Fields-Medaillen 1994
Frankreich und die Vertreter der Theorie der dynamischen Systeme haben Anlaß zum Jubel.
Die Fields-Medaille gilt allgemein als das Äquivalent des Nobelpreises in der Mathematik. Im Gegensatz zu diesem wird sie allerdings blockweise verliehen: alle vier Jahre an bis zu vier Wissenschaftler, die nach Auffassung des Preiskomitees die Mathematik entscheidend vorangebracht haben (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1990, Seite 38). Die diesjährigen Preisträger heißen Jean Bourgain, Pierre-Louis Lions, Jean-Christophe Yoccoz und Efim Zelmanov; die Verleihung fand am 3. August auf dem Internationalen Mathematiker-Kongreß in Zürich statt.
Seit 1981 gibt es zusätzlich den Nevanlinna-Preis, benannt nach dem finnischen Mathematiker Rolf Nevanlinna und gestiftet von der Universität Helsinki für herausragende Leistungen in den mathematischen Grundlagen der Informatik. Er wurde bei derselben Gelegenheit an Avi Wigderson von der Hebräischen Universität in Jerusalem verliehen.
Drei Institute rechnen es sich zur Ehre an, Jean Bourgain zu den Ihren zu zählen: die Universität von Illinois in Urbana-Champaign, das Institut des Hautes Études Scientifiques (IHES) in Bures-sur-Yvette bei Paris und das Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey). Sein preisgekröntes Werk umfaßt mehrere Bereiche der Analysis, welche hier nur stichwortartig angegeben werden können: Geometrie der Banach-Räume, Konvexität in hochdimensionalen Räumen, harmonische Analyse, Ergodentheorie und Theorie der nichtlinearen Evolutionsgleichungen. Letztere beschreiben die zeitliche Entwicklung von Systemen, die ihrerseits nicht durch endlich viele Zahlen, sondern durch Funktionen – in der Regel des Ortes – darzustellen sind.
Pierre-Louis Lions von der Universität Paris-Dauphine war führend bei der Entwicklung eines Verfahrens namens Viskositätsmethode und hat dadurch die Theorie der nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen vorangebracht. Zudem gelang ihm ein wesentlicher Durchbruch in der Theorie der Boltzmann-Gleichung, welche die Bewegung extrem verdünnter Gase beschreibt.
Jean-Christophe Yoccoz von der Universität Paris-Süd wurde für seine Leistungen in der Theorie der dynamischen Systeme geehrt. Dieses Gebiet ist vor allem durch den mathematischen Begriff des Chaos in jüngerer Zeit populär geworden. Yoccoz hat nun das Problem der kleinen Nenner, das schon Henri Poincaré (1854 bis 1912) an einer Aussage über die langfristige Stabilität des Sonnensystems hinderte, zumindest in einem Spezialfall erschöpfend behandelt.
Der russische Mathematiker Efim Zelmanov (deutsche Transkription: Selmanow) schließlich, der jetzt an der Universität von Wisconsin in Madison arbeitet, hat ein Problem aus der Gruppentheorie abschließend gelöst, das auf den englischen Mathematiker William Burnside (1852 bis 1927) zurückgeht. Während die Vermutung, die Burnside Anfang dieses Jahrhunderts geäußert hatte, 1964 durch ein Gegenbeispiel widerlegt wurde, konnte Zelmanov beweisen, daß eine eingeschränkte Version davon zutrifft. Demnach können Gruppen (Mengen mit multiplikationsartiger Struktur), welche noch gewisse weitere Voraussetzungen erfüllen, nicht unendlich viele Elemente enthalten. Dieses unscheinbar anmutende Ergebnis gewinnt seine Bedeutung dadurch, daß es im äußerst unübersichtlichen Reich der Gruppen ein Stück Ordnung etabliert.
Avi Wigdersons Arbeit ist diejenige, bei der man sich eine direkte Anwendung am ehesten vorstellen kann. Es geht um die Kunst des sogenannten zeroknowledge proof: Ein Mathematiker A kann einen Kollegen B davon überzeugen, daß ein Theorem zutrifft, ohne auch nur einen Hinweis auf den Beweis zu geben. Das ist praktisch relevant, weil man A beispielsweise durch einen Menschen ersetzen kann, der Zutritt zu einem sicherheitsempfindlichen Gebäude oder Zugriff auf einen Computer verlangt, und B durch den Pförtner, der As Berechtigung zu überprüfen hat. Der Berechtigungsausweis besteht aus einem Datensatz, den A nicht preisgeben darf; gleichwohl kann sich A gegenüber B legitimieren (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Mai 1994, Seite 70).
Auffällig ist, daß die drei erstgenannten Fields-Preisträger räumlich (Paris) und fachlich (partielle Differentialgleichungen sind spezielle dynamische Systeme) sehr dicht beieinander angesiedelt sind. Darauf angesprochen, verwies Pierre-Louis Lions zu Recht darauf, daß in Frankreich die Mathematik anders als etwa in Deutschland hohe gesellschaftliche Anerkennung genießt und auch in den Schulen in erheblich höherem Maße kultiviert wird. Aus derart reichhaltigem Boden würden naturgemäß üppigere Pflänzchen sprießen, nach dem Sprichwort "Si la rose est belle, c'est que le fumier est gras" ("Wenn die Rose schön ist, liegt das an dem fetten Mist").
Nur ist in diesem Falle der Mist von ganz besonderer Art; denn familiäre Bindungen sind nicht zu übersehen. Der Vater von Pierre-Louis Lions, Jacques-Louis Lions, ist graue Eminenz der französischen Mathematik und war in den vergangenen vier Jahren Vorsitzender der International Mathematical Union. Adrien Douady, Mitglied des Preiskomitees, erwähnte in seiner Laudatio auf Yoccoz, daß dieser eines seiner wesentlichen Ergebnisse in Zusammenarbeit mit Sohn Raphael Douady erzielt hat.
Einseitigkeiten dieser Art sind freilich nicht neu. Beispielsweise konzentrierten sich die Fields-Medaillen 1990 auf die Themen Knotentheorie und dreidimensionale Mannigfaltigkeiten; damals wie heute ist nicht zu schließen, daß sich auf anderen Gebieten der Mathematik nichts Preiswürdiges getan hätte.
Bis zu einem gewissen Grade ist diese Unausgewogenheit wohl unvermeidlich durch die Modalitäten der Vergabe bestimmt: Der kanadische Mathematiker John C. Fields (1863 bis 1932) wollte die von ihm gestiftete Medaille in bewußter Absetzung vom Nobelpreis nicht nur als Anerkennung für vergangene Leistungen, sondern auch als Ermutigung zu neuer Aktivität verstanden wissen. Das pflegen die Preiskomitees so zu interpretieren, daß die Preisträger höchstens 40 Jahre alt sein dürfen. In aller Regel haben ihre Leistungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Grenzen ihres Spezialgebiets hinaus Anerkennung gefunden. Es bleibt also den Mitgliedern des Komitees nicht viel anderes übrig, als sich nach genialen Leistungen dort umzusehen, wo sie selbst sich auskennen.
Ausgewogenheit kann sich in diesem System nur über die Jahre hinweg einstellen. In dieser Perspektive ist die Medaillenernte Frankreichs nicht mehr außergewöhnlich; und daß die Theorie der dynamischen Systeme so reichlich bedacht worden ist, wirkt eher wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit: Es wird gewissermaßen offiziell bestätigt, daß dieses erst gut hundert Jahre alte, eher anwendungsnahe und deshalb nicht ganz so reine Gebiet nunmehr gleichberechtigt neben etablierten Disziplinen wie der Algebra seinen Platz hat.
Eine der interessantesten Neuigkeiten kam am Schluß des Kongresses: Der britische Mathematiker Androw Wiles mußte seinen Beweis der Fermatschen Vermutung zurückziehen, weil er Fehler enthält, die in absehbarer Zeit nicht zu beheben sind. Darüber und über die Leistungen der Preisträger soll in eigenen Artikeln berichtet werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1994, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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