Fast jede natürliche Zahl ist Summe von vier Kuben
Der Göttinger Mathematiker Jörg Brüdern ist für seine Arbeiten über zahlentheoretische Siebmethoden und das Waringsche Problem mit einem Förderpreis ausgezeichnet worden.
Das kleine Schwarzwalddorf Oberwolfach ist unter Mathematikern weltweit ein Begriff, weil es als besondere Ehre gilt, zu einer der allwöchentlichen Tagungen des dortigen Mathematischen Forschungsinstituts eingeladen zu werden. Die Gesellschaft für Mathematische Forschung, Träger des Instituts, schreibt nun außerdem jedes Jahr einen – 1992 erstmals vergebenen – Förderpreis für junge Mathematiker aus; diesmal erhielten ihn Jörg Brüdern von der Universität Göttingen und Jens Franke von der Universität Bonn.
Für die Zahlentheorie – Brüderns Arbeitsgebiet – ist es typisch, daß ihre Fragen relativ einfach zu stellen, aber zuweilen extrem schwer zu beantworten sind. Ihr Gegenstand sind die natürlichen Zahlen, insbesondere Teilbarkeitsbeziehungen und Primzahlen sowie Verallgemeinerungen dieser Fragestellungen auf sogenannte algebraische Zahlkörper; berühmte, bisher ungelöste Probleme sind der Beweis der Goldbachschen Vermutung ("Jede gerade Zahl ist als Summe zweier Primzahlen darstellbar", wobei die 1 ausnahmsweise als Primzahl gilt) und die Frage, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt, Paare von Primzahlen im Abstand 2.
Auch das Waringsche Problem benannt nach dem seinerzeit in Cambridge lehrenden Edward Waring (um 1734 bis 1798) – ist schnell formuliert: Gibt es für jeden Exponenten k eine Schranke g(k), so daß jede natürliche Zahl n als Summe von höchstens g(k) k-ten Potenzen darstellbar ist?
Für den Fall k = 2 hat g(2) den Wert 4: Jede natürliche Zahl ist als Summe von höchstens vier Quadratzahlen darstellbar, wie schon Joseph Louis Lagrange (1736 bis 1813) gezeigt hat. Einer von mehreren möglichen Beweisen verwendet Gedankengänge aus der Geometrie (Spektrum der Wissenschaft, Dezember l990, Seite 12).
Zur Lösung des Waringschen Problems
Man kann sich das Problem (für beliebige Werte von k) auf folgende Weise veranschaulichen: Es sei ein Sortiment von Bauklötzen der Höhe 1, 2k, 3k, 4kgegeben; jede Klotzgröße stehe in beliebig vielen Exemplaren zur Verfügung. Die Aufgabe besteht darin, Türme jeder denkbaren Höhe zu bauen und jedesmal nur eine beschränkte Anzahl von Klötzen zu verwenden. Ist das überhaupt möglich? Braucht man nicht immer mehr Klötze, wenn die geforderte Turmhöhe in die Millionen und Milliarden Einheiten geht?
Die Antwort ist nein: Man kommt mit einer beschränkten Anzahl aus, wie David Hilbert (1862 bis 1943) schon im Jahre 1909 bewiesen hat. Es stellt sich sogar heraus, daß die schwierigsten Türme nicht die hohen, sondern die niedrigen sind – für diese ist nämlich das Sortiment der überhaupt brauchbaren Bauklötze sehr karg.
Im Falle k=4 sind die verfügbaren Größen 1, 24=16, 34=81, 44 = 256 und so weiter. Für einen Turm der Höhe 79 beispielsweise kommen von vornherein nur Einser- und Sechzehnerklötze in Frage, denn alle anderen sind zu groß. Man überzeugt sich leicht, daß der sparsamste Turmbau aus vier Sechzehner- und fünfzehn Einserklötzen besteht; somit ist g(4)größer/gleich19.
Überraschenderweise hat der recht bescheidene 79er Turm bereits den maximalen Schwierigkeitsgrad in diesem Spiel: Man braucht nie mehr als 19 Klötze. Dies zu beweisen gelang allerdings erst 1986 Jean-Marc Deshoulliers, Ramachandran Balasubramanian und Francois Dress.
Wenn man zu größeren Turmhöhen übergeht. wird das verfügbare Klotzsortiment reichhaltiger, und auf die Dauer kommt man sogar mit deutlich weniger Klötzen aus. Brüderns Arbeiten befassen sich unter anderem mit der Frage, wie man eine solche Obergrenze G(k) für die Anzahl der Summanden finden kann, die für alle hinreichend großen n gilt, das heißt für alle n oberhalb einer geeignet gewählten Mindest-Turmhöhe.
Lösungsweg über die Analysis
Das dafür verwendete Verfahren der Exponentialsummen stammt in seinen Grundzügen von Godefrey H. Hardy (1877 bis 1947) und John E. Littlewood (1885 bis 1977), die lange Jahre in Cambridge zusammenarbeiteten, sowie von Iwan M. Winogradow (1891 bis 1983), der fast ein halbes Jahrhundert das Steklow-Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften leitete; es läuft im wesentlichen auf die Konstruktion einer Art Anzeigegerät hinaus. Zu vorgegebener Turmhöhe n gibt das Gerät (technisch: ein Integral über ein Produkt von Exponentialfunktionen, in deren Exponenten die Turmhöhe und die Klotzgrößen stehen) den Wert 1 aus, wenn eine vorgelegte Kombination aus s Klötzen diese Turmhöhe liefert, sonst den Wert 0. Das funktioniert auch dann, wenn man dem Gerät sämtliche denkbaren Kombinationen aus s Klötzen zugleich vorlegt (das heißt die Summe aller dieser Integrale berechnet); in diesem Falle liefert es die Anzahl der Kombinationen, welche die richtige Turmhöhe ergeben. (Da man nur Klötze berücksichtigen muß, die nicht ohnehin schon größer als n sind, bleibt das Sortiment endlich.)
Im Inneren des gedachten Anzeigegeräts kann man sich so etwas wie eine Wasserwanne vorstellen (Bild). Jede vorgelegte Kombination erzeugt darin eine oder mehrere Wellen, ohne die Gesamtmenge an Wasser zu verändern; nur die Kombinationen mit der richtigen Turmhöhe machen keine Wellen, sondern erhöhen die Wassermenge insgesamt um den Wert 1.
Es geht also zunächst darum, zu gegebenen Werten von n und s diese Anzahl auszurechnen, die ihrerseits gleich dem Gesamtzuwachs an Wasser beziehungsweise dem Wert eines Integrals ist. Damit gerät der Zahlentheoretiker unversehens auf das Gebiet der Analysis; denn ein Integral hat anschauliche Bedeutung als die Fläche unter dem Graphen einer Funktion – hier der Höhe des Wassers –, und die Analytiker verfügen über ein reiches Arsenal an Flächenvermessungstechniken.
Da die Fläche sehr unübersichtlich geformt ist, ersetzt man sie durch eine nahezu gleich große, aber einfachere. Ein kleiner Fehler schadet dabei nicht, da man zunächst nur zeigen will, daß das Ergebnis von null verschieden ist. Außerdem interessiert weniger der Wert eines speziellen Integrals als vielmehr eine Aussage, die für alle derartigen Ausdrücke gilt, weil man erst daraus auf die Lösbarkeit des Waringschen Problems für große n schließen kann.
Als wesentliches technisches Hindernis auf dem Wege zu einer solchen Aussage erweist sich, daß die von den verschiedenen Kombinationen erzeugten Wellen miteinander interferieren können. Wo mehrere Wellenberge oder -täler aufeinandertreffen, schlägt die Funktion besonders heftig aus und ist entsprechend schwer abzuschätzen. Dieser Resonanzeffekt tritt immer dann auf, wenn die beteiligten Wellenlängen einen relativ großen gemeinsamen Teiler haben womit die Problemstellung nach kurzem Ausflug in die Analysis wieder bei der Zahlentheorie angelangt wäre.
Die entscheidende Frage lautet nun: Wie oft kann dieses lästige Verhalten auftreten? Wie viele Zahlen beispielsweise zwischen 300 und 400 haben einen Teiler mit 30 gemeinsam?
Siebmethoden
Zur Beantwortung solcher Fragen hilft eine Technik, die unter dem Namen "Sieb des Eratosthenes" schon den Griechen des Altertums geläufig war: Man schreibe die Zahlen von 300 bis 400 auf und streiche von ihnen nacheinander alle Vielfachen von 2, 3 und 5 (den Primfaktoren von 30). Bildlich kann man sich das so vorstellen, daß man die Zahlenmenge nacheinander durch Siebe mit den Maschenweiten 2, 3 und 5 schüttet, in denen dann die Vielfachen der entsprechenden Zahlen hängenbleiben. Was übrigbleibt, hat keinen Teiler mit 30 gemeinsam.
Ursprünglich diente das Sieb des Eratosthenes der Auslese von Primzahlen (Spektrum der Wissenschaft, September 1988, Seite 8). Wenn man nicht nur mit 2, 3 und 5, sondern mit jeder Primzahl unterhalb einer gewissen Zahl N siebt, bleiben am Ende unterhalb von N2 nur noch Primzahlen übrig. Indem man die Menge der zu siebenden Zahlen und die Siebe geschickt wählt, kann man das Verfahren auch zur Beantwortung ganz anderer Fragen einsetzen. Schüttet man beispielsweise Zahlen der Form n(n+2) in eine Folge von Primzahlsieben mit Primzahlen p kleiner als n, so bleiben am Ende nur die Produkte übrig, deren beide Faktoren n und n+2 Primzahlen sind; damit hat man alle Primzahlzwillinge im durchsuchten Intervall gefunden. Der in Oslo wirkende Mathematiker Viggo Brun (1885 bis 1978) und sein Schüler Atle Selberg haben diese Verallgemeinerung weit vorangetrieben; in der Folge haben zahlreiche Mathematiker die Siebmethode zu einem fruchtbaren und vielseitigen Werkzeug der analytischen Zahlentheorie gemacht.
Über die Anzahl der übrigbleibenden Zahlen gibt das Verfahren zunächst wenig Auskunft. Man kann zwar leicht ausrechnen, wie viele Vielfache von 7 zwischen 300 und 400 liegen; das ist die Anzahl der Zahlen, die theoretisch im Siebenersieb hängenbleiben könnten. Die meisten von ihnen sind jedoch schon nicht mehr vorhanden, denn sie sind auch Vielfache von 2 oder 3 und den entsprechenden Sieben zum Opfer gefallen. Man müßte also wissen, wie viele der Streichakte ins Leere gehen. Aussagen darüber sind jedoch überraschend schwierig.
Hier stößt man auf ein merkwürdiges Paradox der Zahlentheorie: Obgleich der Zufall in diesem Zweig der Mathematik per definitionem keine Rolle spielen kann, verhalten sich die natürlichen Zahlen derart unkalkulierbar, daß sich Aussagen nur über große Mengen von ihnen machen lassen; diese sind dann notwendigerweise rein statistischer Natur (Spektrum der Wissenschaft, September 1988, Seite 62).
Es ist Brüderns preiswürdiges Verdienst, diese Aussagen für die Methode von Hardy, Littlewood und Winogradow nutzbar gemacht zu haben. In der – mit Phantasie und enormer technischer Versiertheit erreichten – Kombination der beiden Verfahren erzielte er Ergebnisse, die mit jedem einzelnen Verfahren unerreichbar waren und teilweise auch in der Fachwelt als unerreichbar galten. So konnte er beweisen, daß G(5)<18 ist; für hinreichend hohe Türme genügen also 18 Klötze aus dem Sortiment der fünften Potenzen. ( Wenig später konnte die Schranke auf 17 gesenkt werden.) Außerdem zeigte er, daß unter den natürlichen Zahlen diejenigen, die sich nicht als Summe von vier Kuben (dritten Potenzen) darstellen lassen, nur sehr selten vorkommen.
Ein verallgemeinertes Siebverfahren, das Vektorsieb, das Brüdern gemeinsam mit Etienne Fouvry entwickelte, erlaubt Aussagen über Türme mit noch eingeschränkterem Sortiment an Klötzen: Die Zahlen, deren k-te Potenzen die Klotzgrößen sind, sollen Primzahlen oder Fastprimzahlen, das heißt aus nur wenigen Primfaktoren zusammengesetzt, sein. Wählt man k=1 und beschränkt sich auf gerade Turmhöhen, ist man dem Goldbachschen Problem schon ziemlich nahe: Eine Schranke von 2 für die Klotzanzahl unter der Beschränkung auf Primzahlklötze wäre ein Beweis. Für Fastprimzahlen hat Brüdern immerhin schon einige Aussagen erreicht. Weitere Fortschritte sind zu erwarten.
Bei der Abfassung dieses Beitrags waren Auskünfte von Prof. Dr. Wolfgang Schwarz von der Universität Frankfurt am Main sehr hilfreich.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1993, Seite 17
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