Fernstudium in Ungarn
Das seit Herbst 1991 in Budapest bestehende erste osteuropäische Fernstudienzentrum bietet nicht nur Möglichkeiten zur Weiterbildung, sondern stellt mittlerweile auch für Vollzeitstudierende eine durchaus attraktive Alternative dar.
In Mittelosteuropa gibt es sie mittlerweile auch: die überfüllten Hörsäle, den Mangel an Studienmotivation und die Angst vor der Arbeitslosigkeit. Das Studium verläuft immer anonymer und kostet von Jahr zu Jahr mehr. Eine für das Sommersemester 1997 angekündigte neue Entlassungswelle läßt die Stimmung unter dem Lehrpersonal bedenklich sinken. Studiert wird auch in Ungarn immer hastiger, mit fortwährendem Blick auf Noten, Fremdsprachenkenntnisse und möglichst schnelle Arbeitskontakte. Darum bietet die Fernuniversität Hagen mit ihrem 1991 im Rahmen des TEMPUS-Programms der Europäischen Union eröffneten Budapester Studienzentrum genau das, was sich ungarische Studenten wünschen: Studienplätze und ein festumrissenes Studienprogramm.
Gegenwärtig sind 210 Studenten eingeschrieben, und die Tendenz ist weiter steigend. Das Studium erfolgt auf drei Ebenen:
- Zunächst vermitteln die zugesandten Lehrmaterialien den Stoff. Sie setzen sich aus Studienbriefen, Ton- und Videokassetten und neuerdings auch aus einem multimedialen Dateikurs – einem auf CD-ROM gespeicherten Text mit Video- und Tonsequenzen – zusammen.
- Professoren sorgen für eine regelmäßige tutorielle Betreuung, indem sie in die einzelnen Studienzentren reisen und mit den Studierenden vor Ort in sogenannten Kompaktseminaren den Stoff durcharbeiten.
- Ein zusätzlicher Austausch zwischen Studierenden und Dozenten wird über das Internet ermöglicht.
An einer Fernuniversität zu studieren ist deshalb auch in der ungarischen Hauptstadt nicht gleichbedeutend mit Einsamkeit oder Abgeschiedenheit. "Die Studierenden kommen oft hierher, um in einem Raum gemeinsam die entsprechenden Videos zu bestimmten Themen zu sehen und zu diskutieren", so Dr. Gabor Halász, der Leiter des Fernstudienzentrums Budapest.
Die Einführung des westlichen Fernstudienmodells erlaubt so den eingeschriebenen ungarischen Studenten eine berufs-, orts- und zeitunabhängige fachspezifische, fremdsprachliche Ausbildung wahrzunehmen, die sie individuell nach ihren Vorkenntnissen und ihrer Vorbildung gestalten können – und das zusätzlich noch in einem europäischen Kontext. Das Studienzentrum der Fernuniversität Hagen ist das erste in Mittelosteuropa. In Riga (Lettland), St. Petersburg und Smolensk (Rußland), Brünn (Tschechien), Kiew (Ukraine) und Minsk (Belarus) gibt es noch Fernstudien-Informationszentren; doch diese sollen nur die jeweils landeseigenen Fernstudiensysteme aufbauen helfen.
Neun Institutionen aus fünf Ländern waren an der Entwicklung des Budapester Zentrums beteiligt. Außer der Fernuniversität Hagen sowie der Eötvös-Loránd- und der Wirtschaftsuniversität in Budapest stellten beispielsweise die niederländische Open Universiteit in Heerlen, das schweizerische Bundesamt für Bildung und Wissenschaft sowie das österreichische Zentrum für Fernstudium anfänglich Mittel bereit. Später wurden diverse nationale Projekte durch das PHARE-Programm der EU gefördert, das finanzielle Hilfe für die wirtschaftliche und soziale Reform in den mittel- und osteuropäischen Ländern gewährt. An Studiengängen werden Literaturwissenschaft, Psychologie sowie Wirtschaftswissenschaften angeboten.
Die Literaturwissenschaft ist insbesondere für viele ungarische Deutschlehrer wichtig. Dem neuen Hochschulgesetz zufolge dürfen nämlich nur noch jene an den Mittel- und Oberstufen der Gymnasien unterrichten, die ein vierjähriges Universitätsstudium nachweisen können. Das Fernstudienzentrum ermöglicht nun den bereits aktiven Pädagogen, die – wie früher möglich – bereits nach drei Jahren die Hochschule abgeschlossen hatten, eine besondere Nachqualifizierung, um weiterarbeiten zu können.
Die Popularität des deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Studiums beruht hingegen auf den Möglichkeiten, die deutsche Firmen in Ungarn bieten. Im Fach Psychologie wiederum mangelt es an der Eötvös-Loránd-Universität an Studienplätzen. Noch immer müssen jährlich mehrere hundert Studenten abgewiesen werden. Deshalb stellt das Angebot der Fernuniversität Hagen über das Studienzentrum Budapest wirklich eine Alternative dar: Hier können jene, die der deutschen Sprache kundig sind, den theoretischen Teil des Studiums absolvieren, während sie zugleich als examensberechtigte Gasthörer den klinischen Teil an der Eötvös-Loránd-Universität belegen. Weil Ungarn deutsche Abschlüsse aufgrund eines bilateralen Kulturabkommens anerkennt, wird den Studenten so der Erwerb des ungarischen Psychologiediploms ermöglicht.
Folglich wird das Fernstudium auch in Ungarn zunehmend beliebter. Seit 1996 ist das Budapester Studienzentrum im Informationsblatt der Zulassungsanträge zu den staatlichen Hochschulen und Universitäten verzeichnet. Vielen dort Studierenden ist bewußt, daß hier eine neue Lernkultur im Entstehen begriffen ist: das open and distance learning, das weit über Europa hinausreicht und die Teilnehmer in die entstehenden Funktionsmechanismen einer sich globalisierenden Welt integriert.
Finanziell belastet die Fernuniversität die ungarischen Studenten nicht mehr als andere Hochschulen. Studieren ist in Ungarn sehr teuer geworden. Bei einem mittleren Monatsgehalt je Elternteil von ungefähr 50000 Forint (etwa 500 Mark) zahlt der einzelne Student bis zu 70000 Forint pro Semester, inklusive Materialkosten. Dagegen erscheinen die 50000 Forint für ein Fernstudium an der Fernuniversität Hagen geradezu preisgünstig, denn sie enthalten ebenfalls die gesamten Lehrmaterialien.
Alle schriftlichen Prüfungen werden am Studienzentrum in Budapest abgelegt. Nur vereinzelt müssen die Studenten zu mündlichen Prüfungen nach Hagen fahren. Bislang konnten solche Reisen teilweise über Zuschüsse des Deutschen Akademischen Austauschdienstes finanziert werden. Doch was 1990 noch leicht zu beantragen war, nahm mit den Jahren beständig ab. Heute muß sich das Studienzentrum Budapest über seine Weiterfinanzierung sorgen. Weil die anfänglich gewährten Drittmittel durch andere Geldquellen ersetzt werden müssen, wollen die Mentoren des Studienzentrums die in Ungarn ansässige westeuropäische Großindustrie und die Banken für eine Kooperation zur Weiterqualifizierung der dort arbeitenden ungarischen Mitarbeiter gewinnen. Sie folgen damit einem in Deutschland bereits erfolgreich erprobten Modell: der sogenannten Sparkassenakademie, die ihren jungen Abiturienten nicht nur eine bankkaufmännische Lehre anbietet, sondern auch ein wirtschaftswissenschaftliches Studium in Zusammenarbeit mit der Fernuniversität Hagen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1997, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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