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Feuer im freien Fall


Auf der Erde bestimmt die Schwerkraft die Gestalt von Flammen: Die erhitzten und deshalb weniger dichten Gase steigen nach oben und erzeugen einen starken Sog, der dem Feuer von der Seite her Sauerstoff zuführt und es weiter anfacht. In der Schwerelosigkeit hingegen, wo es kein oben und unten und damit keinen Auftrieb gibt, kann Sauerstoff lediglich durch Diffusion – eine durch Stöße der Luftmoleküle untereinander bedingte Bewegung in zufälligen Richtungen – oder durch Luftströmungen, die von Ventilatoren verursacht werden, in den Flammenherd gelangen. Das Lewis-Forschungszentrum der NASA wollte herausfinden lassen, wie sich Flammen in einer nahezu schwerelosen Umgebung verhalten. Im Laufe unserer Untersuchungen gewannen wir Kenntnisse über die Physik der Verbrennung und konnten somit der NASA helfen, die Risiken eines Feuers an Bord von Raumschiffen genauer einzuschätzen.

Eines der ersten auf der Mir durchgeführten Experimente sollte eine einfache Frage beantworten: Kann eine Kerze in einer nahezu schwerelosen Umgebung brennen? Die Astronautin Lucid Shannon nutzte eine von der NASA gebaute Kammer, die das Experiment von der Atmosphäre der Raumstation isolierte, und zündete darin Kerzen unterschiedlicher Größe an, indem sie jeden Docht mit einer elektrisch erhitzten Drahtschlinge berührte. Sofort nach dem Anzünden nahmen die Flammen die Gestalt einer Halbkugel mit einem hellen gelben Kern an. Da die Sauerstoffzufuhr geringer war, verbrannten sie das Kerzenwachs etwa fünfmal langsamer als auf der Erde. Weil aber die Hitze nicht durch aufsteigende Luft abgeführt wurde, drang sie stärker nach unten in die Kerze vor. Innerhalb von zwei Minuten war diese vollständig geschmolzen. Doch das Feuer erlosch nicht: Wegen der Oberflächenspannung bildete das flüssige Wachs einen wirbelnden Ball, der an Docht und Kerzenhalter klebte.

Eine Kerze, die auf der Erde nur zehn Minuten oder kürzer gebrannt hätte, leuchtete auf der Mir bis zu 45 Minuten lang. Vier bis zehn Minuten nach dem Anzünden nahm die Temperatur der Flamme ab, so daß sie nur schwach blau statt hell und gelb leuchtete (a). Die Empfindlichkeit der auf der Raumstation installierten Videokameras reichte nicht aus, sie zu filmen, auch nicht, als das Licht in der Brennkammer gelöscht wurde. Lucid sah hinein, photographierte und fertigte Skizzen an, um die Ergebnisse zu dokumentieren. Die größte Überraschung ergab sich, als das Feuer erloschen war. Als Lucid das Licht in der Kammer wieder eingeschaltet hatte, sah sie eine große sphärische Wolke um die Kerzenspitze herum (b). Wir glauben, daß diese Wolke Wachstropfen enthielt, die in der kälteren Luft kondensiert waren. Dieses Phänomen brachte einen wichtigen Hinweis für die Bekämpfung von Bränden auf Raumschiffen: selbst wenn das Feuer erloschen ist, kann der Brandherd noch immer entflammbares Material absondern.

Astronauten auf der Mir und auf amerikanischen Raumfähren untersuchten auch das Verbrennungsverhalten von Kunststoff und Zellstoffen und maßen die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Flammen bei unterschiedlichen Luftströmungen. Wenn die Umgebung sehr ruhig ist, die Luft sich also fast nicht bewegt, verbrennen die meisten Stoffe unter Mikrogravitation langsamer als auf der Erde. Doch bei schwachen Luftströmungen – mit Geschwindigkeiten von fünf bis 20 Zentimetern in der Sekunde – erweisen sich bestimmte Stoffe als leichter brennbar. Ein Blatt Papier zum Beispiel wird in einer nahezu schwerelosen Umgebung bei einem langsamen Luftzug um 20 Prozent schneller verbrennen als unter denselben Bedingungen auf der Erde. Diese Erkenntnis lieferte einen weiteren Hinweis für die Sicherheit auf Raumschiffen und -stationen: Die erste Brandbekämpfungsmaßnahme ist das Vermindern von Luftströmungen, indem man sämtliche Ventilationssysteme abschaltet.

Diese Untersuchungen stellten nur einen Teil eines breiter angelegten Programms dar. Andere Experimente, die auf der Raumfähre durchgeführt wurden, beschäftigten sich mit Bränden von ausströmendem Gas, dem Verbrennen von Brennstofftröpfchen und Wasserstoff-Luft-Gemischen sowie mit dem von Feuern in der Mikrogravitation erzeugten Ruß. Auf der Internationalen Raumstation wird es eine voll ausgestattete Brennkammer geben, was detailliertere Untersuchungen ermöglichen wird.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1998, Seite 35
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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