Kinetik: Flöhe, Käfer und Leichtathleten
Beim Hochspringen wird zuvor gespeicherte elastische Energie in Bewegungsenergie verwandelt. Dafür steht nur sehr wenig Zeit zur Verfügung, dann nimmt die Schwerkraft wieder überhand
Schwerkraft:
Moderne Ingenieurkunst hat uns in zwei Schritten von den Fesseln der Schwerkraft befreit. Seit hundert Jahren verstehen wir, mit künstlichen Flügeln in einem Auftriebswirbel der Luft schwebend zu reisen, wie wir es bei Möwen und anderen Vögeln beobachten und vorher nicht verstanden. In den letzten fünfzig Jahren haben wir dazu gelernt, mit Raumschiffen auf ballistischen Bahnen durch einen fast leeren Weltraum zu segeln. Solche Reisen sind nur mit großem Energieaufwand möglich. Das Springen aus eigener Kraft nimmt sich dagegen sehr bescheiden aus, wie eine veraltete Technik. Die Schwerkraft hält uns flügellose Lebewesen an der Erdoberfläche fest und lässt uns nur für Sekunden und mit allergrößter Anstrengung im Sprung das Gefühl der Schwerelosigkeit erleben.
Um den zähen Kampf um die Zentimeter beim Hochsprung fürs Fernsehen attraktiver zu machen, könnte man Wettbewerbe auf dem Mond veranstalten, wo die Sportler bei der verminderten Schwerkraft das Siebenfache irdischer Sprunghöhen erreichen könnten – nicht im Raumanzug, sondern in sportlicher Kleidung in großen Lufthallen von 15 Meter Höhe, damit sich niemand beim Springen am Dach stößt. Das würde eine Kleinigkeit kosten, deshalb zurück auf die Erde! Ein Mensch der Normgröße 1,80 Meter muss seinen Schwerpunkt aus der Standhöhe von durchschnittlich einem Meter (55 Prozent der Körpergröße) um einen weiteren Meter "überhöhen", um die Latte bei 2 Metern zu überspringen. Das erfordert eine Absprunggeschwindigkeit von ungefähr 16 Stundenkilometern. Wollte er in eine Umlaufbahn um die Erde kommen, müsste er mehr als 1800-mal so schnell abspringen. Darin zeigen sich die Größenordnungen. Nach Ansicht von Anthropologen ist die trainierte Federkraft des Sprungbeins die wichtigste Voraussetzung erfolgreichen Hochsprungs. Die mit dieser Sprungfeder erreichbare Schwerpunktsüberhöhung ist konstitutionell begrenzt und durch Training nicht beliebig zu steigern. Langbeinige Hochspringer mit unverhältnismäßig kurzem Oberkörper, die man in den Wettkämpfen beobachtet, haben anlagebedingte Vorteile. Mit Rücksicht auf kleinwüchsige Sportler wären deshalb Größenklassen beim Hochsprung ähnlich sinnvoll wie Gewichtsklassen beim Ringen und Boxen.
Sprung:
Zur Vorbereitung des Absprungs wird die "Sprungfeder" gespannt. Das gilt für einen menschlichen Springer, der in die Hocke geht und die Beinmuskeln spannt, ebenso wie für einen mechanischen Hüpfer, dessen Schraubenfeder oder Federbein zusammengestaucht und gegebenenfalls mit einem Saugnapf am Fuß befestigt wird. Ab dem Zeitpunkt des Absprungs, zu dem sich die Füße oder der Fuß vom Boden lösen, stützt die Unterlage den Springer oder Hüpfer nicht mehr, und auf seinen Körper wirkt nur noch die Schwerkraft, die ihn mit g = 9,81 Meter pro Sekunde zum Quadrat nach unten beschleunigt. Schon in der ersten Sekunde nach dem Start vermindert sie seine anfängliche Aufwärtsgeschwindigkeit um die Geschwindigkeit der schnellsten Sprinter der Welt, um knapp 10 Meter in der Sekunde oder 36 Stundenkilometer. Da der Aufwärtsimpuls so rasch aufgezehrt wird, kommt es für den Springer vor allem darauf an, seinem Körper zum Zeitpunkt des Absprungs einen großen "Vorrat" an Geschwindigkeit zu verschaffen. Das tut er in der Beschleunigungsphase vor dem Absprung im Kontakt mit dem Boden durch die Dehnung seiner Sprungfeder. Dafür bleiben ihm höchstens zwei Zehntelsekunden Zeit, in denen er sein Sprungbein explosiv streckt und vom Boden abstößt. Die Reaktionskraft des Bodens erreicht dabei kurzzeitig ein Vielfaches des Körpergewichts. Im Freiflug nach dem Absprung hat der Springer keinerlei Einfluss mehr auf die Bewegung seines Schwerpunkts; er kann auch den Gesamt-Drehimpuls seines Körpers nicht mehr verändern. Der Schwerpunkt ist kein materieller Punkt des Körpers, sondern wandert bei Veränderungen der Körperhaltung; dabei kann er auch außerhalb des Körpers geraten. Im Raum bewegt er sich wie ein Massenpunkt, in dem die Gesamtmasse des Körpers vereinigt zu denken ist, unter dem Einfluss der wirkenden Kräfte. Deren einzige ist beim Springen das Gewicht, während der Luftwiderstand bei der großen Massendichte des menschlichen Körpers vernachlässigt werden kann.
Im Gegensatz zu Vorstellungen, die in den Köpfen einiger Sportsachverständiger herumspuken, kann der Springer seinem Körper nach dem Abheben vom Boden keine Beschleunigung mehr erteilen. Wie auch? Er hat ja keine Raketen, mit denen er sein Tempo ohne Bodenkontakt erhöhen könnte. Anders wäre es, wenn das Reglement den Springern erlauben würde, Gewichte in die Hände zu nehmen und sie im Sprung nach hinten oder unten wegzuschleudern. Englische Leichtathleten sollen Ende des 19. Jahrhunderts auf diese Weise mehr als 13,50 Meter weit gesprungen sein.
Mechanische Leistung:
Wie auch immer sich einzelne Körperteile im Sprung bewegen – der Schwerpunkt zeichnet in eine senkrechte Ebene eine Wurfparabel, die nach den Gesetzen der Mechanik durch die Geschwindigkeit beim Absprung festgelegt ist. Der Springer versucht intuitiv, diese Parabel so einzurichten, dass ihr Scheitel nahe bei der Latte liegt. Bei fast allen Sprungtechniken wandert der Körperschwerpunkt mindestens fünf Zentimeter über die Latte hinweg, ausgenommen beim "Fosbury Flop", bei dem der Springer die Latte rücklings überquert und den Körper so eng an die Latte schmiegt, dass der Schwerpunkt bis zu zehn Zentimeter darunter durchschlüpfen kann. Sportler behaupten (aber es ist kaum zu glauben), dass ein entsprechender Energiegewinn beim Hechtsprung vorwärts über die Latte nicht zu erzielen sei.
Um eine Schwerpunktsüberhöhung von h=1 Meter zu erreichen, muss der Springer durch die Federkraft seines Sprungbeins eine Anfangs-Aufwärtsgeschwindigkeit von v0=2gh=4,4 Meter pro Sekunde (16 Stundenkilometer) erzielen. Hochspringer nehmen zwar auch Anlauf, können aber nicht wie Stabhochspringer horizontalen Anlaufimpuls in vertikalen Sprungimpuls umlenken. Offensichtlich ist das Bein nicht gleichzeitig als steifer "Sprungstab" und weiche "Sprungfeder" brauchbar. Die mechanische Leistung eines Hochspringers ist gewaltig. Ein Leichtathlet von der Masse m=80 Kilogramm, der sich in der Zeit T=0,2 Sekunden zu einem Zweimetersprung (h=1 Meter) beschleunigt, bringt kurzzeitig die Leistung P=mgh/T =3,9 Kilowatt oder 5,3 PS auf. Von Rekordspringern werden Kurzzeit-Leistungen bis zu 9 Kilowatt (12 PS) berichtet. Bei einem Zweimetersprung ist der Sportler ungefähr die Zeit t=22h/g=0,9 Sekunden in der Luft, bis der Schwerpunkt jenseits der Latte wieder auf die Absprunghöhe gefallen ist. Beim Abflugwinkel a=65° (Erfahrungswert) beträgt die Vorwärtsgeschwindigkeit in diesem Sprung u=v0cota=2,1 Meter pro Sekunde (7,5 Stundenkilometer) und die Weite s=ut=1,9 Meter. Angesichts der Begrenztheit sportlicher Leistungsfähigkeit wird im Hochsprung die Steigerung der Sprunghöhe Zentimeter um Zentimeter zum Wettkampf der Techniken. Hochreißen der Arme und Hochschwingen des freien Beines beim Absprung vergrößern den Kraftstoß des Bodens und damit die Sprunghöhe. Um die Latte zu überqueren, kommen Leichtathleten auch beim Hochsprung nicht ohne Anlauf aus, aber eine mäßige Dauerlaufgeschwindigkeit von 2 Meter pro Sekunde würde für die zum Überqueren der Latte erforderliche Weite von etwa 2 Metern genügen. Warum steigern dann namhafte Hochspringer ihre Geschwindigkeit vor dem Absprung bis zu 7 Meter pro Sekunde (25 Stundenkilometer oder 100 Meter in 14,3 Sekunden), die bei einer Flugdauer von 0,9 Sekunden der Weite s=6,30 Meter entspricht? Tatsächlich wird die Anlaufgeschwindigkeit im allerletzten Schritt stark gebremst. Der horizontale Bremsimpuls dient der Einleitung der Körperdrehung, die für die optimale Sprungform benötigt wird. Dieselbe Drehung ließe sich zwar auch durch einen exzentrischen Abstoß des Körpers nach oben erreichen, aber es wäre Energieverschwendung, von der zur Aufwärtsbeschleunigung des Schwerpunkts nötigen Arbeit des Sprungbeins einen Teil zum Antrieb der Drehung abzuzweigen.
Spielzeughüpfer:
Sein Sprungbein ist eine Schraubenfeder mit linearem Kraftgesetz (Federlänge l=4 cm). Aus der beobachteten Sprunghöhe h=1,3 m errechnet man die Absprunggeschwindigkeit v0=5,1 m/s, auf die der Hüpfer sich vor dem Abheben in der Zeit T=0,01s beschleunigt. Die durchschnittliche Beschleunigung berechnet man daraus zu 41 g (41fache Erdbeschleunigung). Sie ist so groß wie bei einem gefährlichen Fahrzeug-Zusammmenstoß.
Floh:
Mit seiner Länge l=1,5 mm ist er viel kleiner als der Spielzeug-Hüpfer und kann doch h=20 cm hoch springen, weit über das Hundertfache seiner Körpergröße. Bei der (gemessenen) Absprunggeschwindigkeit v0=2 m/s errechnet sich für den winzigen Springer eine Zeit T von etwa einer Millisekunde, während der er einer durchschnittlichen Beschleunigung von 178 g ausgesetzt ist. Da das Tier sicherlich mehr Zeit braucht, um die Energie für einen so gewaltigen Sprung bereitzustellen, nehmen Biologen an, dass es im Muskel Energie zum Sprung speichern kann. Das erklärt aber nicht, wie es die enormen Spannungen beim Absprung aushält.
Schnellkäfer und "Hiroshima-Hüpfer":
Schnellkäfer können Kopfschild und Hinterleib blitzschnell mit einer Muskelfeder zusammenziehen und sich dabei aus der Rückenlage bis zur Höhe h=30 cm hochkatapultieren. Fast die gleiche Technik verwendet ein Hüpfer, den ich als leicht selbst zu bauendes Spielzeug im Wissenschafts- und Kulturmuseum für Kinder unweit des Friedens-Gedächtnisparks in Hiroshima entdeckte. Zwei Stücke festen Kartons werden mit flexiblem Klebeband anstatt eines Scharniers verbunden. Von den Einkerbungen an den vier Ecken aus wird ein Haushaltsgummiring (oder – für höhere Sprünge – deren zwei oder drei) straff gespannt. In Hiroshima gab es dazu fertige Pappen von a=7 cm Länge und b=5 cm Breite zu Gummiringen von 4 cm Durchmesser. Außerdem lagen lange Papierbänder bereit, die die Kinder in der Mitte am Gelenk als Schwanz ankleben konnten. Zum Start drücken Sie den Hüpfer mit dem gekreuzten Gummiband auf der Unterseite flach auf einen glatten Tisch. Dann loslassen und schnell die Finger wegziehen, um die Bewegung nicht zu stören! Der Pappwinkel stellt sich schnell auf und hebt rascher ab, als das Auge folgen kann. Der Start dauert nur drei hundertstel Sekunden. Die zwei Pappen knallen hörbar zusammen und steigen wie ein Geschoss bis anderthalb Meter hoch. Sogar unsere Hochgeschwindigkeits-Videokamera, die dabei mit 200 Bildern in der Sekunde zuschauen durfte, war überfordert, konnte aber sichtbar machen, dass der Hüpfer abhebt, wenn er sich zu einem Dach von etwa 45 Grad aufgestellt hat. Das folgt auch aus der einfachsten Theorie.
Literaturhinweise
Erfinderin Natur. Von Werner Nachtigall. Rasch & Röhring, Hamburg 1988.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2003, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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