf mehr als 60 Prozent. Nach Steven Sinding von der Rockefeller-Stiftung in New York fiele dadurch die Fertilität von gegenwärtig vier auf drei Kinder pro Frau. Wir schätzen, daß dies das Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern (mit Ausnahme Chinas) von heute 2,3 auf 1,6 Prozent pro Jahr senken würde. Dann betrüge die Bevölkerung der Entwicklungsländer im Jahre 2025 statt 6,5 nur 5,1 Milliarden.
Um alle 120 Millionen Frauen zu erreichen, die Schwangerschaften vermeiden wollen, aber nicht können, müßte man schätzungsweise vier Milliarden Mark aufbringen. Nach Angaben des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen liegen die jährlichen Gesamtausgaben für Familienplanung – die privaten individueller Paare, die öffentlichen der Regierungen der Entwicklungsländer und diejenigen von Hilfsorganisationen – bei 7,7 Milliarden Mark.
Aber Investitionen zur Eindämmung der Bevölkerungslawine werden um so teurer, je später man sich dazu entschließt. Wenn der Prozentsatz der Frauen, die Geburtenkontrolle praktizieren, nicht steigt, wird man im Jahre 2000 noch 100 Millionen Paare mehr mit Verhütungsmitteln versorgen müssen als heute – einfach weil die Zahl der gebärfähigen Frauen infolge der hohen Fertilität früherer Generationen zunimmt. Und wenn die positive Einstellung zu kleineren Familien sich weiter ausbreitet, werden die Nachfrage nach Beratung und Mitteln und die damit verbundenen Kosten erst recht hochschnellen.
Wie die demographischen Daten zeigen, hat die Familienplanung in den Entwicklungsländern dramatische Fortschritte gemacht. Es wäre tragisch, wenn die Förderprogramme und ihre Geldquellen dieser Herausforderung nicht gewachsen wären. Die Industrieländer müssen erhebliche ideelle und finanzielle Verpflichtungen eingehen, um den wachsenden Wunsch der Dritten Welt nach kleineren Familien zu befriedigen; andernfalls droht die spektakuläre Revolution des Reproduktionsverhaltens eine Episode zu bleiben.
Literaturhinweise
- Fertility Levels and Trends. Von Fred Arnold und Ann K. Blanc in: Demographic and Health Surveys (DHS) Comparative Studies, Heft 2. Institute for Resource Development, Columbia (Maryland) 1990.
– Unmet Need and the Demand for Family Planning. Von Charles F. Westoff und Luis H. Ochoa in: DHS Comparative Studies, Heft 5. Institute for Resource Development, Columbia 1991.
– Knowledge and Use of Contraception. Von Naomi Rutenberg, Mohamed Ayad, Luis H. Ochoa und Marilyn Wilkinson in: DHS Comparative Studies, Heft 6. Institute for Resource Development, Columbia 1991.
– The Reproductive Revolution: New Survey Findings. Von Bryant Robey, Shea O. Rutstein, Leo Morris und Richard Blackburn in: Population Reports, Serie M, Heft 11, Johns Hopkins University, Dezember 1992.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 32
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